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Oktober beschloß der NATO-Rat laut FAZ libysche Soldaten »zu Tausenden« auszubilden, und Hilfe bei der Organisation des Verteidigungsministeriums oder bei der Erarbeitung einer nationalen Sicherheitsstrategie zu leisten … Allerdings: »Die Beratung durch die NATO soll vornehmlich nicht in Libyen, sondern in Brüssel stattfinden, was wohl auch der prekären Sicherheitslage in dem Land geschuldet sein dürfte.« In der Tat: Der Krieg der NATO, an dem sich allerdings nur 14 der insgesamt 28 Bündnispartner beteiligten, zerstörte nicht nur große Teile der Infrastruktur und forderte in dem dünnbesiedelten Land zwischen 30.000 und 50.000 Todesopfer. Er zerstörte auch die – schwachen – Verwaltungsstrukturen, die sich unter Gaddafi herausgebildet hatten. Der als »Durchsetzung einer Flugverbotszone« deklarierte Krieg, der nichts anderes darstellte als einen von außen induzierten regime change, öffnete den Weg des Landes ins Chaos. Beherrscht wird das Land heute von einer Vielzahl von Milizen, die unterschiedliche Ziele verfolgen und verschiedensten Interessen dienen. Da sind zum einen dschihadistische Milizen meist angeführt von »Afghanen«, wie die Freiwilligen aus den arabischen Ländern genannt werden, die einst in Afghanistan zunächst gegen die Sowjetunion, sodann gegen die NATO kämpften. Viele von ihnen saßen unter Gaddafi in Haft, während des Aufstands profilierten sie sich als kampferprobte Führer. Andere wiederum vertreten die Interessen der Stämme, die unter Gaddafi die entscheidenden politischen Strukturen dargestellt hatten: Im Rentenstaat Libyen hatte es nie eine Bourgeoisie, Gewerkschaften, politische Parteien oder eine Zivilgesellschaft gegeben: Die Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport reichten satt aus, um den Staat, seine Bürgerinnen und Bürger und vor allem gigantische Waffenarsenale zu finanzieren. Zahlreiche weitere Milizen, oft tribaler Zugehörigkeit, kontrollieren bestimmte Regionen des Landes wie Misrata, Barce, Djebel Nefousa, Zuwara, Az-Zintan. Die letztere Gruppe hält unter anderen den prominentesten Sohn Gaddafis, Saif al-Islam, gefangen und weigert sich, diesen an ein Gericht auszuliefern, vor dem sich derzeit in Tripolis rund dreißig hohe Angehörige des alten Regimes verantworten müssen. Daneben gibt es weitere bewaffnete Einheiten, die eher auf ethnischer Basis agieren, wie etwa im Süden Milizen der Tubus, der Tuareg und der dortigen Araber, im Nordwesten agieren Kampfgruppen berberischer Zugehörigkeit. Soweit zentrale Strukturen (noch) existieren, sind sie ineffizient: Weder der derzeitige Ministerpräsident noch seine Vorgänger und Minister scheinen nennenswerten Einfluß auf Entscheidungen und die Gestaltung des Landes zu haben. Gerade im Verlauf des letzten Jahres hat sich gezeigt, daß die Staatlichkeit in Libyen weiter zerfällt und von der Autorität einer Zentralregierung nicht die Rede sein kann: An der Tagesordnung sind Morde und Entführungen vor allem von Journalisten, aber auch von Kindern Prominenter, Angriffe auf Ministerien – so am 11. September 2013 auf das Außenministerium –, aber auch auf Botschaften, wie etwa auf das Konsulat der USA in Bengasi, wo am 11. September 2012 der US-Botschafter Christopher Stevens und drei seiner Mitarbeiter getötet wurden. Nach einem Angriff auf die russische Botschaft am 2. Oktober 2013, der zwei Todesopfer forderte, schloß Rußland seine Vertretung und zog das gesamte Personal ab. Auf die schwedische Botschaft wurde ein Selbstmordanschlag verübt. Bei der Erstürmung eines Gefängnisses in Bengasi wurden mehr als 1.000 Gefangene befreit – wohl Anhänger oder Mitglieder der angreifenden Milizen. Justiz- und Innenministerium werden überfallen, zum Teil geplündert. In diesem Zustand allgemeinen Durcheinanders machen die USA inzwischen auf eigene Faust Razzien, verhaften und entführen mitten in der Hauptstadt Tripolis Personen, die sie des Terrorismus verdächtigen, wie etwa Abu Anas al-Libi, der am 6. Oktober vor seinem Haus von einem Kommando der Navy SEALs gekidnappt und auf ein Schiff der US-Marine verbracht wurde. Den vorläufigen Höhepunkt des Chaos bildeten die Entführung des Ministerpräsidenten Ali Zeidan am Morgen des 10. Oktober durch eine formal dem Innenministerium unterstehende Miliz und seine Befreiung am Nachmittag desselben Tages durch eine andere Miliz und die Ermordung des Kommandanten der Militärpolizei vor seinem Wohnhaus am 18. Oktober. Dem Staat selbst gehen die früher munter sprudelnden Einnahmen aus dem Ölexport zunehmend verloren, da Milizen Ölfelder, Raffinerien und Verladeanlagen besetzen und von den ausländischen Gesellschaften Schutzgelder und den Erlös für den Export von Öl und Gas erpressen. Diese Unsicherheiten haben den Ölexport auf ein Zehntel der vor der »Revolution« exportierten Menge sinken lassen. Verwaltungsapparat, aber auch Polizei und Militär kann die »Regierung« nur noch unregelmäßig bezahlen, was ihre Autorität weiter unterminiert. Die noch in der Gaddafi-Zeit angehäuften Devisenreserven dürften binnen kurzer Zeit aufgebraucht sein. Dann verliert »der Staat« auch seine letzte Funktion: Die Bezahlung der Administration und der Sicherheitskräfte. Angesichts der allgemeinen Unsicherheit übernehmen inzwischen zunehmend private militärische Unternehmen die Sicherung der Öl-Anlagen, aber auch den Schutz ausländischer Diplomaten. Waffenhandel, dschihadistische Netzwerke, Ausbildungslager für teils El Kaida nahestehende Kämpfer und deren Schleusung meist über die Türkei nach Syrien haben Libyen inzwischen zu einer Drehscheibe des internationalen Dschihadismus gemacht. Die Angreifer auf das algerische Gasfeld Tiguentourine bei In Aménas kamen aus Libyen. Bei den darauf folgenden Kämpfen wurden nach offiziellen algerischen Angaben 23 Beschäftigte und 32 Terroristen (darunter elf Tunesier) getötet. So bewahrheitet sich eine der banalsten Erkenntnisse westlicher Politikanalytiker: Zerfallene Staaten sind Horte des Terrorismus. Sie sind jedoch unmittelbare Folge westlichen Interventionismus und seiner Politik des regime change, die sich wie ein roter Faden von Somalia über Afghanistan, Irak, Libyen und (demnächst) Syrien durch den ganzen Nahen und Mittleren Osten zieht: Daß sich nun, wo der »freie« Fluß von Öl gefährdet ist, die NATO um die Sicherheit in Libyen sorgt, ist mehr als verständlich. Ob aber der Bock in Gestalt des Gärtners mit der Ausbildung von letztlich ihm hörigen »Sicherheitskräften« eher zur Befriedung als zur Steigerung des Gewaltpotentials beiträgt, ist mehr als zweifelhaft.
Erschienen in Ossietzky 23/2013 |
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