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Im Kindergarten beginnen die Kleinen, die Folgen von Handlungen für andere zu erspüren und zu berücksichtigen. »Bereits Vorschulkinder finden es moralisch falsch, jemanden zu schlagen, selbst wenn Autoritäten – einschließlich Gott – das erlauben würden« (Monika Keller: »Moralentwicklung und moralische Sozialisation«. In Horster und Oelkers, Pädagogik und Ethik, 2005). Empathie, die Fähigkeit, sich in Menschen hineinzudenken und hineinzufühlen, entwickelt jedes Kind – es sei denn, es wird vernachlässigt oder mißhandelt. Dieses Potential ist die Grundlage für Mitgefühl und Rücksichtnahme, für Kooperation und Solidarität – für alles, was Menschen verbindet. Wenn wir die Grundtatsachen kindlicher Entwicklung mit den dominierenden Vorbildern, Regeln und Imperativen in der neoliberalen Gesellschaft vergleichen, ist das Mißverhältnis erschreckend. Die vorherrschenden Ziele und Werte widersprechen kraß den empathischen Fähigkeiten von Babys und dem Gefühl von Kleinkindern für moralische Normen. Ältere Kinder und Jugendliche empfinden Scham oder Empörung, wenn »berechtigte Interessen oder Ziele eines anderen nicht einbezogen oder dessen Gefühle verletzt werden, wenn jemand sich Vorteile auf Kosten eines anderen verschafft, wenn jemand in Not ist und keine Hilfe geleistet wird, wenn Personen [...] ausgegrenzt werden« (ebd.). Herrscht aber der Markt, ist Vorteilnahme auf Kosten anderer selbstverständlich, Empathie schädlich und Ausgrenzung der Nicht-Verwertbaren unvermeidlich. Denn in einer marktradikalen Gesellschaft gelten Wettbewerb, Konkurrenz und egozentrische Durchsetzung als Grundlage für persönlichen und wirtschaftlichen Erfolg. Eltern, die ihren Kindern Einfühlsamkeit, Mitleidensfähigkeit und ein Gefühl für Gerechtigkeit nahe bringen wollen, setzen sich dem (Selbst-)Vorwurf aus, ihnen notwendige seelische Basisfähigkeiten zu versagen. Der Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer faßt eine zehn Jahre überspannende Analyse deutscher Verhältnisse zusammen: Es sei eine »rohe Bürgerlichkeit« zu beobachten, »die sich bei der Beurteilung sozialer Gruppen an den Maßstäben der kapitalistischen Nützlichkeit, der Verwertbarkeit und Effizienz orientiert und somit die Gleichwertigkeit von Menschen sowie ihre psychische wie physische Integrität antastbar macht und dabei zugleich einen Klassenkampf von oben inszeniert« (»Deutsche Zustände«, Band 10). Offensichtlich werden in einer zunehmend gespaltenen Klassengesellschaft Empathie und Mitgefühl überflüssig und hinderlich, gewinnen Gleichgültigkeit, Rücksichtslosigkeit und die Unfähigkeit zu Empathie die Oberhand. Wo die Vermarktung allgegenwärtig und oberste Norm ist, sind Rücksicht und Solidarität dysfunktional. Die Spaltung in Vermögens- und Machtbesitzer einerseits und arme Verlierer andererseits läßt das Mißverhältnis zwischen der psychosozialen Ausstattung des Menschen einerseits und der »rohen Bürgerlichkeit« andererseits anwachsen. Es bedarf gewaltiger Energie, um den Menschen die basale Fähigkeit zu Mitgefühl und Anteilnahme abzugewöhnen. Denn Empathie hat sich in der Evolution als ein überlebenswichtiger Mechanismus herausgebildet. Aber nichts davon ist zu spüren bei den Menschen in den Machtzentren, die ihren Job effektiv verrichten, indem sie Gerechtigkeit, Respekt, Empathie und Moral gnadenlos dem eigenen Interesse opfern. »Vergangenes Jahr – laut Weltbankstatistik – haben die 500 größten Privatkonzerne, [...] 52,8 Prozent des Welt-Bruttosozialproduktes, [...] kontrolliert. Die total entfesselte, sozial völlig unkontrollierte Profitmaximierung ist ihre Strategie. [...] Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren.« Als der geladene Festredner Jean Ziegler, bis 2008 UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, mit diesen kritischen Sätzen 2011 die Salzburger Festspiele eröffnen wollte, wurde er ausgeladen. Wie entwickelt sich das zu Empathie fähige Kind zum rücksichtslosen Karrieristen und Machtmenschen? Ein kleines Beispiel. Das »Zukunfts-Institut« des – laut Selbstbeschreibung – einflußreichsten Trend- und Zukunftsforschers Matthias Horx berät Unternehmen und Institutionen. Es erstellt Studien, um Trendforschung in Marketingprozesse zu implementieren, wie das Institut anpreist. Ziel: »Megatrends gewinnbringend in Unternehmen nutzen«. Für Produktentwickler soll eine neue Gruppe nutzbar gemacht werden: »Die ›kleinen‹ Konsumenten, die 6- bis 14jährigen Kids, die mehr und mehr Einfluß auf die (elterlichen) Konsummärkte nehmen.« Die »aktuellen Trends aus den Kinderzimmern« sollen das Konsumpotential erschließen und ein »erfolgreiches Kids-Marketing der Zukunft« ermöglichen. Dafür werden die Lebens- und Bedürfniswelten der Kinder untersucht; aus den Ergebnissen hat das Institut eine »Kids-Typologie« entwickelt: »Zornige Mädchen – der Gender Trouble im Kinderzimmer: Lillifee ist auf dem Weg in die Chefetage! Pappas Razzi – sponsored by Daddy: Luxus-InLiner für Glamour-Girls und Splendor-Sons. Eco-Starlets – Mini-LOHAS (Lifestyles of Health and Sustainability): Die kleinen Weltverbesserer von morgen. AvantgarKids – Pampers-Politik oder die Duplo-Despoten bestimmen, wo es lang geht. Glühwürmchen – Contest-Kids: Kinderzimmer im Rampenlicht. Schlaumeier – von neunmalklug bis Dreikäsehoch: vom Hochstuhl auf den Lehrstuhl. Krachmacher – hyperaktive Piraten und übergewichtige Cowgirls: eine Generation zwischen Ritalin-Entzug und Weight-West-Camp. Cool Kids – Chill-Hood: von super-safe zu super-lässig. Prinzessin Erbse Kinderküchenschlacht: zwischen Happy, Heavy und Healthy Meal. Facebook-Kids – fünf(hundert) Freunde: mit dem Avatar auf den Spielplatz.« (Aus: »Future Kids. Die geheimen Wünsche und Wa(h)ren Bedürfnisse der Konsumenten von morgen«, www.zukunftsinstitut.de) Hier werden Kinder nicht als Personen mit eigener Würde beschrieben, sondern zugerichtet und verwertbar gemacht. Diese verächtliche Karikatur wirkt umso mehr obszön, als die Instrumentalisierung der Kinder der Gier von Erwachsenen dient: Elementare kindliche Bedürfnisse nach Anerkennung und Zuwendung werden für Profite funktionalisiert. Das nennt man gewöhnlich Mißbrauch. Aber allem Anschein nach ist er hier kein strafwürdiges Verbrechen, sondern ein legales, anerkanntes und von Politik und Medien unterstütztes Programm. Kinder sind nur noch Konsumenten, sind verwertbar. Dabei bildet die Verwertung kindlicher Bedürfnisse nur eine Grundlage für weiterreichende Strategien, die die Deformation der emotionalen Bedürfnisse von Kindern vervollständigen. Werbung für Kinder zielt ausdrücklich auf Identifikation und nachhaltige Beeinflussung. Die Produktzielgruppe soll nicht nur attraktive Waren kennenlernen und das Bedürfnis entwickeln, an der schönen Konsumwelt teilzuhaben; sie lernt implizit Regeln der manipulativen Kommunikation. Gefühle sollen mit Waren assoziiert werden, zum Kaufen verleiten. Im gnadenlosen Wettbewerb wird nur jener Konzern überleben, der »die Kids am besten versteht, ihre emotionalen Bedürfnisse, ihre Phantasien, ihre Träume, ihre Wünsche. Dieses Wissen ist die mächtigste Waffe im Arsenal des Vermarkters, der das Herz des Kindes gewinnen will« (Del Vecchio, Creating Ever-Cool, zit. nach B. R. Barber, F. Griese (Ü.): »Consumed!«). Daß Vierjährige Werbesprüche aufsagen können, ist ein geringes Problem im Vergleich damit, was sie durch den heimlichen Lehrplan der Konsumwerbung in sich aufnehmen. Die skrupellose Manipulation kennt keine Altersgrenzen. B. R. Barber zitiert in Grieses Übersetzung das Center for a New American Dream: »Schon mit sechs Monaten können Babys innere Bilder von Firmen-Logos und Maskottchen entwickeln«, und das bedeute, daß »schon mit zwei Jahren Markentreue begründet werden kann« (ebd., S. 36). In dieser Hinsicht sind alle Kinder Verlierer im System der Manipulation und des Mißbrauchs. Und die Auswirkungen? In der Unicef-Studie »Die Frage nach dem Glück« wurde das kindliche Wohlbefinden in 29 Ländern Europas und Nordamerikas einem Vergleich unterzogen. Kinder in Deutschland fühlen sich danach alarmierend schlecht: Vergleicht man ihre Selbsteinschätzung mit der von Kindern anderer Länder, sind Kinder in 21 Staaten zufriedener als sie. Unicef zieht die Schlußfolgerung, offenbar reiche es »nicht aus, auf formale Leistungen zu schauen, wenn sich gleichzeitig eine große Zahl junger Menschen ausgeschlossen fühlt, wenn sie nicht daran glauben, aktiv an dieser Gesellschaft teilhaben zu können [...] Kinder sind Kinder, nicht Humankapital.« Dieselbe Schlußfolgerung ziehen Wilkinson und Pickett aus ihrer umfassenden Datensammlung zu Folgen der Ungleichheit in verschiedenen Ländern. Deutlich kristallisiert sich ein statistischer Zusammenhang heraus: Je größer die sozialen Unterschiede in einem Land sind, umso schlimmer die Folgen für die Gesundheit und die Lebenszufriedenheit der Menschen und den Zusammenhalt in den Gesellschaften, denn: »Wächst die Ungleichheit, dann sorgen sich die Menschen weniger um einander, es gibt weniger gleichberechtigte Beziehungen, weil jeder schauen muß, wo er bleibt; zwangsläufig sinkt auch das Niveau des Vertrauens.« (R. Wilkinson/K. Pickett, E. Peinelt/K. Binder (Ü.): »Gleichheit ist Glück«) In einer Klassengesellschaft mit wachsender sozialer Ungleichheit (vgl. H.-U. Wehler: »Die Explosion der Ungleichheit« in: Blätter 4/13) wird Kindern schon früh ein Platz in der Hierarchie zugewiesen. Starke gesellschaftliche Mechanismen sorgen dafür, daß den Benachteiligten ein Aufstieg kaum gelingen kann, daß sie ihre Lage aber als individuelles Versagen empfinden. Spätestens in der Grundschule nehmen die Kinder die Unterschiede wahr, zumal ihre Entwicklung und ihre alltäglichen Aktivitäten, Interessen und Möglichkeiten zunehmend auseinanderdriften. Kinder aus wohlhabenden Familien leben quasi in einer »Gated Community«: Sicher und beschützt, abgeschottet von der Lebenswelt der »Unterschicht«. In den nach Wohngebiet, Bildung, Freizeit und Lebensperspektive strikt getrennten Welten gibt es kaum Berührungspunkte – und damit auch keine Chance für die Entwicklung der Fähigkeit, sich in die Menschen in einer anderen Lebenslage hineinzuversetzen. Arme Kinder hingegen sind gestreßter und häufiger krank; die Armut verändert sogar ihre Gehirnstrukturen. Ihre Lebenserwartung ist um zehn Jahre geringer als die der Kinder in sozialer Sicherheit. Ihr Status ist von vornherein festgelegt wie in einem Feudalstaat. Benachteiligte Kinder, die in der sogenannten World-Vision-Studie befragt wurden, schilderten ihr Leben und ihre persönliche Befindlichkeit anders als wohlhabende. Sie sind weniger selbstsicher, ihr Selbstbild ist negativ gefärbt, sie vertrauen weder auf die eigene Meinung noch auf ihre Fähigkeit, etwas im Leben bewirken zu können. Sie neigen dazu, ihren »Mißerfolg« sich selbst zuzuschreiben. Kurz: Sie spüren, daß sie weniger wert sind. Und das Schlimmste daran ist, daß es in dieser Gesellschaft stimmt. Die Entwicklungswege verlaufen also unterschiedlich: Während Kinder aus wohlhabenden Verhältnissen zusätzlich zur emotionalen Beeinflussung früh einem Druck, manchmal auch Zwang zu Konkurrenz und Selbstmanagement unterliegen, kommen ärmere Kinder und Jugendliche gar nicht erst in Gefahr zu konkurrieren. Sie spüren von klein auf, daß sie in dem gnadenlosen Wettbewerb nicht mithalten. Und später werden sie nicht einmal als Arbeitskräfte gebraucht. Kinder im neoliberalen Kapitalismus wachsen mit dem Gefühl auf, daß sie sich auf einem Markt, im ständigen Wettbewerb mit anderen behaupten müssen. Als Jugendliche haben sich viele bereits den Zwang zur Selbstoptimierung zueigen gemacht. Unermüdlich soll der eigene Marktwert gesteigert werden, durch möglichst viele Kontakte, durch Styling von Klamotten und Körper. Wer hat die meisten Freunde auf Facebook? Viele Eltern betätigen sich in diesem Prozeß der Anpassung an die vorherrschenden Wettbewerbsregeln als Agenten des Marktes. Sie unterliegen ihm ja selbst. Und wenn Lehrpläne und Studiengänge an den Interessen des Marktes ausgerichtet sind, bleibt Eltern kaum was anderes übrig, als ihre Kinder auf Konkurrenz- und Funktionsfähigkeit am Markt auszurichten. Hier zeigt sich auch das strukturelle Versagen der Kinder- und Jugendhilfe. Trotz gesetzlicher Vorgaben, trotz aller wissenschaftlicher Belege für die systematische Benachteiligung und Schädigung der Kinder durch politische Entscheidungen, die zu ökonomischer Ungleichheit und pathogenen Bedingungen führen, hält sie an der Alleinverantwortlichkeit der Eltern fest. Die angeblich helfenden Instanzen verstärken die Vernetzung von Kinder- und Jugendhilfe, Medizin, Justiz und Polizei, arbeiten an Checklisten der Gefährdungsmerkmale. Die Probleme werden dabei individualisiert, die Schuld den Eltern zugewiesen; die strukturellen und politischen Hintergründe und Ursachen bleiben unangetastet. Für Kinder und Jugendliche entsteht durch den permanenten Wettbewerb, durch Selbstoptimierung und Vermarktung eine klassische Doublebind-Situation: Ein abhängiger Mensch, etwa ein Kind, wird in die Zwangslage gebracht, zwei gegensätzlichen Behauptungen oder Anweisungen gerecht werden zu müssen. Ist der Doublebind dauerhaft und unentrinnbar, können als Folge seelische Störungen auftreten. Genau das ist die Erfahrung, die die neoliberale Politik jungen Menschen zumutet. Was sie als Kleinkinder empfunden haben und was ihnen von der Familie und in pädagogischen Einrichtungen als Norm mitgegeben wird, steht den tatsächlichen Kräften und Gesetzen der Gesellschaft diametral entgegen. Wonach sollen sie sich richten? Wenn sie sich nach dem emotionalen Grundbedürfnis und dem vermittelten moralischen Leitbild verhalten, sind sie den realen Verhältnissen nicht gewachsen. Versuchen sie aber, diesen gerecht zu werden, müssen sie alles über Bord werfen, was sie einmal an Verbundenheit, Einfühlung oder Mitleid in sich gespürt haben. Was gilt mehr: Empathie oder Wettbewerb, Moral oder Egozentrik, Würde oder Verwertung, Mitgefühl oder Durchsetzung um jeden Preis? Die jungen Leute verlieren in jedem Fall, wofür sie sich auch entscheiden. Das Aufwachsen in einer Gesellschaft, die ihnen einerseits moralisches Handeln, andererseits ständigen Wettbewerb und umfassende Konkurrenz aufzwingt, schafft einen Konflikt, der ihnen meist nicht bewußt ist. Sie sollen ihre Leistungsfähigkeit unermüdlich steigern. Denn das Ideal ist die Erhöhung des eigenen Marktwertes. Und sie sollen es nicht als Zwang erleben – dann könnten sie sich innerlich distanzieren –, sondern sich diese Selbstoptimierung als Ideal zu eigen machen. Sie sollen sich mit den Mächten identifizieren, die sie zutiefst verächtlich behandeln und der Verwertung unterwerfen. Dem Zwang zum Wettbewerb und zur Selbstoptimierung sind nicht alle Kinder gewachsen. Die Zahl von Kindern und Jugendlichen, denen Ärzte die Diagnose ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit / Hyperaktivitätsstörung) anheften, hat in den letzten fünf Jahren um über 40 Prozent zugenommen. Fast jeder fünfte Junge bekommt dieses Etikett, wobei diejenigen aus finanzschwachen Familien überrepräsentiert sind. Wurden 1993 Kindern Psychopharmaka mit insgesamt 34 Kilogramm Methylphenidat verschrieben (aufputschender Wirkstoff, der bei Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörungen verschrieben wird), waren es im Jahr 2010 bereits 1735 Kilogramm. Die wirtschaftlich-politische Elite potenziert zudem die verächtliche Behandlung von Menschen als Ware: Finanzschwachen Familien – gequält und bedroht von Arbeitslosigkeit, Armut, Ausschluß, schlechtem Gewissen, Scham, Angst – wird durch politische und mediale Kampagnen suggeriert, sie seien selbst schuld und deshalb Versager. Die Individualisierung der Verantwortung verhindert zudem eine kollektive Gegenwehr. In einer Zeit, als es eine klassenbewußte Arbeiterschaft gab, war der kollektive, solidarische Widerstand durchaus geeignet, zwar nicht dem Elend, aber wenigstens der Depression zu entgehen. Der neoliberale Kapitalismus zerstört die Fähigkeit zu Empathie, und Solidarität ist allemal störend, wenn nicht gar eine auszumerzende Systemgefährdung. Die Instrumentalisierung und Verwertung von Kindern und ihren Eltern für Profitmaximierung widerspricht dem höchsten Wert des Grundgesetzes: der Menschenwürde. Ein Einschreiten des Bundesverfassungsgerichtes oder des Europäischen Gerichtshofes ist aber nicht zu erwarten. Mittlerweile ist nämlich – darauf weist der Referatsleiter im Sächsischen Staatsministerium, Axel Schwarz, in einem Grundsatzartikel hin – nach Art. 15 der Europäischen Dienstleistungsrichtlinie 2006/123/EG das Gemeinwohl an der Marktfreiheit zu messen und nicht etwa die Marktfreiheit am Gemeinwohl. Und auch die WTO-Abkommen gehen dem nationalen und europäischen Recht vor. Schwarz zieht die erschreckende Schlußfolgerung: »Das Gemeinwohl darf die Marktfreiheit nicht wesentlich beeinträchtigen. Wer Gemeinwohl gegen die Vorgaben der Marktfreiheit durchsetzen will, kollidiert mit dem bestehenden Recht« (Axel Schwarz: »Die Parteien, das Gemeinwohl und der oberste Wert«. In: MIP 2013). Die dominierende Norm in der real existierenden »marktkonformen Demokratie« (Angela Merkel) ist die Marktfreiheit. Ihr hat sich alles und haben sich alle unterzuordnen: die Demokratie, Grund- und Menschenrechte, die Rechtsprechung, die europäischen Verträge und die (militärisch gestützte) Außenpolitik. Und die Menschen. Die »Rationalität« des Marktes ist die Betriebswirtschaft, und der Mensch ist ein Faktor in der betriebswirtschaftlichen Kalkulation. Dabei ist die Politik Akteur und Getriebene zugleich. Marktkonformität wird immer mehr als »menschliche Natur« gesehen. Da es aber nicht »die« menschliche Natur gibt, der Mensch vielmehr Potentiale hat, die gefördert oder unterdrückt werden können, verhält er sich in einer marktdominierten Gesellschaft marktkonform: Er konkurriert, konsumiert und betreibt permanent Selbstmanagement. Die Elite schiebt die Demokratie als Ballast beiseite und unterdrückt die angeborene menschliche Fähigkeit zu Empathie: für Markt und Macht. Sensible Menschen mit Selbstachtung und Respekt vor den Bedürfnissen anderer wollen nicht in Verhältnissen leben, die ihnen lebenslangen Wettbewerb und die Bewertung anderer nach betriebswirtschaftlichen Nützlichkeitsgesichtspunkten aufzwingen, zu Lasten von Empathie und Solidarität. Um das gesellschaftliche Ziel eines »guten Lebens« auch nur ins Auge zu fassen, bedarf es einer Erneuerung von Grund auf. Der Druck dazu muß von den Menschen kommen, die Empathie und Feinfühligkeit als etwas Wertvolles bewahrt haben und erhalten wollen.
Erschienen in Ossietzky 14/2013 |
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