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Klemperer, einer jüdischen Familie entstammend, christlich getauft, war während der Ära des Faschismus in Deutschland aufs stärkste gefährdet, und seine Rettung verdankte er nur dem Umstand, daß er mit einer nichtjüdischen Frau verheiratet war. Sein Leben fristete er während der zwölf Jahre unter den kümmerlichsten Bedingungen. Auf seiten der Behörden läßt sich darin der vorsätzliche Versuch einer allmählichen Erdrosselung des Gelehrten erkennen (nicht seiner Person nur, sondern aller »jüdischen« Deutschen), eines zunächst national gesinnten Mannes, der sich im Ersten Weltkrieg als Freiwilliger zur Armee des Kaisers meldete. 1935 verliert er aufgrund der NS-Sondergesetzgebung seine Professur; 1937 folgt das Verbot, die Bibliothek seiner Universität, der Technischen Hochschule Dresden, zu nutzen; 1939: Wegnahme des eigenen Hauses; 1940 Zwangsumsiedlung in ein »Judenhaus«; 1941 Verpflichtung, den »Judenstern« zu tragen; 1943/44 Verurteilung zur Zwangsarbeit. Daß er den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung empfand, das Jahr 1945 als »das märchenhafteste meines Lebens«, wer wollte es ihm verdenken? Um sein psychisches Gleichgewicht in all der Drangsal zu bewahren, setzte er »seine geistige Tätigkeit bewußt als Gegengewicht gegen den NS-Terror ein« (Zieske). In erster Linie als Beschäftigung mit dem Tagebuch und seiner Autobiographie (unter dem Titel »Curriculum vitae«, also: »Lebenslauf«). Die Tagebücher erschienen im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts gedruckt in drei Gruppen zu je zwei Bänden (1918–1933, 1933–1945, 1945–1959), von denen Zieske die mittlere ins Zentrum seiner Betrachtungen rückt. Er zieht des weiteren mehrere andere Veröffentlichungen Klemperers heran, darunter solche zur Sprache und Sprachkritik und den wichtigen Vortrag »Der alte und der neue Humanismus«. Neben der geistigen Beschäftigung fanden Klemperer und seine Frau Rettendes auch in der Liebe zum Tier, zu ihrer Katze (welcher bei Zieske ein eigenes Kapitel gehört). Als Darstellungsprinzip in den Tagebüchern vermied Klemperer den Blick »auf die großen Sachen« (unter anderem Politik), sondern wählte »den Alltag der Tyrannei, der vergessen wird«. Dadurch erklärt sich die Stärke der Aufzeichnungen. Was in ihnen gegeben wird, ist sozusagen die Innensicht der Verfolgungsgeschichte ihres Verfassers. Und dadurch erklärt sich ebenfalls eine gewisse Schwäche, wie Zieske vermerkt: »… daß er sich über seinen Zustand selbst nur unzureichend Rechenschaft ablegen kann«. Freilich durchbricht Klemperer zuweilen sein eigenes Prinzip, »große Sachen« fernzuhalten; so wenn er notiert – ein Ereignis von 1940 reflektierend, welches bis heute in Deutschland kaum korrekt eingeschätzt wird: »Im Sommer bei Frankreichs Zusammenbruch hoffnungslos.« Zieske weist nach, daß Klemperer es in den Tagebüchern niemals an Nachdenken über philosophische, weltanschauliche und politisch-historische Sachverhalte fehlen läßt. Dem Gattungscharakter des Tagebuchs gemäß meistens subjektiv operierend, auch in der Regel kursorisch. Es bedeutete Klemperers Lebenstragik, daß ihm, der gegen die religiöse und politische Substanz des Judentums (Zionismus) energisch Stellung bezog; ihm, »der (den allergrößten Teil seines Lebens über) nicht Jude sein wollte«, der Antisemitismus und NS-Rassismus oktroyierten, »sich als Jude sehen zu müssen« (Zieske). Mit einem anderen Forscher, Michael Wildt, konstatiert Zieske, daß Klemperer wie die übrigen »Juden« – sie sämtlich ungeachtet des Verbots, Radio zu hören, Zeitung zu lesen und sich sonst zu informieren – über die Mordpolitik des »Dritten Reichs« ausreichend Bescheid wußten. In seiner Schrift »LTI«, einem kritischen Bericht über die Sprache des Faschismus, erkannte Klemperer, daß »dieser Anachronismus« (der Antisemitismus der deutschen Faschisten) »keineswegs im Gewande der Vergangenheit« daherkam, »nein, in höchster organisatorischer und technischer Vollendung«. An anderer Stelle formulierte er: »Die Hölle des 20. Jahrhunderts, die technische und wissenschaftliche Hölle, die deutsche Hölle …« Seinen ursprünglichen Nationalismus verabschiedete er nach der Pogromnacht vom 9. November 1938: »Mein Deutschtum wird mir niemand nehmen, aber mein Nationalismus und Patriotismus ist dahin für immer.« Wer die immer noch verbliebene Sympathie für das Deutschtum fragwürdig finden wollte, auch Klemperers Erklärung, die »andern« (das heißt die Gegner, die Faschisten) seien »undeutsch«, müßte seine Begründung zu verstehen suchen: »Der Geist entscheidet, nicht das Blut.« Klemperers Versuch nach 1945, einen »neuen Humanismus« zu umreißen, gehört in eine Linie mit identischen oder ähnlichen Bemühungen anderer zeitgenössischer Autoren (Heinrich und Thomas Mann, Hans Henny Jahnn), die vorschlugen, den Humanismus zu erneuern unter Eliminierung elitärer Züge aus dem überlieferten älteren Humanismus. In denselben Zusammenhang fügt sich Klemperers Widerstand gegen temporäre Pläne in der DDR (1949–1953) ein, den Schulunterricht in den alten Sprachen, Griechisch und Latein, zu reduzieren oder abzuschaffen. In bezug auf einige der historischen Erscheinungen und Mächte seiner Lebenszeit blieb Klemperer, so zeigt Zieske, nicht frei von Ambivalenz: Kommunismus, Sowjetunion, DDR. Um 1933 habe er den Kommunismus und den Faschismus »vom Standpunkt einer Art ›Extremismusdoktrin‹« bewertet. Er brach den Kontakt zu einer Person ab, die sich zum NS hin entwickelte, aber auch zu einer Freundin, die ihre kommunistische Gesinnung bekannte. 1945 trat er jedoch in die KPD ein. In seinem Aufnahmeantrag heißt es: »Und ich glaube, daß wir nur durch allerentschiedenste Linksrichtung aus dem gegenwärtigen Elend hinausgelangen und vor seiner Wiederkehr bewahrt werden können.« Allerdings steht fest, daß er nie begann, die Grundschriften des Marxismus zu studieren oder wenigstens zu lesen, mit Ausnahme des »Manifests der Kommunistischen Partei«. Einen Anflug von Extremismus-Doktrin bewahrt auch später noch seine Kritik an der Sprache in der DDR. Hatte er in seiner Schrift »LTI« die »Lingua Tertii Imperii« (»die Sprache des Dritten Reichs«) in ihrer Verkommenheit angegriffen, verdächtigte er nun die politische Sprache in der DDR gelegentlich als Fortführung der LTI, indem er sie als »LQI« bezeichnete, »Lingua Quarti Imperii« (die »Sprache des Vierten Reichs«). Mit seinen Ausführungen bietet Zieske einen hervorragenden Ansatz, um abermals die Fragen zu durchdenken, die Klemperer in seinen Tagebüchern aufwirft. Mögen einige inzwischen abgetan sein, sind andere davon leider noch aktuell. Die NSU-Morde vor Augen, müßte ein gegenwärtiges Lesepublikum heute kaum zögern, sich Klemperers 1936 formuliertes Bekenntnis anzueignen: »Wer kein Todfeind der Nazis ist, kann mir nicht Freund sein.« Lothar Zieske: »Schreibend überleben, über Leben schreiben. Aufsätze zu Victor Klemperers Tagebüchern der Jahre 1933 bis 1959«, Hentrich & Hentrich Verlag, 227 Seiten, 17,90 €
Erschienen in Ossietzky 23/2013 |
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