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Selbst einige der rund 300.000 Obdachlosen kamen in den Genuß einer bescheidenen, aber mit Liebe zubereiteten Mahlzeit. Mit viel, sehr viel Phantasie ist es vorstellbar, daß sich bei dieser Gelegenheit auch das Kaufhaus des Westens (KaDeWe), das sich selbst noch immer als das größte Kontinentaleuropas sieht, etwas Besonderes einfallen ließe. Die Geschichte könnte so aussehen: Aus Anlaß des festlichen Tages hat das Warenhaus einen ständigen Tafelkunden eingeladen, mit einem Warenscheck von 1.000 Euro Nahrungs- und Genußmittel zu kaufen. Der Glückliche, Langzeitarbeitsloser und »Hartz IV«-Bezieher, nennen wir ihn Herr G., ist außer sich vor Freude. Am Tafeltag stellt er sich pünktlich im KaDeWe ein, wo er von einer adretten jungen Dame überaus freundlich empfangen und in die 6. Etage des Warentempels, die sogenannte Feinschmeckeretage, geleitet wird. Schon kurz nach Betreten der Gourmetstation traut Herr G. seinen Augen nicht, oder ist er doch im Schlaraffenland gelandet? Nein, was er sieht, ist Realität. Er befindet sich, wie die liebenswürdige Begleiterin ihn aufklärt, in der größten Feinkostabteilung Europas, die auf 7.000 Quadratmetern eine riesige Auswahl an nationalen und internationalen Delikatessen anbietet. Während er langsamen Schrittes das Areal betritt und seine erstaunten Blicke umherschweifen läßt, zählt sie im Stakkato-Rhythmus auf, was die Foot Hall, die nach ihren Worten gewissermaßen »die Tafel im KaDeWe« sei, alles zu bieten hat: 1.800 Wurst- und Fleisch- sowie 400 Brotsorten, 1.300 Käsespezialitäten, darunter 400 aus Frankreich, köstlichste Feinkostsalate jeglicher Art und auserlesene Patisserieprodukte, nahezu alle genießbaren Meerestiere vom Papageienfisch und Seeteufel bis zu Dorade und Wolfsbarsch sowie acht verschiedene Austernsorten, ungezählte Pralinen- und Schokoladenspezialitäten, mehr als 3.000 Weine der bedeutendsten Weingüter der Welt und vieles andere mehr. Benommen von der Aufzählung und dem Anblick all der Köstlichkeiten, meint Herr G., um das Gehörte zu verdauen, wolle er doch mit dem Kauf einer Flasche Kognak, möglichst des besten, beginnen. Da lächelt die KaDeWe-Dame nur milde und flüstert, da werde sein Scheck wohl nicht ganz reichen, denn der teuerste im Angebot sei ein Spezial-Kognak mit Diamanten für 120.000 Euro, aber auch für einen Paradis-Imperial Cognac müsse er kräftig zuzahlen und 1.795,00 Euro berappen. Als er das hört, wird ihm ganz wirr im Kopf, er dreht durch, und in einer Gefühlsaufwallung, in der sich Entsetzen, Hilflosigkeit und Zorn mischen, zerreißt er den wertvollen Scheck, nimmt Reißaus und flüchtet zurück in das reale Leben eines Tafelkunden. Real sind auch der Gourmettempel und die Stammkunden, die es sich leisten können, ihn regelmäßig zum Kauf der lebensnotwendigen Delikatessen aufzusuchen oder, noch besser, einen Bediensteten zu schicken, um zu Hause in ihren Luxuswohnungen oder Villen mit viel Mühe ihre Tafeln reich zu decken oder decken zu lassen. Wieviel leichter haben es dagegen doch die diejenigen, mittlerweile sind es über 1,5 Millionen Bedürftige, die sich diese Mühe ersparen können und gleich zu den Tafeln gehen, um sich einmal in der Woche für einen Euro an der ihnen zugewiesenen Ausgabestelle mit Lebensmitteln, darunter solchen, deren Verfallsdatum bereits überschritten ist, zu versorgen. Wenn sie Glück haben, ergattern sie auch ein leicht altbackenes, aber schmack- und nahrhaftes Brot, das das KaDeWe gespendet hat. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind die Tafelkunden glücklich, auf diese Art und Weise an den Wohltaten der sozialen Marktwirtschaft teilhaben zu dürfen. Am eigenen Leib spüren sie, wie recht doch die Bundeskanzlerin hat, wenn sie immer aufs Neue hervorhebt, wie gut es Deutschland doch geht und Sozialreformen nicht erforderlich sind. Gern unterziehen sie sich auch einer »Bedürftigkeitsprüfung« und freuen sich, wenn sie eine »Berechtigungskarte« und »Ausgabetageszuweisung« erhalten. Groß ist auch ihre Freude, wenn sie sich in die langen Schlangen vor den Tafeln einreihen dürfen, sichern sie sich doch so ihre sozialen Kontakte. Kurz und gut: Die Tafeln sind ein wahrer Segen. Zusammengeschlossen in dem 1995 gegründeten Bundesverband Deutsche Tafel e.V. sind sie ein soziales Großunternehmen. Rund 50.000 ehrenamtliche Helferinnen und Helfer versuchen Woche für Woche, die materielle Not von 1,5 Millionen Armen zu lindern. Welche Bedeutung ihrer Arbeit beigemessen wird, zeigt sich auch daran, daß die noch amtierende Bundesfamilienministerin Kristina Schröder Schirmherrin der Tafeln ist. Nach ihren Worten sind diese »eine helfende Hand«, denn »jeder Mensch kann einmal in eine Situation kommen, aus der er sich allein nicht wieder befreien kann«. Ihre Vorgängerin im Amt der Schirmherrin, Ursula von der Leyen, hatte die »helfende Hand«. Auf einem Bundestafeltreffen in Göttingen war sie sich nicht einmal zu schade, geschmückt mit einer zünftigen orangefarbenen Schürze, eigenhändig die Suppenschüsseln zu füllen. Doch weder die Schirmherrinnen noch die Bundesregierung haben dafür gesorgt, die Tafeln, diese entwürdigende Almosenwirtschaft, überflüssig zu machen und diese Schande für ein so reiches Land wie die Bundesrepublik zu beenden. Auf einer Fachtagung anläßlich des Tafeltages 2013 erklärte der Vorsitzende des Bundesverbandes, Jochen Brühl: »Tafeln haben eine Feuerwehrfunktion. Sie helfen schnell und unbürokratisch, wenn es längst brennt.« Aber auch die Feuerwehr ist hilflos, wenn die gespendeten Lebensmittel nicht ausreichen, die Regale und Kisten geleert sind und die Bedürftigen mit leeren Taschen enttäuscht und traurig heimkehren müssen. Warum eigentlich? Sie könnten doch einfach ins KaDeWe gehen und sich in der Feinschmeckeretage mit den notwendigen Kleinigkeiten eindecken. Und der Brand wäre auch ohne Feuerwehr gelöscht.
Erschienen in Ossietzky 22/2013 |
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