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Man geht in ein Londoner Pub«, heißt es in dem als apokalyptische Farce verfaßten und von Eike Schönfeld übersetzten Roman »1999« von Martin Amis. Der 1949 geborene Autor – er gehört zu den bedeutenden Romanciers der englischen Gegenwartsliteratur – beschreibt darin eine Kneipe namens Black Cross an der Portobello Road, in der 1927/28 George Orwell im Haus Nr. 22 wohnte und Pläne für sein Buch »Down and Out in Paris and London« entwickelte. In einschlägigen Pub-Guides wird die Kneipe nicht erwähnt, kann sein, daß es in der quirligen Antiquitätenstraße im Herzen von Notting Hill gar kein Black Cross gibt. Dennoch kann in der Portobello Road mit den vielen, von antiken und weniger antiken Sammlerstücken überladenen Marktständen keine Langeweile aufkommen. Ganz zu schweigen vom Karneval (engl. carnival). Er zieht am letzten Wochenende im August zwischen Chepstow Road und Ladbroke Grove rund 1,5 Millionen Schaulustige und Teilnehmer in seinen Bann und verwandelt Notting Hill in einen von Steel Bands und phantastischen Kostümen geprägten afro-karibischen Traumort. Das Black Cross ist eine literarisch verbürgte Erfahrungs-Tankstelle für Leute, die normalerweise wohl kaum eine der zahlreichen Londoner Kneipen betreten würden, die vor allem von gesellschaftlich marginalisierten Männern aufgesucht werden. Real verbürgt sind in der Weltstadt an der Themse trotz des Kneipensterbens im letzten Jahrzehnt rund 6000 Public Houses und Bars – der Weg zum nächsten local (Stammkneipe) ist in London in der Regel kurz. Übrigens gibt es auch drei hochgeschätzte »German Pubs«: die Bierschenke in der Essex Street – wo unter anderem Köstritzer Schwarzbier gezapft wird, das Zeitgeist in der Black Prince Road – wo mehr als zehn deutsche Schankbiere frisch gezapft werden, darunter Gaffel-Kölsch, DAB, Rothaus und Bitburger, zudem gut 30 Flaschenbiere wie Flensburger, Wernesgrüner, Maisels gereicht und Bundesligaspiele live genossen werden können, sowie Katzenjammers – wo viele Pils- und Altbiere aus deutschen Landen auf Durstige warten. Auf einem pub crawl, wie die Einheimischen den »Zug durch die Gemeinde« nennen, fallen einem aufmerksamen Kneipengänger an vielen Hauswänden blaue Schilder auf – London ist gleichsam übersät mit sogenannten blue plaques, die auf die Lebensdaten berühmter ehemaliger Bewohner verweisen. Bei einem pub crawl durch Soho kommt man beispielsweise an den Gedenktafeln für Samuel Taylor Coleridge, Karl Marx und Percy Bysshe Shelley vorbei. Übrigens werden in London täglich diverse organisierte Spaziergänge angeboten – für Kneipenfreunde ebenso wie für Literatur- und Architekturliebhaber (Info: The Original London Walks, www.walks.com). Der heutige Großraum London besteht aus vielen ehemals selbständigen Dörfern und Kleinstädten. Eben deshalb ändert sich der Charakter der Stadt von Viertel zu Viertel, und hat jeder der 33 Stadtteile nach wie vor sein eigenes Zentrum und zahlreiche traditional Pubs. Der höchste Aussichtspunkt liegt im gegenwärtig höchsten Wolkenkratzer Westeuropas: The Shard (die Scherbe). Er ist sozusagen das Wahrzeichen dessen, was die Millionenstadt seit Maggie Thatchers Zeiten auszeichnet: Sie ist ein Zentrum der Finanzmärkte und die Umschaltzentrale für finanzkriminelle Geschäfte mit Steueroasen. Wahrzeichen schon deshalb, weil die glitzernde Scherbe die boomenden Geldgeschäfte und -machenschaften der jüngeren Vergangenheit spiegelt und damit zugleich die über Großbritannien hereingebrochene Finanz- und Wirtschaftskrise – The Shard hat einen krisenbedingten Leerstand von 60.000 Quadratmetern. Großbritannien ist von den Brokern, Tradern und Spekulanten in eine tiefe Krise gerissen worden. Die Staatsschulden lasten schwer, die Sparprogramme der Regierung von David Cameron machen immer mehr Briten das Leben zur Hölle. Gegenwärtig lebt ein Drittel der Bevölkerung in prekären Verhältnissen, lebt knapp ein Drittel der Kinder in sogenannter relativer Armut. Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst im Vereinigten Königreich heute rasanter, als jedes Bauprojekt des für das Königreich so wichtigen Immobiliensektors. Dennoch hat die Regierung den jüngst verabschiedeten Haushalt für 2015 um 11,5 Milliarden Pfund (13,5 Milliarden Euro) gekürzt – die Zahlungen an Städte und Gemeinden werden erneut kräftig um zehn Prozent reduziert, auch steht eine neue Entlassungswelle ins Haus: Bis 2015 sollen gut 145.000 Beschäftigte aus dem öffentlichen Dienst entlassen werden, zudem wurde das Gehaltswachstum nach Dienstalter abgeschafft. Höhere Hürden für Arbeitslosenhilfebezieher und andere unsoziale Maßnahmen mehr inbegriffen. Das Budget der Geheimdienste wird freilich nicht angetastet. Die wegen des Anzapfens europäischer Überseetelekommunikationskabel derzeit für ungläubiges Staunen im Europaparlament sorgende britische Überwachungszentrale GCHQ kann ab 2015 sogar 100 Millionen Pfund mehr ausgeben. Apropos Überwachung: Allen Stadtteilen Londons gemein sind die einen auf Schritt und Tritt im »Auge« behaltenen Videoüberwachungskameras und die an den Hauptstraßen im Kilometerabstand warnenden Schilder: Radarfalle. London verkommt zu einer Orwellschen Überwachungsmetropole. Martin Amis‘ Frage: »Wenn London ein Pub ist und man die ganze Wahrheit will, wo geht man hin?« verleitet mich zum Besuch des Red Lion, 48 Parliament Street. Unter den unterschiedlichsten Namen und Eigentümern gibt es an dieser Stelle Westminsters seit 1434 eine Taverne: zunächst Hopping Hall genannt, dann Rose und schließlich Red Lion. Sie wurde 1896 vollständig umgebaut, um der politischen Kundschaft zu gefallen und weist noch viele charakteristische Einrichtungsgegenstände aus dem späten 19. Jahrhundert auf. Das Red Lion ist eine der Kneipen in der Umgebung des Westminster-Parlaments, die eine Glocke haben, um die MPs, die Parlamentarier, zu Abstimmungen zurück ins hohe Haus zu rufen. Es ist zudem das der Downing Street nächstgelegene Pub – Downing Street No. 10 ist seit 1732 der Wohnsitz des Premierministers. 1824 war das Red Lion Anlaufpunkt für keinen Geringeren als Charles Dickens. Der damals 12jährige mußte für sich selber sorgen und in einer Schuhcremefabrik arbeiten, weil seine Eltern im Schuldturm saßen. In seinem so persönlichen wie realistisch-zeitkritischen Roman »David Copperfield« (in der Übersetzung von Leo Feld und Erwin Krauß, Insel TB, 1980) heißt es: »Wenn ich regelrecht und gut zu Mittag speiste, kaufte ich mir eine Zervelatwurst und ein Pennybrot oder einen Teller Fleisch für vier Pence in einer Garküche oder einen Teller Brot und Käse und ein Glas Bier in einem elenden alten Wirtshaus unserem Geschäft gegenüber, das der ›Löwe‹ hieß oder ›Löwe‹ und noch etwas – ich weiß nicht mehr, was. [...] Ich war noch so sehr Kind und so klein, daß oft, wenn ich in ein fremdes Wirtshaus trat und ein Glas Ale oder Porter forderte, um mein Mittagbrot etwas anzufeuchten, sie es mir kaum zu geben wagten. Ich weiß noch, wie ich an einem warmen Abend an das Büfett eines Bierhauses trat und zum Wirt sagte: ›Was kostet das Glas von Ihrem allerbesten Ale?‹, denn es war eine besonders festliche Gelegenheit; ich weiß nicht mehr, was es war, vielleicht mein Geburtstag. ›Zweieinhalb Pence‹, sagte der Wirt, ›kostet das echte Doppel-Ale.‹ ›Dann‹, sagte ich, ›geben Sie mir ein Glas von dem echten Doppel-Ale, frisch vom Faß und mit einer schönen Haube‹, und legte das Geld hin. Der Wirt sah mich an von Kopf bis Fuß mit einem seltsamen Lächeln auf dem Gesicht; und anstatt das Bier aus dem Fasse einzuschenken, blickte er hinter die spanische Wand und sagte etwas zu seiner Frau. Sie kam hervor, ihre Arbeit in der Hand, und musterte mich jetzt auch. [...] Sie gaben mir das Bier, von dem ich freilich vermute, daß es nicht das echte Doppel-Ale war; und als ich fertig war, öffnete die Frau des Wirtes die Tür des Büfetts, beugte sich über mich, gab mir mein Geld zurück und gab mir einen Kuß, der halb bewundernd und halb mitleidig, aber recht mütterlich war.« Charles Dickens (1812–1870) kannte sich aus in London, in dem zu seiner Zeit ein Großteil der Bewohner unter prekären Bedingungen lebte. Wäre er heute jung und käme in das Red Lion, würde er – jedenfalls verlangt es so der Gesetzgeber – keinen Tropfen Real Ale bekommen und müßte zudem in Begleitung eines Erwachsenen sein. Wobei dieser Tage zwar das ganze Land im Schuldturm sitzt – mit gut 1,4 Billionen Pfund öffentlicher Schulden; die meisten verschuldeten und hochverschuldeten Erwachsenen aber werden allein wegen der Zahlungsrückstände nicht mehr festgesetzt, sondern millionenfach so am Hungertuch gehalten, daß der Besuch eines Public House im Normalfall für sie unerschwinglich ist. Nehmen wir einmal an, ein Tory-Parlamentarier würde einen Charles Dickens unserer Tage mit ins Red Lion nehmen und ihm eine Limonade spendieren. Dann würde der Junge am Tresen mit ziemlicher Sicherheit Gesprächsfetzen aufschnappen, die das Wort UKIP enthalten. Die antieuropäische United Kingdom Independence Party holte bei der Kommunalwahl im Mai 23 Prozent der Stimmen und versetzt nicht zuletzt die Tory-Abgeordneten und Premier Cameron in helle Aufregung, denn sie mausert sich zu einer den ultrarechten Flügel der Tories in Panik versetzenden, so erzreaktionären wie populistisch erfolgreichen politischen Kraft. Gut ein knappes Drittel der Tory-Abgeordneten steht hinter der UKIP-Forderung, das Vereinigte Königreich müsse so schnell wie möglich aus der EU austreten. Ein Referendum soll 2017 stattfinden – aber das ist noch lange hin, und wer weiß, ob Eurokrise und EU-Austeritätspolitik nicht schon zuvor das europäische Integrationsprojekt heillos kaputtgespart haben.
Erschienen in Ossietzky 15/2013 |
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