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Ossietzky druckt eine leicht überarbeitete, gekürzte Fassung. Wechselwähler, der ich bin, habe ich notgedrungen auch immer mal wieder der SPD als dem »kleineren Übel« meine Stimme gegeben – wenn auch dies kleinere Übel mit den Jahren, wie mir scheint, ein größeres und manchmal ärgerlicheres geworden ist. Nichtsdestotrotz: Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt, und möglicherweise werden selbst hartgesottene Politiker unter dem Eindruck kritischer Wähler erneut lernfähig. Vielleicht, wer weiß, trägt meine Kritik dazu bei. Beginnen will ich mit einem Zitat August Bebels. Am 25. Mai 1871 verteidigte er im Deutschen Reichstag die gerade von deutscher und französischer Reaktion niedergeworfene Pariser Kommune und prophezeite, »daß, ehe wenige Jahrzehnte vergehen, der Schlachtruf des Pariser Proletariats ›Krieg den Palästen, Friede den Hütten!‹ der Schlachtruf des gesamten Proletariats sein wird«. Fast 40 Jahre zuvor hatte Georg Büchner diesen Aufruf in Deutschland verbreitet, der seit der Französischen Revolution von 1789 Kirche und Adel ganz Europas aufschreckte, unter Bauern und Handwerkern hingegen Hoffnung auf bessere Zeiten weckte. Aber mit der Hoffnung und der Prophetie ist es so eine Sache. Wenige Jahrzehnte nach Bebels Zukunftsvision hallte erneut Kriegsgeschrei durch Europa, unterstützt von derselben Partei, deren Gründervater August Bebel war. Vielleicht war es sein Glück, daß er 1913, ein Jahr vor Ausbruch des 1. Weltkrieges, starb und den Kriegskurs seiner Partei nicht mehr miterleben mußte. Ein Glück vielleicht auch deshalb, weil niemand mit Sicherheit sagen kann, wie lange Bebel das Sperrfeuer seiner SPD ausgehalten hätte, die schon den deutsch-französischen Krieg von 1870/71, ganz im Gegensatz zu ihm, zum Verteidigungskrieg erklären wollte und deshalb ihre beiden besten und bekanntesten Parlamentarier, Bebel selbst und Wilhelm Liebknecht, öffentlich als »Vaterlandsverräter« anprangerte. August Bebel mußte nicht mehr erleben, daß seine Partei 1914 die kriegerischen Aufmarschpläne nicht etwa mit dem Massenstreik durchkreuzte, sondern daß seine Fraktion sogar eigenhändig das Geld für das 1. große Weltgemetzel einsammelte und den Kriegskrediten zustimmte. Die Kriegsbefürwortung der SPD 1914 scheint mir bis heute nicht aufgearbeitet. Dieses Versäumnis hemmt die Bereitschaft zu einem eindeutigen Nein, wenn über neue Kriegseinsätze zu entscheiden ist. Und es gibt heute noch einiges mehr, was nach Widerstand verlangt. Ich nehme als Beispiel nur die Zerschlagung des Acht-Stunden-Tages und der Tariflohnsicherheit – Errungenschaften zäher Kämpfe und einer deutschen Revolution, die zwar soziale Erfolge durchsetzen konnte, aber, weil sie mehr wollte, von einem Sozialdemokraten im Amt des Reichswehrministers in Blut erstickt wurde. Hätte sich Bebel diesen Noske, der sich dazu bekannte: »Einer muß den Bluthund machen«, überhaupt vorstellen können? Als SPD-Mitglied, meine ich ... Aber zu erinnern ist nicht nur an die Niederschlagung der Revolution, sondern eben auch an ihre Erfolge, zu denen die erkämpften Schutzrechte für Arbeitnehmer gehören: Barrieren gegen die schrankenlose Ausbeutung aus der Frühzeit des Kapitalismus. Was ist aus diesen Erfolgen geworden? Ich habe meine jüngste Reise in die Niederungen der deutschen Arbeitswelt als Paketauslieferer unternommen. Einer meiner damaligen Kollegen wurde dieser Tage angeklagt, weil er in völlig übermüdetem Zustand ein Kind totgefahren hat. Ihm wird vorgeworfen, die vorgeschriebenen Sicherheitsregeln beim Zurücksetzen seines Kleinlastwagens nicht eingehalten zu haben. Ein anderer meiner Kollegen ist vor einiger Zeit tödlich verunglückt. Sekundenschlaf. Üblich bei einem Normalarbeitstag von 12 bis 15 Stunden. Und kein Parlament, keine Regierung, keine Behörde schiebt da einen Riegel vor. Als einziger Spitzenpolitiker forderte Sigmar Gabriel nach meinen Veröffentlichungen in der Zeit und im Fernsehen, daß der Staat hier gefordert sei. Aber nichts geschah. Im Gegenteil: Das Geschäft boomt, die Profite explodieren bei GLS, Hermes, DPD, TNT, Trans-o-Flex und anderen. Gleichzeitig boomt das Unwesen dieser Konzerne, wirtschaftliche und menschliche Risiken an Subunternehmer oder über Werkverträge auszulagern. Die mit falschen Versprechungen gelockten und betrogenen Klein- oder Alleinunternehmer werden wie die erwähnten Fahrer mit Niedrigsteinkommen ausgebeutet und enden nicht selten – in einigen Depots ist es sogar die Regel – mit Schulden bis zu Hunderttausenden von Euro in der Insolvenz. Auch hier versagt bislang die Politik und fördert ganz im Sinne des neoliberalen Credos von der Eigenverantwortung jedes Einzelnen Scheinselbständigkeit und sittenwidrige Ausnutzung der Ohnmächtigen. Daß die ARD in einem fulminanten Bericht die Lage der mithilfe von Subunternehmern aus ganz Europa herangekarrten und für Amazon schuftenden Leiharbeiter skandalisiert hat, ist ihr hoch anzurechnen. Wiederholt wandten sich Beschäftigte an mich, die den Eindruck hatten, hier habe Scientology die Hand im Spiel – was nicht der Fall ist, aber die sektenähnlichen Methoden von Unterwerfung und totaler Verfügbarkeit der Beschäftigten lassen einen solchen Verdacht zu. Leider ist die in der Fernseh-Sendung gezeigte Systematik der Ausbeutung gesetzlich gedeckt, das Subunternehmer-Unwesen politisch und ökonomisch gewollt und deshalb die aktuelle Betroffenheit verantwortlicher Politiker über den ARD-Bericht so lange Heuchelei, bis sie die Erlaubnis für diese Ausbeuterei endlich zurückgenommen haben. In rasantem Tempo wird in immer mehr Arbeitsfeldern auf Leiharbeiter oder Scheinselbständige gesetzt. Ihr Stundenlohn liegt nicht selten bei drei bis fünf Euro. Und das völlig legal. Die Profiteure der Leiharbeiterbranche brauchen keine langfristigen Verpflichtungen gegenüber ihren Arbeitnehmern mehr einzugehen. Urlaubsgeld, Krankengeld, Rentenzahlungen: alles überflüssige Kosten, »Sozialklimbim«. Nicht einmal Heuern und Feuern ist mehr nötig, gegen das sich häufig ganze Belegschaften aufgelehnt haben. Solche Widerstandsaktionen wirkten sich unangenehm aufs Renommee und aufs Geschäft aus. Nein, das »Menschenmaterial« wird einfach zeitnah und konfliktfrei angemietet wie ein Preßlufthammer, eine Hebebühne oder ein Kleinlaster. Ich habe mit vielen Fahrern und Subunternehmern der Paketbranche gesprochen und gesehen, wie sie selber und ihre Familien unter dem horrenden Druck leiden und zugrunde gehen. Beim Lesen in Texten von August Bebel fand ich eine Stelle, wo er über einige Profiteure staatlicher Wirtschaftsförderung schreibt: »Sie sind bestrebt, aus der Arbeiterschaft eine Horde schlechtbezahlter Kulis zu machen und sie mit Arbeitsverträgen zu knebeln, die geradezu eine neue Sklaverei ganzer Familien einführen.« Seit Bebels Zeiten hat sich viel zum Besseren gewandelt – aber vieles wird wieder zurückgedreht. Er wußte: »Ist es ein wenig besser geworden, so hat der Zwang der Umstände, nicht der gute Wille der Herrschenden diese Besserung herbeigeführt. Wie barbarisch und kulturwidrig aber die Zustände noch sind«, rief er aus und hat damit noch heute recht. Das habe ich auch über die Situation der Beschäftigten in den Callcentern erfahren müssen. Diese Unternehmen heimsen mit perfiden Ausbeutungsverhältnissen, bevorzugt im Osten der Republik, sogar noch staatliche Fördergelder ein und lassen sich überdies die angeheuerten Arbeitskräfte in den ersten Wochen von der Arbeitsagentur finanzieren. Nach einigen Jahren machen sie ihren Laden, oft mit betrügerischer Insolvenz, wieder dicht, um ihn unter anderem Namen mit derselben Masche neu zu eröffnen. Sie lassen die Verkaufsagenten, im Fachjargon Outbound genannt, auf kleinstem Raum wie in einer Hühnerbatterie für schnellstmöglichen und höchstmöglichen Profit schuften, und das heißt: lügen, betrügen und den Leuten am Telefon überteuertes und unsinniges Zeug aufschwatzen, um sie im wahrsten Sinne des Wortes »übers Ohr zu hauen«. Ein erheblicher Teil dieser Einrichtungen gehört einfach verboten. Denn wir brauchen nicht Arbeit um jeden Preis, sondern menschenwürdige Arbeit, von der man leben kann. Die Verantwortlichen und Weichensteller der Wirtschaftsvereinigungen und Banken sehen das freilich ganz anders. Michael Rogowski, Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie, forderte schon 2004, vor der großen Krise: »Arbeit ist keine feste Größe, sondern eine Frage von Angebot und Nachfrage. Und deshalb eine Frage des Preises, deshalb brauchen wir auf keinen Fall Mindestlöhne. Im Gegenteil, wir müssen die tariflichen Untergrenzen durchbrechen.« Und in seinem Zynismus setzte er noch einen drauf: »Die Arbeitskraft hat einen Preis, wie ihn auch Schweine haben. Im Schweine-Zyklus ist der Preis hoch, wenn es wenig Schweine gibt. Werden viele Schweine angeboten, sinkt der Preis.« Wer so schweinisch redet, fördert damit auch Arbeitsbedingungen, unter denen Mitarbeiter regelrecht zur Sau gemacht werden. Der damalige Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Norbert Walter, formulierte es 2008 mitten in der Krise brutal ehrlich und herabwürdigend: »Manche von uns werden sich darauf einstellen müssen, künftig einen Lohn zu bekommen, der in Deutschland zum Überleben nicht mehr reicht.« Immer wenn derartige Herrenmenschen wir oder uns sagen, ist die Absicht erkennbar, von ihren eigenen Privilegien und Millionen-Vorstandsgehältern abzulenken, und dann ist höchstes Mißtrauen angebracht. In Deutschland verfügen die oberen zehn Prozent der Bevölkerung über 70 Prozent des Gesamtvermögens und die Super-Super-Reichen, ein Prozent der Bevölkerung, fast alle Milliardäre, besitzen 35,8 Prozent, Tendenz steigend. Vor kurzem berichtete mir eine Immobilienkauffrau, die mitsamt ihren Kollegen und einer landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft von einem Finanzinvestor übernommen worden war, detailliert vom neuen Arbeitsalltag der Angestellten. Kündigungen durch die neuen Herren waren laut Kaufvertrag eigentlich verboten; doch der Personalbestand wurde durch sogenannte »verhaltensbedingte« Kündigungen allmählich »abgeschmolzen«, »ausgedünnt«, »abgespeckt« – all dies Euphemismen, als handelte es sich um eine gesundheitsfördernde Diätkur. Die übrig gebliebenen Mitarbeiter häuften Hunderte von Überstunden an. Was schließlich dazu führte, daß eine Mitarbeiterin nach einem überlangen Arbeitstag im Bahnhof übernachtete, um keine Zeit mit der Fahrt nach Haus und zurück zu verlieren. Gedankt wurde der Frau ihr Einsatz nicht. Als sie es bei der nächsten Überlastung nicht mehr bis zum Bahnhof schaffte, sondern noch am Arbeitsplatz zusammenbrach, wurde sie »entsorgt«, verhaltensbedingt versteht sich. Sie klagte, aber das Arbeitsgericht verordnete die Aufhebung des Arbeitsvertrages gegen eine geringe Abfindungszahlung. Überfällig ist ein neues Arbeitsgesetzbuch, das – sofern es jemals kommt und sofern es dann noch als Schutzgesetz für Arbeitnehmer taugt – den Gerichten eindeutige Kündigungsschutzbestimmungen vorgibt, denn derzeit sorgen sie nicht so sehr für Kündigungsschutz als für immer mehr obskure Kündigungsbegründungen: »Druckkündigungen«, »Verdachtskündigungen«, »Zerrüttungskündigungen«... Was die Arbeitsrechtsprechung derzeit treibt, kommt den Visionen aus dem Arbeitgeberlager vom notwendigen Ende des Kündigungsschutzes schon recht nahe: man brauche derlei »sozialen Firlefanz« nicht mehr, heute gingen die Uhren anders, heute dürften schnelle Reaktionen der Unternehmen auf veränderte Konkurrenzbedingungen nicht mehr behindert werden. So tönt es aus dem Arbeitgeberlager und schürt die Ängste der Beschäftigten vor Dauerarbeitslosigkeit, so daß sie noch wehrloser und verfügbarer werden. Das dient dazu, noch mehr Arbeitsleistung aus ihnen herauszupressen. Der neue Euphemismus »Arbeitsverdichtung« bedeutet oft nichts anderes, als daß ein Einzelner, meist Jüngerer, die Arbeit zu leisten hat, die vorher von zwei Älteren, »Freigesetzten« – wieder so ein Euphemismus – bewältigt wurde. Ich habe in den letzten Jahren wieder in sogenannten »niedrigen Jobs« gearbeitet, die aus Menschen sogenannte »working poor« machen. Auch das sind kalt-soziologische Begriffe, mit denen man auf Distanz geht und keinerlei Mitgefühl erkennen läßt. Eigentlich träfe hier der klassische Begriff des »Proletariers« zu, eines fast rechtlosen Menschen, der nichts als seine Arbeitskraft zu verkaufen hat. Aber in der Umgangssprache ist daraus abwertend der »Prolet« geworden, fast schon ein »Asi«. Ich war Callcenter-Agent, Hilfsbäcker für Lidl und Paketauslieferer und erlebte, wie meine Kollegen in all diesen Tätigkeiten erniedrigt und aufs Übelste ausgebeutet wurden. Gleichzeitig war ich stolz, an der Seite von Menschen zu arbeiten, die trotz dieser von außen kaum vorstellbaren Widrigkeiten ihren Buckel hinhielten, aber sich das Kreuz nicht brechen ließen. Millionen Beschäftigte kleben heute in diesem Gefüge fest – warum? Weil die Gesellschaft sie im Stich läßt und weil sie den Nutznießern dieser Verhältnisse nicht Einhalt gebietet. Es gibt dort keinen Mindestlohn, Tarifschutz ist ein Fremdwort, Kontrollbehörden lassen sich fast nie blicken, selbst Gewerkschaften sind Mangelware, weil da, wo fast niemand organisiert ist, der Gewerkschaft die Mittel fehlen, um dranzubleiben und nicht nur mal kurz vorbeizuschauen. Wir wissen aus wissenschaftlichen Studien, daß fast zwei Millionen prekär Beschäftigte Opfer dieses Ausbeuterskandals sind. Die französische Arbeiterbewegung hat einen Mindestlohn von neun Euro durchgesetzt, in Luxemburg werden zehn Euro gezahlt. Viele von denen, die hier malochen, haben eine Migrationsbiographie, sind Deutschrussen, Deutschtürken oder haben nicht einmal die vollen Bürgerrechte, weil sie keinen deutschen Paß haben. Wenn Rassisten als »Reindeutsche« auf solche Menschen auch noch Haß und Verachtung abladen und ihnen sogar die Schuld an unsozialen Verhältnissen hierzulande geben, stellt das die Verhältnisse komplett auf den Kopf. Ich meine die Sarrazins und in ihrem Gefolge die Heim- und Herdprämienpolitiker, die soziale Probleme in ethnische umdeuten. Soweit es nach ihnen geht, darf das Einwanderungsland Deutschland seine neuen Bürgerinnen und Bürger auch nach 50 Jahren nicht willkommen heißen und muß selbst der dritten Generation noch mit Mißtrauen und Abwehr begegnen. Im deutschen Schulwesen werden Kinder aus migrantischen Elternhäusern bis heute eklatant benachteiligt, genauso wie Arbeiterkinder. In einem großen Teil der Eliten dieses Landes fließt bis heute eine Unterströmung des ethnischen und sozialen Rassismus, eine tief sitzende Verachtung gegen »die da unten«, die Proleten, die Türken. Bezeichnend ist: 80 Prozent der Akademikerkinder werden wiederum Akademiker. Wenn die Gesellschaft nicht immer weiter auseinanderklaffen soll, brauchen wir ein gewaltiges Maß an sozialer Solidarität. Ich könnte auch von sozialen Menschenrechten reden, das Thema, das den Mitbegründer der SPD zeitlebens umtrieb. Heute werden Büchners und Bebels »Hütten«, die hierzulande glücklicherweise recht stabile Appartements, Zwei- bis Drei-Zimmer-Wohnungen oder gar kleine Eigenheime sind, von zwei Seiten angegriffen: vom Kapital, begünstigt durch ein stetig demontiertes Arbeitsrecht, das die Arbeitnehmer immer weniger schützt. Und vom Sozialstaat, nachdem die Arbeitslosenversicherung, das wichtigste Instrument der Solidarität gegen den Krieg auf dem Arbeitsmarkt, abgebaut worden ist. Ich sage nur Agenda 2010 und meine damit einen staatlichen Kredit für den Krieg gegen die Armen. Durch »Hartz IV« sind Hunderttausende von Arbeitslosen auf dem »Arbeitsfeld der Ehre« zwar nicht gestorben, aber in Arbeitslosigkeit gefallen, die in Deutschland schon als überwunden galt. »Weil du arm bist, mußt du früher sterben«, der Satz aus der Frühzeit des Kapitalismus ist laut Statistik der Krankenkassen wieder Realität geworden. Wer weniger als 1000 Euro verdient, hat eine um zehn Jahre niedrigere Lebenserwartung als Menschen mit 3000 Euro und mehr. Der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, nennt dieses zu Recht »eine Schande für unser Land«. Mittlerweile arbeitet fast jeder vierte Beschäftigte für einen Niedriglohn. Die Zahl der Leiharbeiter, die in den Betrieben Unterklasse sind, schnellt nach oben. Die Zerstörung gesicherter und dauerhafter Arbeitsverhältnisse bei gleichzeitiger Zunahme prekärer Beschäftigungsformen, die Aufweichung und Entwertung des öffentlichen Rentensystems ... – die Politik hat die Vorschläge der Wirtschaft Eins zu Eins umgesetzt. Die Folgen treten brutal zutage: wachsende Kinderarmut, höhere Bildungshürden, mehr Menschen ohne Kranken- und Rentenversicherung, dauerhafte Abkoppelung der unteren Schichten von kultureller und sozialer Teilhabe, Altersarmut. Bis heute lassen die sogenannten Volksparteien nicht ab von ihrer neoliberalen Politik des sozialen Kahlschlags – ein Prozeß, der rasant um sich greift. Wenn Sie in Deutschlands Städten freundliche ältere Herren, aber auch Damen verschämt in einem Mülleimer an der Straße wühlen sehen, ist das Altersarmut. Und wenn morgen ein Zwanzigjähriger Sie mit großen Zahnlücken anlächelt, dann sehen Sie der Gesundheitsreform ins Gesicht. Die Betroffenen zahlen mit ihrer Würde und mit ihrer Lebenszeit. Das hat die Agenda 2010 erreicht. Überhaupt ist Würde ein Begriff, der in der Arbeitswelt nicht (mehr) in Gebrauch ist. Vielleicht weil die Würde, von der dann die Rede sein müßte, noch nie so billig zu haben war. So billig wie ein zunehmendes Heer von Armutsbeschäftigten ihre Ware Arbeitskraft heute verkaufen muß, weil sie auf Teufel komm raus einen Job brauchen. Würde zu Schleuderpreisen, 400-Euro-Job-Würde, Ein-Euro-Würde, Hungerlöhnerwürde. Im Konkurrenzkampf mit den Unternehmen aus den anderen Industriestaaten haben die deutschen Kapitalisten dank der erfolgreichen Lohnsenkungspolitik mit Hilfe von Zeitarbeit, befristeten Verträgen, Werkverträgen und steigender Wochenarbeitszeit die Nase vorn. Deutschland hat mit 22,2 Prozent den größten Anteil an Niedriglöhnern unter Europas Kernländern, mehr sogar als der Durchschnittsprozentsatz aller 27 Euroländer. Hinzu kommt, daß die Unternehmen in Zeiten der Globalisierung jede Regelungslücke nutzen, um ihre Kosten mit Verweis auf den »harten Wettbewerb« weiter abzusenken. Der massive Mißbrauch der Leiharbeit in den vergangenen Jahren ist dafür ein ebenso anschauliches Beispiel wie der »Import« von Billiglöhnern aus Südosteuropa, der auf deutschen Schlachthöfen trauriger Alltag ist. In manchen Großschlachtereien sind nur noch zehn Prozent der Mitarbeiter fest angestellt. Neben ihnen schlachten und zersägen Arbeiter aus Osteuropa die Schweine – sie werden von selbständigen Subunternehmern beschäftigt, laut Gewerkschaft Nahrung-Genuß-Gaststätten (NGG) verdienen sie weniger als fünf Euro pro Stunde. Der Umsatz der Firmen in der Fleischwirtschaft ist allein im Jahr 2011 um 12 Prozent auf rund 33,5 Milliarden Euro gestiegen. In den Großbetrieben hat sich ein Drei-Klassen-System herausgebildet: Da gibt es als erste Klasse noch die Stammarbeiter, die Zug um Zug durch billigere, willigere und schneller zu heuernde und zu feuernde Leiharbeiter – die zweite Klasse – ersetzt werden. Zur dritten gehören Mitarbeiter mit Werkverträgen. Die Allerletzten. Sie dürfen noch nicht mal in die Kantine, in der die anderen noch vergünstigtes Essen bekommen. Die Aufspaltung der Gesellschaft vertieft und verschärft sich. Und diese Klassengesellschaft, in der wir leben, ist zugleich eine Art Kastengesellschaft. Mittlerweile zeigt sich sogar FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher, linker Umtriebe unverdächtig, über die kapitalistische Alltagsgier und ihre Folgen entsetzt. Als Resümee seiner unlängst erschienenen Anklageschrift »Ego« macht er sich eine Binsenweisheit zu eigen, die seinesgleichen unsereinem noch vor einigen Jahren als grobes klassenkämpferisches Klischee um die Ohren geschlagen hätte. Zitat aus »Ego«: »Ich bin wie wir alle Zeuge eines Denkens, das zwangsläufig in die Privatisierung von Gewinnen und die Vergesellschaftung von Schulden führte.« Wo er recht hat, hat er recht, und er ist nicht der einzige unter den intelligenteren, lernfähigen Konservativen, die in letzter Zeit mit Ansätzen einer kapitalistischen Grundsatzkritik an die Öffentlichkeit treten. Gut so! Schirrmachers Aufschrei über den kapitalistischen Egozwang und Egotrip, der unser aller Leben in Fesseln schlägt, verdient Beachtung und Weiterverbreitung. Selbst einzelne Bänker, Börsianer, Spezialisten aus den Vorständen großer Konzerne sorgen sich, sprechen von Verselbständigung des Börsengeschehens, von nicht mehr steuerbarer Komplexität, von den Gefahren wachsender Beschleunigung am Kapitalmarkt: 80 Prozent der Aktien wechseln innerhalb von 20 Sekunden ihren Besitzer. Bereits in den 1950er Jahren prophezeite der Bankier Robert Pferdmenges, übrigens Berater Adenauers: »Wenn Banken nicht mehr ihren eigentlichen Geschäften nachgehen, sondern sich in Form von Spekulationen und Wetten betätigen, ist das ganze System kaputt.« Selbst einer der ehemals einflußreichsten Bankmanager und Ex-Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Hilmar Kopper (»Peanuts«), ein Hardliner seiner Zunft, kommt inzwischen zu der Erkenntnis, es sei »viel zu viel Geld bei zu wenigen viel zu schnell im Umlauf«. Warren Buffett, mit einem Vermögen von fast 60 Milliarden Dollar einer der reichsten Menschen der Welt, bezeichnete vor der großen Bankenkrise Hedgefonds und Spekulationsgeschäfte als die »Massenvernichtungswaffen unserer Zeit«, was ihn dann allerdings nicht daran hinderte, sich selber höchst spekulativ daran zu beteiligen und etwa ein Viertel seines Vermögens zu verlieren. Auch die mittelständischen Nutznießer der deutschen Dumpingkonkurrenz und der schiefen Einkommenspyramide können sich nicht sicher fühlen. Abstiegsängste nehmen zu. Man spürt, daß es mit dem Wohlergehen, das am Rande der Mitte bereits abschmilzt, nicht so bleiben wird. Da aber auch hier für das Kapital noch viel zu holen ist, wird nun gerade in den Zentren des Wohlstands, in den stabilen Betrieben also, zugelangt und abgebaut. Das ist nicht ganz so einfach wie die Durchsetzung der Agenda 2010, denn in den Betrieben gibt es einige stabile institutionelle Barrieren, die aus dem Weg zu räumen mehr Kraft kostet, als die »Hartz IV«-Gesetze im Parlament zu verabschieden. Ich denke da zum Beispiel an Betriebsräte. Nicht die, die alles mitmachen, was von oben zur angeblichen Standortsicherung vorgeschlagen oder durchgezogen wird. Ich denke an die Nicht-Korrumpierbaren, die solidarisch Handelnden. Auch sie werden seit Jahren zunehmend attackiert. In meinem letzten Buch und einer Fernsehdokumentation habe ich von den »Anwälten des Schreckens« berichtet: Advokaten, die mit solchen Parolen für sich werben wie: »Wir machen nicht alles, was Recht ist, Arbeitsrecht für Arbeitgeber« oder: »Das Recht des Stärkeren liegt in der Natur einer jeden Sache! Es gewinnt, wer Taktik und Technik am besten beherrscht!« Es gibt mittlerweile viele von dieser Sorte, viele Schreiners und Naujoks, die ein Ziel eint: Arbeitnehmer, die alters- oder krankheitsbedingt zu »entsorgen« sind, zu terrorisieren und zum Aufgeben zu zwingen. Oder sie haben aufrechte Betriebsräte, unbestechliche Vertreter der Belegschaft, solidarisch denkende und handelnde Gewerkschafter im Visier. Es ist ein Skandal, daß solche Schreckensanwälte Personalchefs sogar in öffentlichen Unternehmen darin schulen (ich zitiere aus Naujoks‘ Standardwerk »Kündigung von Unkündbaren«, schon der Titel ist eine dreiste Aufforderung zum Rechtsbruch), wie man »in Zukunft ohne Betriebsrat auskommen« soll. Die Kapitelüberschriften lauten: »Systematischer Psychoterror des Arbeitgebers«, »Strategisches Schikanieren des Arbeitnehmers«, »Bewußte Verunsicherung des Arbeitnehmers«, »Zermürbungsstrategie«, »Psychofolter durch den Arbeitgeber«, »Fortsetzung der Schikane«, »Reine Quälerei des Klägers«, »Zwang zur Selbstaufgabe des Arbeitsplatzes«! Durchweg Methoden, den Willen zu brechen. Alles wie aus einem Psychofolterhandbuch der CIA entsprungen. Viele Arbeitgeber distanzieren sich (noch) von derart kriminellen Methoden, die aber immer öfter angewandt werden. Und das Schlimme ist: Anwaltskammern, Staatsanwaltschaften und Politik nehmen dieses illegale Treiben hin. Ein Standesverfahren oder gar ein Strafverfahren gegen die Unrechtsanwälte ist mir zumindest bislang nicht bekannt. In dem heimlich gedrehten Film hatte ich mich als interessierten Unternehmer ausgegeben. Auszüge aus dem Film zeigte ich dann dem zuständigen Vertreter der Rechtsanwaltskammer, der selber Anwalt ist. Er sah, wie diese Anwaltskollegen ihre Methoden anpreisen und sagte dann: »Ja, wissen Sie, uns sind da die Hände gebunden. Da muß man halt das Kündigungsrecht aufweichen und ändern. Dann braucht man ja solche Anwälte nicht mehr.« Bei meinen Recherchen habe ich zahlreiche Opfer dieses Psychoterrors kennengelernt. Sie wurden durch monate- und jahrelanges systematisches Mobbing von oben gebrochen, in Einzelfällen in den Selbstmord getrieben. Dutzende Abmahnungen und Kündigungen, Bespitzelung durch Detektive, Drohanrufe, anonyme und offene Beleidigungen im Betrieb ... – die Instrumente wirken immer. Es sei denn, die Opfer gehen rechtzeitig an die Öffentlichkeit und wehren sich mit Unterstützung von anderen in und außerhalb des Unternehmens. Anfang 2012 habe ich ein Gemeinschaftsprojekt gegründet: »brennpunkt betrieb« und »work-watch«. Das Projekt sammelt, beobachtet, interveniert, veröffentlicht solche Fälle und versucht, das Thema »Bossing« – so nennt sich das Mobbing von oben – auf die politische Agenda zu setzen. Wie kann es sein, daß in einer Demokratie, die nicht am Werkstor endet, Methoden der psychologischen Kriegsführung gegen Arbeitnehmer nach Bekanntwerden immer noch geduldet und beschwiegen und die Opfer nicht geschützt, nicht entschädigt werden? Denn am Ende eines erfolgreichen Bossing werden die Betroffenen tatsächlich aus dem Unternehmen entfernt, häufig genug nach vielen haltlosen Kündigungen, nach monatelanger Erkrankung, nach schwerer Erschöpfung bis zur Psychiatrisierung. Und das geschieht manchmal sogar mit Unterstützung des zuständigen Arbeitsgerichts. Ein Beispiel: Die Betriebsratsvorsitzende eines Großbetriebes mit 1.400 Beschäftigten war nach der fünften unberechtigten Kündigung noch immer nicht mürbe. Auch diese Klage landete vor Gericht. Die Richterin meinte allen Ernstes, warum sich die mit allen üblen Methoden Attackierte denn überhaupt gegen ihre Kündigung zur Wehr setze? Kündigungen seien doch heutzutage an der Tagesordnung. Und wenn die Betriebsrätin darlege, sie sei dadurch im Unternehmen mürbe gemacht und krank geworden, dann sei doch der »einvernehmliche« Abgang für alle Beteiligten das Allerbeste. Den diese Richterin der Betriebsratsvorsitzenden dann auch verordnete. Gegen eine dürre Ausgleichszahlung. Da erst warf die Kollegin endgültig das Handtuch. Ich war bei dieser Verhandlung zugegen und habe die Richterin anschließend zur Rede gestellt. Sie meinte unbekümmert, die Gesundheit sei doch das höchste Gut, und wer sich so auflehne, müsse auch die Konsequenzen tragen. Arbeitgeber oder ihre Manager, die auf diese Weise und mit diesen Mitteln Personalpolitik betreiben und sich ihre Attacken gegen Arbeitnehmervertreter auch noch gerichtlich bestätigen lassen können, gehören wahrscheinlich zu der Sorte Menschen, über die einst Peer Steinbrück eindeutige Worte fand. Ich zitiere aus seinem Buch »Unterm Strich«: »Das Biotop an der Spitze unserer Gesellschaft zeichnet sich durch ein asoziales und amoralisches Verhalten aus, das deshalb so ärgerlich stimmt, weil diese Schicht über alle Voraussetzungen verfügt, zum Wohl des Gemeinwesens beizutragen. Ich bin in all den Jahren als Minister und als Privatperson Maklern, Investmentbänkern, Beratern und Jungunternehmern begegnet, die von einer erschreckenden Dünkelhaftigkeit, Selbstbezogenheit und Herablassung gegenüber dem ›gemeinen Volk‹ waren. Von einer wahren Parallelwelt darf mit Blick auf diese prosperierende Oberschicht gesprochen werden, die sich in einer eigenen Wirklichkeit eingerichtet hat. Sie teilt paradoxerweise das Gefühl der Unterschicht, nicht mehr dazuzugehören, nur aus anderen Gründen.« Diese asoziale Sorte von Managern macht ihren Weg auch in die Politik hinein – und wieder hinaus. Ich denke an den ehemaligen Superminister Clement (damals SPD), ein Beispiel für politische Gewissenlosigkeit. Nicht nur, weil er als Atomkraftbefürworter im Wahlkampf ausgerechnet in Springers Welt gegen eine Parteigenossin hetzte, die als Atomkraftgegnerin die hessische Landespolitik hätte erneuern können; sondern ebenso weil er nach dem Ende seiner Amtszeit denjenigen Wirtschaftsherren zu Diensten ist (Adecco, zweitgrößter Leiharbeitskonzern, und RWE Power AG), denen er zuvor schon als politisch Verantwortlicher eng verbunden war. Wer Zeitarbeit im allergrößten Stil gesetzlich ermöglicht und dann in genau diese Branche als hochbezahlter Manager einsteigt, dem fehlt offenbar jede Scham. Ich bin gespannt, ob eine von Peer Steinbrück geführte Bundesregierung dann der von ihm anschaulich geschilderten Sorte Manager und Finanzhaie mit der erforderlichen Eindeutigkeit gegenübertreten wird. Oder dann doch wieder lieber nicht? Der Sozialdemokrat und Gesundheitsexperte Karl Lauterbach – ihn wünschte ich mir in der kommenden Regierung als Gesundheitsminister (inzwischen designierter Gesundheitsminister in Peer Steinbrücks Schattenkabinett) – hat darauf hingewiesen, wie bleischwer an jedem Politiker gleich mehrere Lobbyisten hängen, wie sie ihn umgarnen, an ihm zerren, um ihn gesellschaftlich einzubinden und noch durch horrende Vortragshonorare anzufüttern, damit sie ihre Wünsche und Aufträge bei ihm loswerden können. Wer da als Politiker nicht über eine stabile Basisanbindung verfügt – womit ich nicht die Reden auf Volksfesten und Vereinsfeiern meine, sondern das ständige Gespräch mit einem stabilen Kreis von normalen Leuten –, der kann dieser Dauerbeeinflussung nur schwer standhalten. »Sage mir, mit wem du umgehst, und ich sage dir, wer du bist« (altes Sprichwort). Aber welcher Politiker erlaubt sich noch solch zeitraubende alltägliche Begegnungen oder gar Freundschaften mit »kleinen Leuten«, die keinen unmittelbaren medialen oder sonstigen Profit abwerfen? August Bebel war Handwerker, gelernter Drechsler und später ausbildender Meister und erfindungsreicher Kleinunternehmer. Wo finden wir heute im Bundestag, von Spitzenpolitikern ganz zu schweigen, noch ehemalige Arbeiter, Handwerker, die Kassiererin aus dem Supermarkt, eine Krankenschwester, einen Bäcker, eine Friseurin, einen Polizisten, einen Paketauslieferer, kurz Volksvertreter, die für die Durchschnittsbevölkerung repräsentativ sind? Unsere heutigen Berufspolitiker sind fast alle Akademiker, ob mit oder ohne Doktortitel, seit jeher auf Karriere aus. Viele lassen sich »coachen«, um medial gut rüberzukommen. Die Werbeabteilung der Partei verlangt, daß sie nicht zu sehr anecken, keinen zu heftigen Widerspruch herausfordern, Untiefen, Fettnäpfchen und tatsächliche oder vermeintliche Tabus meiden. So wirken viele dann glattgeschliffen und austauschbar. Irgendwann braucht es den Eingriff von außen nicht mehr, die Schere im Kopf haben die meisten dann selber implantiert. Auch der Fraktionszwang, dem sie sich vielleicht schweren Herzens oder sogar gegen das eigene Gewissen unterwerfen, entpersönlicht die Volksvertreter. Wer »Visionen« habe, solle zum Psychiater gehen, sagte einst der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt, der heutzutage dem chinesischen Wirtschaftsmodell positiv gegenüber steht. Vorstellungen von einer besseren, gerechteren, demokratischeren Gesellschaft stören diejenigen, die sich gern als »Pragmatiker« darstellen. Widerstand gegen das Unmaß an Bereicherung in den Finanz-, Industrie- und Handelskonzernen gilt als gestrig, leistungsfeindlich und neidgetrieben. Und wenn den grenzenlosen Spekulanten und Profiteuren aus aktuellem Anlaß doch einmal Kritik entgegengebracht wird – anschließend dürfen dieselben Leute oder ihre Lobbyisten die Gesetze machen oder zumindest beeinflussen, mit denen sie angeblich an die Kandare gelegt werden sollten. August Bebel, an dieser Stelle nochmals hochaktuell, brachte es in seinem, wie ich finde, visionärsten Werk, »Die Frau und der Sozialismus«, auf den Punkt: »Die Kapitalmatadore der Wirtschaft und der Börse erlangen den entscheidendsten Einfluß auf das Befinden der ganzen Gesellschaft und häufen, begünstigt durch ihre mächtigen Mittel und Verbindungen, die ungeheuersten Reichtümer auf. Minister und Regierungen werden in ihren Händen zu Puppen, die agieren müssen, wie die Börsenmatadore hinter den Kulissen die Drähte ziehen. Die Staatsgewalt hat nicht die Wirtschaft und die Börse, die Börse hat die Staatsgewalt in der Hand.« Ich will hier nicht falsch verstanden werden: Es gibt Politiker in verschiedenen Parteien, die ich achte. Viele haben das Rentenalter erreicht oder schon überschritten, vielleicht sehen sie auch deshalb oft klarer als manche Jüngere, weil sie nichts mehr zu verlieren, jedenfalls keine Karriere mehr zu gewinnen haben. Wer heute den Mut hat, der nahezu feudalistischen Über-Macht des Kapitals Widerworte zu geben oder gar die Stirn zu bieten, muß mit Anfeindungen und zuweilen auch mit persönlichen Diffamierungen einer bestimmten Presse rechnen oder wird gar nicht erst zur Kenntnis genommen, sondern totgeschwiegen, »links liegengelassen«. Ich wünsche mir einen Politikertypus, der sich nicht den jeweiligen zweifelhaften, oft interessegeleiteten demoskopischen Umfragen unterwirft und nicht Gefälligkeits-Statements absondert, um in den engen Gedankenkreisen von Talkshows zu hamstern. Er sollte Tacheles reden und eindeutig Partei ergreifen. Solche Politiker, für die Nächstenliebe und Solidarität keine Fremdwörter von vorgestern sind, hätte ich gern mehr. Sie sollen die Menschenverächter hart angehen. Hier verlangt es nach Parteilichkeit und Bekennermut für die Ausgegrenzten und nach Visionen, die über das Arrangement der Tagespolitik hinausreichen. Denn das sollten wir nicht vergessen: Die positiven Realitäten von heute, wie zum Beispiel die Gleichstellung der Frau, Kinder- und Minderheitenrechte, Arbeitsschutzgesetze und Umweltschutzbestimmungen waren die oft verspotteten Visionen und Utopien von einst, und unsere heutigen Visionen und Forderungen nach Bewahrung der Natur, Entschleunigung, menschengerechten Arbeitsbedingungen, Arbeitszeitverkürzung müssen die Realitäten von morgen werden, damit es noch eine lebenswerte Zukunft geben kann. Dafür müssen wir gemeinsam mit den Menschen, die guten Willens sind, über Partei- und Standesgrenzen hinweg kämpfen. Der real existierende Kapitalismus hat seine Raubtiermentalität zum alternativlosen Modell erkoren. Es zerreißt das soziale Gefüge. In Spanien, Frankreich, Griechenland proben meist junge Menschen deshalb den Aufstand. Sie wollen das Abrutschen ihrer Gesellschaften in die Barbarei verhindern. August Bebel wäre sicher an ihrer Seite gewesen. Über die »Anwälte des Schreckens« und über die Arbeitsbedingungen in Paketdiensten, Callcentern und anderen Branchen berichtet Günter Wallraff in dem Buch »Aus der schönen neuen Welt«, das der Verlag Kiepenheuer&Witsch jetzt in einer Sonderausgabe (384 Seiten, 9,95 €) herausgebracht hat.
Erschienen in Ossietzky 15/2013 |
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