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Aber heute gehört es zum Alltag, und trotzdem war ich überrascht, als ich kürzlich eine Mail von einem Edwardovitsch Snowdenowski mit dem Betreff »Schäuble und das Staatsdoping West« erhielt. Allein schon wegen des ulkigen, verdächtigen Namens und weil ich annahm, daß ich über das systematische Doping in der Bundesrepublik seit langem allerhand und seit der kürzlich heiß diskutierten Studie »Doping in Deutschland von 1950 bis heute aus historisch-soziologischer Sicht im Kontext ethischer Legitimation« noch ein wenig mehr weiß, schob ich sie ungeöffnet in den Ordner »Spamverdacht«. Was sollte mir ein Herr Snowdenowski zu dieser Thematik Neues mitzuteilen haben? Hatte Wolfgang Schäuble doch bereits Mitte der 1970er Jahre – er war damals Innenminister und Vorsitzender des Bundesfachausschusses Sport der CDU – im Sportausschuß des Bundestages erstmals öffentlich verlangt, unter ärztlicher Kontrolle anabole Substanzen zu verwenden, wenn es denn für das Prestige der Bundesrepublik »nötig« sei. Und es schien dringend nötig zu sein, denn schon damals war der DDR-Sport dank seines effektiven Auswahl-, Förder- und Trainingssystems dem der Bundesrepublik weit davongeeilt. Spätestens zu den Olympischen Spielen in München (1972) und Montreal (1976) war das zu besichtigen. Es war aber auch zum Verzweifeln. Da wurde, wie der Stern kürzlich bestätigte, ab 1949 bereits mit dem Doping begonnen und später die Dopingforschung vom Staat, genauer: von dem für den Sport zuständigen Bundesinnenministerium, finanziert. Aber es half nicht. Dem Massen- und Leistungssport in der DDR, in der leider auch – allerdings wesentlich später – mit dem sträflichen Doping begonnen wurde, war nicht beizukommen. So konnte man sich erst nach der »Wiedervereinigung« am DDR-Sport rächen, ihn mit der Dopingkeule nachträglich besiegen und seine Funktionäre, Trainer und Ärzte vor Gericht zerren. Aber über kurz oder lang, so stand zu befürchten, würde das eigene Sündenregister aufgemacht werden. So war es denn nicht überraschend, daß der Dopingmäzen Schäuble im April 2009, nun war er unter Kanzlerin Merkel wieder einmal Bundesinnenminister, mehr oder weniger offen zur Mäßigung bei der Verunglimpfung des DDR-Sportes aufrief. Nachdem er eingeräumt hatte, daß es Doping in beiden Teilen Deutschlands gegeben habe, erklärte er wörtlich: »Wir sollten uns daher hüten, mit dem Finger auf den jeweilig anderen Teil zu zeigen. Es ist vielmehr an der Zeit, daß Deutschland auch im Sport zusammenwächst und deshalb die Fehlleistungen als eigene verstanden werden. Dazu gehört im Leistungssport auch die gemeinsame Aufarbeitung der Dopingfälle in Ost und West. Unterschiede darf es hier nicht geben.« Als ich mich an dieses Zitat erinnerte, entsann ich mich der Mail des Herrn Snowdenowski und öffnete sie, wenn auch mit leichtem Unbehagen. Sie enthielt ein sogenanntes Geheimdossier. Darin wird »streng vertraulich« einleitend mitgeteilt, daß gemäß der Schäubleschen Maßgabe, Unterschiede zwischen Ost und West dürfe es nicht geben, die juristische und strafrechtliche Aufarbeitung des Dopings im westdeutschen Sport begonnen habe. Die Vorbereitung von Prozessen sei »durch eine Serie von Hausdurchsuchungen bei 50 Trainern, Sportwissenschaftlern, Sportärzten und Sportfunktionären aus dem BRD-Sport eingeleitet worden … Die in einer Liste erfaßten Beschuldigten erhielten zu Beginn den Durchsuchungsbefehl ausgehändigt, aus dem sie allgemein entnehmen mußten, daß gegen sie wegen Körperverletzung ermittelt wird. Was den Beamten in der zum Teil fast sechsstündigen Durchsicht von Papieren, Bücherschränken, Arbeitszimmern, Böden und Kellern, Garagen und Zweitwohnsitzen irgendwie relevant erschien, wurde beschlagnahmt …« Schon beim Lesen der Zeilen hatte ich keinen Zweifel, daß ich auf primitive Weise hinters Licht geführt werden sollte. Erinnerten die Sätze mich doch an eine Publikation, in der mein kürzlich verstorbener Freund, der ehemalige DDR-Staatssekretär für Körperkultur und Sport, Günter Erbach, einen Überblick über die »Politische Strafverfolgung gegen den DDR-Leistungssport« gegeben hatte. Herr Snowdenowski hatte Erbachs Text einfach abgeschrieben und lediglich das Wort »DDR« durch »BRD« ersetzt. Vor weiteren Plagiaten schreckte der selbsternannte Whistleblower zurück, schließlich wäre es doch noch unglaubwürdiger und lächerlicher geworden, hätte er die von Erbach gezogene Bilanz der politischen Strafverfolgung als bundesdeutsche Realität ausgegeben. Dieser hatte konstatiert, »daß im Ergebnis der fast zehnjährigen polizeilichen und staatsanwaltlichen Ermittlungen und Verfolgungen – nach bisheriger Übersicht – gegen circa 900 bis 1000 Personen Beschuldigungen erhoben, in neun Prozessen gegen 21 Angeklagte Urteile gesprochen und durch Strafbefehle weitere 34 Personen zu Bewährungs- und Geldstrafen verurteilt wurden ... Die Zeit wird kommen ..., dann wird der politische Charakter dieser Strafverfolgung noch deutlicher zutage treten.« Mit der Studie zum Doping in der BRD ist der Zeitpunkt näher gerückt. Die Verantwortlichen für die Strafverfolgung im Anschlußgebiet Ost stehen vor einem Dilemma und vor der Frage, wie sie mit dem nicht mehr zu leugnenden Staatsdoping West umgehen sollen. Schließlich sind die des Dopings Beschuldigten in Ost und West allesamt Bürger der Bundesrepublik Deutschland, und für alle gilt der Artikel 3 des Grundgesetzes: »Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich … Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.« Abgesehen von der »Rasse« ein schöner Gleichheitsgrundsatz! Aber was bedeutet er im vorliegenden Fall? Entweder müssen auch die Verantwortlichen für die westdeutschen Dopingprogramme vor Gericht gestellt werden, oder die wegen des gleichen Deliktes verfolgten und verurteilten Ostdeutschen müssen rehabilitiert und materiell entschädigt werden. Ersteres wird schwerlich geschehen, denn zu den Hauptverantwortlichen für das Staatsdoping West gehören die früheren bundesdeutschen Innenminister, in Sonderheit Hans-Dietrich Genscher und Wolfgang Schäuble. In dieser Situation heißt es, Ruhe zu bewahren und zu hoffen, daß sich der Sturm der Entrüstung nach der eingangs erwähnten Studie legt, vorerst ist er dank des zurückliegenden Wahlkampfgezeters sowieso zu einem lauen Lüftchen abgeflaut. Ob und wie stark er wieder aufleben wird, bleibt abzuwarten. Und weil das Thema ziemlich traurig ist, soll es freundlich ausklingen. Noch immer gilt eine alte Weisheit, die nicht Shakespeare, sondern der gute alte Goethe in seinem kurzen Gedicht »Kommt Zeit, kommt Rat« zu Papier brachte: »Wer will denn alles gleich ergründen! Sobald der Schnee schmilzt, wird sich's finden. // Hier hilft nun weiter kein Bemühn! Sind's Rosen, nun, sie werden blühn.« Doch wer zweifelt schon daran, daß die duftenden Rosen für den Rechts- und die Dornen für den Unrechtsstaat reserviert bleiben?
Erschienen in Ossietzky 20/2013 |
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