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Die Mädchen und Jungen lasen nacheinander jeweils einen kurzen Text von Ossietzky vor und begründeten, warum sie gerade diese Passage ausgewählt hatten: »Die Gegenwart ist ein Kampffeld«, las die Schülerin Sefgi. Ossietzky habe recht, setzte sie fort, »wenn man etwas erreichen möchte, muß man dafür kämpfen«. – Die Schülerin Eda-Miry hat dasselbe Zitat gewählt, weil sie genauso empfinde; es sei wichtig, immer an die Gegenwart zu denken: »Was passiert gerade? Und: Was muß ich jetzt tun?« – »Aber wir können nicht an das Gewissen der Welt appellieren, wenn unser eigenes Gewissen schläft.« Dafür hat sich Sena entschieden und meint, »daß man nicht immer alles gleichgültig hinnehmen sollte«. Auch nicht, wenn ein Vater Frau und Kinder schlage. Und wenn »in der Welt größere Entscheidungen anstehen«, Kernwaffenverbot oder Umweltschutz, dann »sollte man zu Demonstrationen gehen und seine Meinung öffentlich vertreten«. – Defne hat ein Zitat über den Kapitalismus gewählt, weil sie davon beeindruckt ist, wie Ossietzky ihn darstellt: »Der Kapitalismus handelt nur nach den Geboten kältester Zweckmäßigkeit. Er kennt nicht Sentimentalität, nicht Tradition. Er würgt, wenn es sein muß, schnell den Verbündeten von gestern ab und fusioniert mit dem Feind.« – Für das folgende Zitat hat sich der Schüler Mutluhan entschieden: »Die nationalsozialistische Bewegung hat eine geräuschvolle Gegenwart, aber gar keine Zukunft.« Mert Denitz schließlich wählte: »Man kann nicht kämpfen, wenn die Hosen voller sind als das Herz.« Er ist davon überzeugt, »daß man keine Angst haben, sondern kämpfen sollte«. Die SchülerInnen, die auf diese Weise Ossietzky ehrten, haben Vorfahren aus einem anderen Land: aus der Türkei. Sie besuchen die 9. Klasse der deutsch-türkischen Europaschule Carl von Ossietzky in Berlin-Kreuzberg. Die bunten Karten mit den Ossietzky-Zitaten und den Meinungen der Fünfzehnjährigen zieren zusammen mit einem Blumengebinde das Grab. So mancher ältere Friedhofsgänger verweilt nun davor und erfährt etwas über Ossietzky und junge TürkInnen in Berlin. Klaus Haupt Der Türkische Bund in Berlin-Brandenburg (TBB) ist ein Dachverband, in dem sich zur Zeit 30 Organisationen und 75 Einzelpersonen zusammengeschlossen haben. Das Berliner Ensemble für klassische türkische Musik und die Berliner Gesellschaft Türkischer Mediziner sind darin ebenso vertreten wie der FC Malatyaspor, der Schwarzmeer Kultur- und Umweltverein, der Türkische Behinderten-, Alten- und Rentnerverein, der Verein Berliner Sozialdemokraten und die Türkische Gesellschaft für soziale und politische Lösungen. Die Präambel der Satzung des Türkischen Bundes lautet: »Wir, Türkeistämmige Menschen, sind uns bewußt, daß wir die Zukunft in Berlin und in der Bundesrepublik Deutschland als gleichberechtigter Teil der Gesellschaft mitgestalten werden. Wir setzen uns in unserer vielfältigen Gesellschaft für die Akzeptanz und Wertschätzung unterschiedlicher Identitäts- und Lebensentwürfe ein. Allen Formen des Rassismus und jeglicher Diskriminierung auf Alltags-, institutioneller und struktureller Ebene treten wir entschieden entgegen. Mit dieser Vereinigung wollen wir auf rechtlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene unsere (Minderheiten-)rechte einklagen sowie Chancengleichheit und Teilhabemöglichkeiten in allen Lebensbereichen einfordern.« Der TBB hat, ganz im Sinne dieser Aufgabenstellung, der deutschen Demokratie einen großen Dienst erwiesen. Es ist zu hoffen, daß die Demokraten in Deutschland dies zu nutzen wissen. Als im Herbst 2009 Thilo Sarrazin zunächst in einem Interview mit der Zeitschrift Lettre International seine rassistischen Thesen über Türken und Araber zum Besten gab, die er später in seinem Buch »Deutschland schafft sich ab« wiederholte, zeigte ihn der TBB wegen Volksverhetzung und Beleidigung an. Die Berliner Staatsanwaltschaft stellte das Ermittlungsverfahren jedoch mit der Begründung ein, Sarrazins Thesen seien zwar zu mißbilligen, aber nicht strafbar und vom Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt. Der TBB ließ es dabei nicht bewenden. Nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges wandte er sich mit einer Beschwerde an den Antirassismus-Ausschuß der UNO. Der Ausschuß entschied am 4. April 2013 nach Anhörung beider Seiten und Prüfung der Sachlage, daß die BRD in der Tat mit der Nichtverfolgung von Sarrazins Äußerungen die Internationale Konvention zur Beseitigung aller Formen von Rassendiskriminierung (Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination, CERD) verletzt hat. Die Bedeutung dieser Entscheidung würdigte TBB-Sprecher Hilmi Kaya Turan am 18. April in einer Pressemitteilung: »Dies ist eine historische Entscheidung. Der CERD-Ausschuß hat festgestellt, daß die Äußerungen Herrn Sarrazins auf einem Gefühl rassischer Überlegenheit oder Rassenhaß beruhen und Elemente der Aufstachelung zur Rassendiskriminierung enthalten. Der CERD-Ausschuß hat festgestellt, daß trotz vorhandener gesetzlicher Bestimmungen die Umsetzung der Bestimmungen des Übereinkommens in der Bundesrepublik in der Praxis unzureichend ist. Der Ausschuß hat die Bundesrepublik aufgefordert, entsprechend zu handeln. Außerdem hat der Ausschuß implizit eine entsprechende Schulung der Staatsanwält_innen und Richter_innen empfohlen. Wir erwarten von der Bundesregierung, dem Bundestag und den Landesregierungen, daß die CERD-Empfehlungen ohne Verzögerung umgesetzt werden.« Die Bundesregierung hat bis Anfang Juli Zeit, den CERD-Ausschuß zu informieren, mit welchen Maßnahmen sie dessen Entscheidung umsetzen will. Dem TBB ist zu dem Erfolg seiner Beschwerde in dem konkreten, Sarrazin betreffenden Fall zu gratulieren. Ihm ist aber vor allem dafür zu danken, daß er uns mit der Nase darauf gestoßen hat, daß es eine solche UNO-Konvention zur Beseitigung aller Formen von Rassendiskriminierung gibt und daß die Bundesregierung sich mit der Ratifizierung dieser Konvention verpflichtet hat, deren Bestimmungen um- und durchzusetzen. Rassendiskriminierung (worunter »jede auf der Rasse, der Hautfarbe, der Abstammung, dem nationalen Ursprung oder dem Volkstum beruhende Unterscheidung« verstanden wird) fällt gemäß der Konvention nicht unter freie Meinungsäußerung, sondern ist ein strafwürdiges Verbrechen. Das ist geltendes Recht, wird aber ständig ignoriert, ebenso wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die allen Menschen, »ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand« die gleichen Rechte und Freiheiten zuspricht, darunter den »Anspruch auf gleichen Schutz gegen jede Diskriminierung, die gegen diese Erklärung verstößt, und gegen jede Aufhetzung zu einer derartigen Diskriminierung«. Der CERD-Ausschuß weist in seinem Beschluß auch auf die Artikel der Konvention hin, in denen sich die Vertragsstaaten verpflichten, jede Rassendiskriminierung zu verbieten und mit allen geeigneten Mitteln zu beenden, jede Anstachelung zur Rassendiskriminierung zu unterbinden und jeder Person wirksamen Schutz gegen derartige Angriffe zu gewährleisten. In Anwendung dieser internationalen Übereinkünfte sollte es selbstverständlich sein, daß Organisationen wie die NPD, deren gesamte Tätigkeit auf einer Programmatik der Ungleichheit und Ungleichberechtigung der Menschen beruht, illegal und zu verbieten sind – unabhängig von der Zahl der darin wirkenden V-Leute des Verfassungsschutzes und ebenso unabhängig davon, ob sie stark genug sind, um eine Gefahr für den Staat darzustellen. Es geht nicht um den Staat, sondern um die Würde des Menschen. In den Diskussionen um angebliche Voraussetzungen beziehungsweise Hindernisse für ein NPD-Verbot scheint das manchmal vergessen zu werden. Der TBB hat wirksam daran erinnert, was geltendes Recht ist und welche Instrumente zu seiner Umsetzung vorhanden sind und genutzt werden können.
Erschienen in Ossietzky 11/2013 |
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