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Eine Schamfrist freilich wird wohl erforderlich sein, auch müssen manche jungen Grünen noch in bürgerliche Sitten eingeführt werden. Marja Winken Mißbrauch – mißbrauchtEr existierte, massenhaft, und existiert auch in der Gegenwart – sexueller Mißbrauch von Kindern. Dagegen etwas zu tun ist notwendig. Aufklärung darüber ebenso. Allerdings bietet dieses gesellschaftliche Übel auch Gelegenheit, den Diskurs ins Gegenaufklärerische umzudrehen. »Pädophilie« (der Begriff hat seine Fragwürdigkeit) ist derzeit ein Lieblingsthema der Medien, und die Auseinandersetzung damit wird von denjenigen genutzt, die darauf aus sind, Homosexuelle wieder mit einem rosa Winkel zu stigmatisieren. Oder die Rückkehr zu jener »Sexualpädagogik« anzubahnen, die über Jahrhunderte hin Kinder psychisch zerstört hat. Aufgedeckt wurden auch »pädophile« Elemente in der Geschichte der grünen Partei – gerade rechtzeitig vor der Bundestagswahl. Der grüne Spitzenkandidat kam ins Visier – zum »Wohl des Kindes«? Wer das glaubt, kommt in den Springerhimmel. Jürgen Trittin äußerte sich, wie man es von einem Möchtegernminister zu erwarten hatte: Eine Nachlässigkeit sei nicht nur ihm, sondern den Grünen überhaupt damals unterlaufen. Nichts war bei ihm zu erkennen von einem kritischen Blick auf den »alternativen« Opportunismus in der damaligen Szene, aber verschwiegen blieb auch, daß die Wahnideen mancher »Kommunen« ihre Herkunft hatten in der Loslösung aus einer anderen Wahnwelt, nämlich der einer tradierten, unterdrückerischen Sexual-»Moral«. Und dann Trittins Nachweis grüner Läuterung: Seine Partei habe doch nicht nur pädosexuelle Anwandlungen, sondern – viel wichtiger – auch die Neigung zum Austritt aus der NATO längst hinter sich. Da fehlte nur noch der Hinweis, NATO-Waffen dienten doch bekanntermaßen dem Kinderschutz.M. W. StaatsmännischDaß es im Syrien-Konflikt zu einer diplomatischen Lösung gekommen ist, ist auch Guido Westerwelle zu verdanken. Laut Spiegel online, dort abgebildet mit schwarz umrandeter Brille und staatsmännischem Gesichtsausdruck, hat Westerwelle »den Druck auf Moskau« erhöht und »ungewohnt scharf ... von Rußlands Präsident Wladimir Putin eindeutige Zusagen und die Vorlage konkreter Pläne ... verlangt«. Komiker parodieren manchmal Politiker. Und umgekehrt. Günter Krone Konzertierte AktionDieter Hundt, langjähriger Präsident der deutschen Arbeitgeberverbände, verabschiedet sich aus diesem Amt mit einer Botschaft, die arbeitnehmerfreundlich klingt: Vom neuen Bundestag müsse endlich ein Gesetz beschlossen werden, das die »Tarifeinheit« in den Betrieben herstelle. Es soll den kleinen Spartengewerkschaften wie etwa dem Lokführerverband den Garaus machen. CDU/CSU, FDP und SPD seien dafür zu haben, sagt Hundt. Und die Gewerkschaft Bergbau-Chemie-Energie hat ihm schon zugestimmt, überhaupt hat im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) eine solche Regelung viel Sympathie, »ein Betrieb, eine Gewerkschaft«, das scheint gewerkschaftliche Kraft zu steigern. Allerdings hat Hundt ein Argument gebracht, das nachdenklich machen sollte: Bei gesetzlich vorgeschriebener »Tarifeinheit« sei Schluß mit der Streikerei von Kleingewerkschaften, die »Friedenspflicht« bei laufendem Tarifvertrag einer großen Organisation sorge dann für Ruhe. Beseitigung der Störenfriede? Munterer werden die DGB-Gewerkschaften dadurch nicht. P. S. WürdenträgerDaß der Mensch vom Lohn für seine Arbeit leben kann, gehört zu der »Würde des Menschen«, die nach Artikel 1 des Grundgesetzes »zu achten und zu schützen Verpflichtung aller staatlichen Gewalt« ist. Um die Würde der Zeitarbeiter zu achten und zu schützen, haben Arbeitgeber und DGB vereinbart, den Stundenmindestlohn für Zeitarbeiter im Westen auf 8,50 Euro und für Zeitarbeiter im Osten auf 7,86 Euro anzuheben, also – wie auch in anderen Branchen üblich – unterschiedlich. Die Würde Ost ist anscheinend billiger als die Würde West. Günter Krone Habebald und HaltefestAuch Goethe kannte sie, Ihre Waffen morden für den Mephisto Sie machen sich breit, Renate Schoof Demagogik für den Mittelstand»Abstiegsangst: Mittelstand bangt um Klassenerhalt« so das Thema der jüngsten Ausgabe des Magazins Hintergrund. Diagnostisch ist das zutreffend, auch hierzulande hat die soziale Schicht, die da in den Blick genommen wird, allen Grund, besorgt in die Zukunft zu schauen. Bedrängt wird sie von einer weiter zunehmenden operativen Mobilität auf der Seite der Großunternehmen, immer mehr Zulieferungen und Dienstleistungen können diese bei ausländischen Anbietern einkaufen. Nachteilig wirkt sich auf deutsche Mittelständler auch der Trend zur Prekarisierung aus, die Konsumkraft der abhängig Beschäftigten läßt nach. Und dann das Elend der Steuerpflichtigkeit ... Doch eine rettende Botschaft ist zu hören: Der Volkswirtschaftler Hans-Hermann Hoppe verkündet sie, mit seinem Ludwig-von-Mises-Institut Deutschland. Hoppe, der bei Jürgen Habermas promovierte und an Universitäten in den USA lehrte, ein akademisch versierter Mann, beruft sich auf die Tradition des liberalen Theoretikers Friedrich August von Hayek und die sogenannte Österreichische Schule der Nationalökonomie. Er ist Redaktionsbeirat des Magazins eigentümlich frei und hat ein vielfältiges Publikum gefunden, das von der Leserschaft der neurechten Jungen Freiheit bis zur Wiener Siemens-Akademie reicht. Er versteht sich als »wirtschaftslibertär« und »anarchokapitalistisch«. Seine volkswirtschaftliche Erfindung: Die »Privatrechtsgesellschaft«. Den Staat, nicht irgendeinen, sondern den als »geschichtliches Wesen«, beschreibt er in seinen Büchern als einen »Gott, der keiner ist«, der gestürzt werden müsse. Zwangsläufig brächten staatliche Strukturen einen »Wettbewerb der Gauner« hervor, eine gesellschaftliche Verfassung, die dazu ermuntere, »das Eigentum anderer Leute zu entwenden«, und zwar ganz legal; der Mechanismus, über den sich laut Hoppe solche Raubzüge vollziehen, ist die Erhebung und Verwendung von Steuern. Eine solche politökonomische Philosophie ist geeignet, Kleingewerbetreibenden als Bestätigung ihrer Alltagsgefühle zu gelten, sie hat für diese etwas Attraktives. Also weg mit dem Staat, propagiert Hoppe, nun auch in populärem Tone: »Die Wurzel des Übels« ist seine Rede betitelt, die auf YouTube zu hören ist. Da erfährt man, wer Lebensglück und Wohlstand der Leistungswilligen und Tüchtigen zerstört: Auf der einen Seite die nicht so zahlreichen »Plutokraten« (sie halten sich, man ahnte es schon, auf den Höhen der Finanzwelt auf); auf der anderen Seite die vielen »Parasiten«, die sozialschmarotzenden Angehörigen der »Unterklassen«, einer »ständigen und häßlichen Plage«. Auf die Politiksysteme, weiß Hoppe, nehmen die »Plutokraten« Einfluß, weil sie sich korrumpierend betätigen – die »Parasiten«, indem sie mitbestimmen wollen, zum Beispiel durch Wahlen. Also weg auch mit der Demokratie, der »Wirtschaftslibertäre« macht aus dieser Forderung kein Hehl. Es bleibt, wenn die »Privatrechtsgesellschaft« dem fleißigen Mittelstand Rettung gebracht hat, ein Problem: Wohin mit den »Unterklassen«? Da muß sich Hoppe noch etwas einfallen lassen. Erst einmal hat er einen Weg gewiesen, wie sich mittelständische Angst in Wut verwandeln läßt, in eine Absage an die Idee der Demokratie und des Sozialstaates, noch dazu mit dem angenehmen Gefühl, auf der Seite der Freiheit zu stehen. Einer Ausprägung derselben aber, die jeden Gedanken an Gleichheit und Brüderlichkeit hinter sich gelassen hat. A. K. Die Seele der FinanzmärkteBald nach Ausbruch der globalen Finanzkrise meldeten Zeitungen: »Studien belegen: Gier ist angeboren.« Der Frankfurter Zukunftsrat, der die »Anpassung der Politik an den globalen Wettbewerb« betreibt, habe als eine Ursache der Krise ein Gier-Gen ausgemacht. Als renommierter Psychoanalytiker will David Tuckett in seiner Studie statt der Gene die Psyche in den Mittelpunkt stellen, »die verborgenen psychologischen Dimensionen der Finanzmärkte« aufdecken. Das macht neugierig: Vermag die Psychologie einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der Krise zu liefern – oder gar Lösungsansätze? In den Verlautbarungen der Politik und vielen Medienberichten sind die Finanzmärkte zu Akteuren mutiert, die sensibel reagieren und nicht gereizt oder verärgert werden dürfen; ihre Rache könnte uns das Fürchten lehren.David Tuckett ist nicht nur Lehranalytiker, sondern auch Ökonom und Soziologe – gute Voraussetzungen, nicht die hochsensiblen neurotischen Märkte auf die Couch legen zu wollen. In Interviews mit 52 Vermögensverwaltern und Fondsmanagern gelingt es ihm nachzuweisen, daß die »Finanzmärkte zwangsläufig gefährlich begeisternde Geschichten, problematische psychische Zustände und eigenartige Gruppenprozesse erzeugen, in denen das realistische Denken grundlegend gestört ist«. Die global handelnden Manager halten aber den Schein aufrecht, rationale Entscheidungen zu treffen, obwohl diese in einem prinzipiell von Unsicherheit geprägten Umfeld gar nicht möglich sind.Allerdings hat zu dieser Selbstüberschätzung der Manager die dominierende Lehre der Ökonomie beigetragen, die Emotionen und Uneindeutigkeiten in ihren Modellen und Theorien nicht kennt: »Die Welt der Ökonomen ist eine Welt ohne Uneindeutigkeit, Unsicherheit, emotionales Gedächtnis und die Erfahrung von Angst. Die Teilnehmer planen die Zukunft mit Berechnungen voraus, nicht aber mit Gefühlen.«Von dieser Einsicht ist der Weg zu den Lösungsvorschlägen mit Banalitäten gepflastert. Die Interviews zeigen die Unsicherheit der Manager und ihre emotionale Beteiligung auf, die sie beim Kauf oder Verkauf der Aktien erleben; sie liefern sogar Hinweise dafür, daß die Fondsmanager und Vermögensverwalter nicht als isolierte Atome agieren, sondern als »Mitglieder menschlicher gesellschaftlicher Gruppen«.Die Schlußfolgerung aus den gewonnenen Einsichten kann dann auch nicht mehr enttäuschen: »Emotionale Zustände und Überzeugungen müssen in die Wirtschaftstheorie einbezogen werden.« Ist das die Erkenntnis, worauf Politik und Gesellschaft gewartet haben? Ist das alles?Ja. In einer Psychologie der Finanzmärkte, in der Interessen und Macht, Elite und die Hegemonie des neoliberalen Kapitalismus nicht vorkommen, können die Erkenntnisse nur zum Abwinken beschränkt sein. Selbstverständlich haben Politiker und Ökonomen, Banker und internationale Organisationen wie Weltbank, Internationaler Währungsfonds und Welthandelsorganisation »irrationale« Entscheidungen getroffen. Aber diese hatten System, und das kann nicht deutlich genug hervorgehoben werden: Es gab und es gibt Profiteure und Verlierer. Am Rande sei vermerkt, daß in der Studie von Tuckett als selbstverständlich und »normal« vorausgesetzt wird, daß die Finanzmanager auf möglichst große Rendite in einem risikoarmen politisch-wirtschaftlichen Umfeld aus waren. Diese einseitige Sicht dominiert auch bei den Schlußfolgerungen: Die Opfer dieser politisch gewollten Verwertung, Verarmung, Spaltung und Ausgliederung tauchen in dem Buch, das nur die Finanzmärkte effektiver zu machen trachtet, konsequenterweise an keiner Stelle auf – genausowenig wie die notwendige Umverteilung von Vermögen und Macht in der Gesellschaft.Georg Rammer David Tuckett, Antje Becker (Ü.): »Die verborgenen psychologischen Dimensionen der Finanzmärkte. Eine Einführung in die Theorie der emotionalen Finanzwirtschaft«, Psychosozial-Verlag, 370 Seiten, 29,90 € Berlin – Wladiwostok per Rad»Haben wir nicht« lautet die Antwort auf meine Frage nach dem Zentrum der Oblasthauptstadt Kurgan. Und wirklich, bis zum Bahnhof, in dessen Nähe mein Quartier liegen soll, Dorfatmosphäre. Später revidiere ich meine Meinung. Jenseits der Schienen ist alles Stadtwesentliche vorhanden. Hauptstraßen mit zentralem Platz, meist aus dem 19. Jahrhundert stammende unter Denkmalschutz stehende Kaufmannshäuser, ein Park mit Spielplatz und Kriegsdenkmal, ein Konzerthaus. Beim Kaufhaus ist sogar die Synthese von Alt und Neu durch einen Verbindungsgang zwischen beiden Gebäuden gelungen. Auf dem Weg nach Kasachstan treffe ich Bulat, einen Kasachen, der auf russischem Territorium Ländereien bewirtschaftet (Getreide, Pferdezucht) und mich auf seinen Landsitz einlädt. Aber ich bin schon in Petropawlowsk verabredet, bin in Eile. An der Grenze dann das böse Erwachen: Ich war zu schnell, mein Visum ist erst in vier Tagen gültig. Nun muß ich im Hotel von Petuchowo warten.In Petropawlowsk werde ich schon vom Stadtrand aus mit dem Auto meiner Gastgeber zur zentral gelegenen Wohnung eskortiert. Die Ehre, die man mir hier zuteil werden läßt, verpflichtet mich, an meinem einzigen Tag in der Stadt zu einem gemeinsamen Stadtrundgang; den zweiten Teil des Tages widme ich den Rußlanddeutschen. Im Haus der 22 Nationen existiert noch eine funktionierende Gemeinschaft namens »Wiedergeburt«. Beim Gespräch bricht Elvira Kowsel in Tränen aus. Ihr Vater hätte die Sprachprüfung nicht bestanden, deshalb müßten sie hierbleiben. Aber vor Ort leistet sie eine hervorragende Arbeit, betreut menschlich warm die Übriggebliebenen, organisiert Sprachkurse und unterhält eine beachtliche Büchersammlung.Schon wieder auf russischem Boden treffe ich dann den ersten die deutsche Sprache noch beherrschenden Menschen, einen Pfarrer aus Nasywajewsk, der mit Stolz davon spricht, die irrlichternden Seelen seiner Gemeinde zu sinnvoller Gemeinschaft geführt zu haben.Ein anderer Deutschrusse, eine kleine Tankstelle bedienend, berichtet mit Galgenhumor von seiner Rückkehr nach Rußland: »In Deutschland ist es zu kalt, die Menschen und so, du verstehst. Ich habe mich nicht wohl gefühlt, keine Arbeit und so.«In dem kleinen Ort Moskalenki verbringe ich einen Teil des Abends umschart von jungen russischen Männern, die mich bewirten wollen und mich mit Fragen bestürmen. Emotional weisen sie sich gegenseitig in die Schranken, um Aufmerksamkeit zu bekommen, dann umarmen sie sich wieder. Einer versucht ständig Englisch mit mir zu sprechen, manchmal verstehe ich ihn. Besonders leuchten seine Augen, als er Informationen über das Münchner Oktoberfest einholt, das er gern besuchen möchte. Ich erzähle, was ich weiß, dann verabschiede ich mich. Am nächsten Morgen, erzählen mir die Hotelangestellten, soll er in betrunkenem Zustand vom Zug überrollt worden sein.Der letzte Streckenabschnitt bis Omsk hat es in sich. Mit angespannten Kräften umschiffe ich das Zentrum eines Sturms. Hinter mir bricht die Hölle los, vor mir plötzlich Windstille und Sonne. Ich habe das Gefühl, jetzt erst hat mich Sibirien akzeptiert.Uwe Meißner Majakowskis Perspektiven?Majakowski ist Literaturgeschichte, er ist Geschichte, Rezeptionsgeschichte Rußlands, aber zum Beispiel auch Deutschlands, und er ist meine Geschichte. Meine Geschichte mit Majakowski ist auch das von Eckart Spoo begrüßte »Ich« in meinem Dissertations-Fragment – und noch mehr seine »Wut auf die dreisten DDR-Abwickler« (Ossiezky, 15/13). Die meisten Medien schweigen mein Majakowski-Buch lieber tot, und vergeblich suchen Slawistik-Kollegen es in Universitäts- und slawistischen Instituts-Bibliotheken. Bemerkenswert ist ausländisches Interesse. Herold Belger, gebürtiger Wolgadeutscher, hochgeschätzter Kasachstaner Literat, Inhaber eines bundesdeutschen Ordens, fand in einem Beitrag für die Deutsche Allgemeine Zeitung (Almaty, 18.7.13) sogar Raum für mein Vorwort, meinen – die Aktualität des Dichters in unserer wieder kapitalistisch gewordenen Gesellschaft kommentierenden – persönlichen Brief an Wladimir Majakowski, 83 Jahre nachdem er sich erschossen hat: »… Der Kampf gilt allen Formen – den Parametern politischer und ideologischer Konfrontation. Und der Verfasser des Buches sucht und findet eine zuverlässige Stütze im schroffen, zielstrebigen, kämpferischen Schaffen des revolutionären Schreihalses und Anführers. Der Brief des Verfassers schließt mit den bedeutsamen Worten: ›Und meine historische Zuversicht sagt mir, daß Sie, lieber Wladimir Wladimirowitsch, mit ihrem literarischen Werk daran mitarbeiten, daß sich trotz schwerer Rückschläge – bei Überwindung von Perversitäten des globalen Kapitalismus im sozialen Bereich – die menschliche Gesellschaft durchsetzen wird, für die Sie gelebt und gestritten haben.‹« – Das war nicht das einzige Echo in Kasachstan auf »Der Hut flog mir vom Kopfe«.Und Moskau? Was ich vom heutigen, Jelzin-geprägten Rußland Putins nicht gedacht hätte – das Moskauer Maxim-Gorki-Institut für Weltliteratur bereitet eine zwanzigbändige, bisher größte Majakowski-Ausgabe mit viel neuem Material vor, deren erster Band in Kürze erscheinen dürfte. Noch kenne ich die einführenden Texte nicht. Aber andere Publikationen von Alexander Mironowitsch Uschakow, Leiter des Herausgebergremiums, lassen erwarten, daß er sich – von den historischen Wandlungen abstrahierend – zur Unvergleichlichkeit der expressiven Macht von Majakowskis Versen, zu seinem Neuerertum in der poetischen Sprache und Metaphorik bekennt, die auch in veränderten Wirklichkeiten fesseln, und zu einer sonst in der Literatur kaum von jemandem erreichten Fähigkeit, »zur Welt, zum Universum, zur Historie« zu sprechen.Da erlaube ich mir doch noch ein Zitat aus meinem Brief: »So gibt es genügend Grund, Ihr Werk auch in Deutschland zu bewahren, bewahren aber heißt: in Ihrer Poesie bis zur letzten Zeile, die Sie hinterlassen haben, das Ringen um die seelisch-psychischen Potenzen der neuen Gesellschaft zu erspüren.«Leonhard Kossuth Janus AltenbourgsDaß Gerhard Altenbourg »Im Zauberkreis der Circe« in Stille, individuell und ganz einzigartig, seine Bilder schaffen konnte, bedurfte es der fürsorglichen Schwester Anneliese Ströch, die im Sommer dieses Jahres gestorben ist und deren Andenken die Ausstellung im Lindenau-Museum Altenburg gewidmet wurde (bis 24. November). Mit 43 oft technikvermischten Zeichnungen, Lithographien, Holzschnitten, Radierungen, Aquarellen und Gouachen wird eine kleine und feine Schau zum Thema Gerhard Altenbourg und die Antike dargeboten. Damit stellt sich das Museum der Aufgabe, künftig wichtige Aspekte des Schaffens seines wichtigsten Künstlers mit Ausstellungen und Konferenzen in den Mittelpunkt zu stellen. 1926 im thüringischen »Hügelgau« bei Schnepfenthal geboren, lebte Gerhard Ströch von Kindesbeinen an in Altenburg, seine Heimatstadt, der er bis zu seinem Unfalltod 1989 verbunden blieb und sich mit seinem französierenden Künstlernamen (ab 1955) einerseits zu ihr, andererseits zu einem übernationalen Anspruch bekannte. Entsprechende Resonanz erfuhr er 1959 mit der ersten Beteiligung an internationalen Ausstellungen, wie der documenta II in Kassel, und dem ihm 1961 eingeräumten Gastatelier in der Akademie der Künste in Westberlin. Seine eigene Situation in der Zeit des Kalten Krieges beschrieb er mit Psalm 129: »Sie haben mich oft bedrängt von meiner Jugend auf; aber sie haben mich nicht übermocht.« Das bestimmt seine Mythosrezeption, die belebt wurde vom Studium in Weimar (Wieland) und von den antiken Vasen des Lindenau-Museums, die hier teils den Bildern beigefügt sind. Denn es ist nicht nur die mythopoetische Etymologie, die heimische Spinnbahn als Zauberkreis der Circe zu deuten, ein »Artemis-Land«, wo Kybele, Amor und Aphrodite, Pan, Nymphen ihr Wesen treiben. Die Blätter beschränken sich nicht nur auf hochästhetisch künstlerische Mittel, Tupfen, Strichel, ausfasernde Linien, intensive, immer transparente Dichte auf kostbarem Papier. Altenbourgs Bedrängnisse treten aus problemhaltigen Mythen hervor, lassen sich mit der Göttin der Wegkreuzungen und Tore, Hekate, und ihrer blutrünstigen Empusa oder der durch den Mauerspalt sprechenden Thisbe verbinden. Als Symbol des Kalten Krieges und der Teilung Deutschlands (Berlins) legt sein Bild »Janus und die Kinder seiner Zeit«, 1955, den doppelgesichtigen römischen Gott aus: Er blickt aus saturnischem, allsehendem Auge und fixiert seinen Betrachter magisch. Die mittige Trennlinie über dem Kopf assoziiert Gespaltenheit und Zweigesichtigkeit, zerfahrenes Denken, seelisches Irresein. Altenbourgs Schicksal war in der West-Ost-Kluft, auf »umtobten Klippen«, aber eben auch in »Arkadien« angesiedelt. In Versen spricht der Dichter Altenbourg von der janushaften Ambivalenz jeglicher Erfahrung und davon, mit dem Gott des Anfanges und der Durchgänge von der äußeren zur inneren Welt durch das Tor der Meditation zu wandern, »Gänge in und unter die Haut (...) in den Wildnissen der Psyche«.Peter Arlt Geschichte einer AnnäherungAus Annäherung wird Verteidigung, denn: »Alles erdenklich Häßliche ist diesem Mann nachgesagt worden. In dieser Hinsicht läßt sich auch bei bösestem Willen nichts mehr entdecken.« Für sich entdeckt hat die Kölner Psychologin und Biographienautorin (unter anderen Frida Kahlo, Anaïs Nin, Salvador Dali, Marlene Dietrich) Hermann Kants »Aufenthalt«, als sie sich selbst in einer Krise befand. Das Buch half, sich selbst wieder zu finden, Fragen zu stellen, Spuren zu verfolgen, auch wenn Hermann Kant das anfangs nicht wollte. Hermann Kant hat diese gründliche, kluge und sprachversierte Verteidigerin, die von ihrem Vorhaben nicht losließ, wahrlich verdient. Die Biographie überzeugt, weil sich die Biographin auf eine Art mit einbringt, daß der Leser neu erleben kann, was an Hermann Kant und seinen Büchern »dran ist«. Vor allem und immer: Verteidigung der sozial(istisch)en Utopie, die der Mensch braucht, um mit Sinn zu leben. Ein unbestechlicher Blick, gepaart mit Witz und Lust an der Sprache. Und die unerläßliche Aufforderung, das Vorgefundene kraft eigenen Tuns zu verändern. Kant selbst wollte es vormachen und schrieb nicht nur Romane und Erzählungen. Er stellte sich als Präsident der DDR-Schriftsteller und handelte sich Blessuren ein. Aus allen Richtungen. Linde Salber hat Freunde, Familie und Kritiker gesprochen, hat Akten studiert und Einblicke in unveröffentlichte Papiere genommen. Auch in veröffentlichte, und das ist gut, denn sie zitiert nicht nur einzelne Wendungen, sondern größere Textpassagen, die den »alten« Kant in Erinnerung bringen. Er war nie bequem, und dennoch mag man sich heute noch schwer mit manchen früheren Zugeständnissen versöhnen. Selbst Linde Salber verwendet zuweilen das Wort »taktieren«, was heute »kompromißfähig« bedeutet und durchaus nichts Schlechtes ist.Es ist die bei weitem spannendste Biographie, die ich in der letzten Zeit gelesen habe. Christel Berger*Dies vorweg – das Buch wird Hermann Kant gerecht: Linde Salber hat es meisterlich geschafft, ihr über sechshundert Seiten starkes Buch kurzweilig zu schreiben. Als sie dem Autor ihr Vorhaben, über ihn zu schreiben, darlegte, begegnete Kant dem skeptisch: Eine Psychologin aus dem Westen, was wird daraus! Gut für ihn, daß er sich eines Besseren besann: Was sich in zweijähriger Arbeit zu einer Biographie formte, hätte einfühlsamer nicht sein können, noch verständnisvoller. Hermann Kant lebt darin – wie er war und wie er wurde, und das Deutschland, für das er einstand, lebt darin auch. Menschen der westlichen Welt, die die DDR selbst nie kannten, sich an der ihnen zugänglichen Presse zu orientieren hatten, werden durch »Nicht ohne Utopie« der damaligen Wirklichkeit sehr nahe kommen, werden Hermann Kant begreifen, den Schriftsteller, den streitbaren Redner und den seiner Überzeugungen nach Handelnden. Das Buch erzählt von Erfolgen und Niederlagen, offenbart wie Hermann Kant gefeiert und bedrängt wurde, befreundet und befeindet, verkannt, verleumdet und allein gelassen. Und wie er all dem widerstand, er auch nach dem Ende der DDR an seiner Arbeit festhielt, neue Romane schrieb, die eine veränderte Welt reflektierten.Aus der Fülle von Höhenflügen, Rückschlägen, Bucherfolgen, Welterfahrungen, eines Lebens für die Kunst und die Neuorientierung im Denken und Handeln, eines Lebens guter, wie auch schmerzlicher Entscheidungen, des Lebens eines Umworbenen und Beneideten, und eines von Krankheiten und Unfällen Geplagten, aus der Fülle dieses eigenwilligen, durchweg erkenntnisreichen Lebens ist eine Biographie entstanden, die man lesen sollte.Walter Kaufmann Linde Salber: »Hermann Kant. Nicht ohne Utopie«, Biographie, Bouvier, 632 Seiten 29,99 € Weiter so»Die Hunde bellen. Aber die Karawane zieht weiter.« Der bekannte Spruch wird in der Leipziger Volkszeitung Helmut Kohl zugeschrieben. Gut beobachtet. Eine Karawane wird von Kamelen gebildet. Weiterziehen sichert deren Existenzgrundlage. Günter Krone
Erschienen in Ossietzky 20/2013 |
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