Zur normalen Fassung

Kritik der Politik als Fortsetzung der Kritik der Politischen Ökonomie

Am 4. Mai 2003 verstarb der Berliner Politikwissenschaftler Johannes Agnoli

von Dirk Farke

Fällt heute der Name Johannes Agnoli, so assoziiert man immer noch zuerst die Schrift, die ihn bekannt gemacht hat, die ihn zum Apologeten der Außerparlamentarischen Opposition stilisierte, ein Traktat, das seit langem zu den Klassikern der Demokratietheorie zählt: Die Transformation der Demokratie (TdD). Als Agnoli 1967 diese mit dem Psychologen Peter Brückner verfasste Arbeit von gerade mal 85 Seiten vorlegte, hatte ihn die SPD, in die er 1957 eingetreten war, längst schon wieder rausgeschmissen. Denn Agnoli praktizierte Politik zeitlebens nicht nur theoretisch, als Wissenschaftler, im und für den Elfenbeinturm, sondern mischte sich ein in die öffentlichen Debatten, bezog Stellung, kritisierte die Irrationalität der Verhältnisse radikal und das heißt von der Wurzel her.

Die Kritik am BRD-Staat hielt sich zu dieser Zeit noch in den Grenzen der Frankfurter Schule und der Marburger Perspektive einer Diskrepanz zwischen Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit. Im Gegensatz dazu analysiert Agnoli in der TdD den Weg und die Methoden, mit denen sich die kapitalistischen bürgerlichen Gesellschaften zu autoritären Oligarchien entwickelten (transformieren). Wie funktionieren die Einrichtungen, Organe und Institutionen des kapitalistischen bürgerlichen Staates, um eine optimale Akkumulation des Kapitals zu gewährleisten und unbotmäßige, das heißt akkumulationswidrige Impulse einzudämmen und zu eliminieren? Die Antwort ist, mit Hilfe der "Involution" - dem Gegenteil von Evolution – einem komplexen aber politisch aktiv gestalteten Rückbildungsprozess werden zum Beispiel die Parlamente zu konterrevolutionären Institutionen transformiert mit der genauen repressiven Aufgabe, die Mehrheit der Bevölkerung von den Machtzentren des Staates fernzuhalten.

Als "kleines Meisterwerk" feierte der Historiker Sebastian Haffner damals in einer Rezension die TdD in der Zeitschrift Konkret (3/1968). Die Kluft zwischen Regierenden und Regierten, Obrigkeit und Untertan, Macht der wenigen und Ohnmacht der vielen sei in der BRD nicht geringer, als im obrigkeitsstaatlichen Deutschen Kaiserreich und das, obwohl die gesamten demokratischen Institutionen, Parlamente, Parteien, Pressefreiheit alle vorhanden wären und funktionierten. "Ein hochinteressanter, in seinem Endergebnis bereits allgemein als selbstverständlich hingenommener, in seiner inneren Mechanik aber noch fast unerforschter Vorgang. (…) Die Sache der Demokratie ist heute bereits wieder, kaum weniger als 1848 und 1918, eine revolutionäre Sache", resümierte der angesehene Publizist.

Johannes Agnoli wurde 1925 in Valle di Cadore, in den östlichen Dolomiten, geboren. 1943, nach dem Abitur, meldete er sich zur Waffen-SS, geriet bei Kriegsende in englische Gefangenschaft und wurde in Ägypten interniert. Dort leitete er Philosophiekurse und erlernte die deutsche Sprache. Nach seiner Entlassung 1948 ging er nach Deutschland und arbeitete zunächst in tiefster schwäbischer Provinz, in Bad Urach, in einem Sägewerk. Ende 1949 erhielt er die Zulassung zum Studium in Tübingen und immatrikulierte sich bei Theodor Eschenburg in den politischen Wissenschaften. 1957 erfolgte die Promotion mit einer Arbeit über Giambattista Vicos Rechtsphilosophie. 1960 wurde er Assistent bei dem Politikwissenschaftler Ferdinand Aloysius Hermens in Köln. Die Stelle verlor er jedoch bald, nachdem die FAZ berichtet hatte, Agnoli habe auf einer Tagung die Anerkennung der DDR befürwortet. Auf Vermittlung Wolfgang Abendroths wurde er Assistent bei Ossip K. Flechtheim am Berliner Otto-Suhr-Institut. Hier arbeitete er, nach seiner Habilitation 1972, bis zu seiner Emeritierung 1990 als Professor.

Zwanzig Jahre nach dem Erscheinen der TdD resümiert Agnoli, es stehe außer Frage, dass die TdD heute anders formuliert werden müsste, die Terminologie wäre anders, auch der Inhalt könnte hier und dort anders aussehen. "Man wird älter und weiser – also wäre die Argumentation stellenweise schärfer, die Kritik der Politik fiele kompromißloser und erbarmungsloser aus".

Kritik der Politik also und nicht etwa kritische Politologie, von der er sich Zeit seines Lebens distanzierte, waren sein Metier, der Inhalt seiner Publikationen und Vorträge akademischer und gesellschaftlicher Art, sein Lebenswerk.

Auch die kritische Politologie verstand sich als oppositionell, und zwar durchaus auch im radikalen Sinn, wenn sie sich zum Beispiel gegen die Remilitarisierung, gegen das KPD-Verbot und gegen die Verfolgung Andersdenkender engagierte. "Die kritische Politologie entlarvte (in der theoretischen Fortführung der Frankfurter Schule) die Trennung vom Schein der Werte und dem Schein der Macht, vom Ideal und Leben in dem parlamentarischen Verfassungsstaat: das Auseinanderklaffen von Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit, von Proklamation und Exekution". Aber genau damit blieb und bleibt sie doch immer "im System". Es läuft heraus auf das Postulat, gute Politikerinnen und Politiker braucht das Land, also eine Herrschaft, und wenn es sich nun mal nicht vermeiden lässt, auch eine kapitalistische Herrschaft, mit menschlichem Gesicht.

Im Gegensatz dazu geht es der Kritik der Politik, wie Agnoli sie ein Leben lang praktizierte, nicht darum, "die Verfälschung der Norm durch die Politik aufzuzeigen", sondern darum, "die politische Norm zur Diskussion und zur Destruktion zu stellen". Sie interessiert sich nicht für die Frage, ob die Institutionen des Staates reformbedürftig sind, – ob etwa die Fragestunde des Bundestages "volksnäher" gestaltet werden sollte – sondern "sie stellt die Frage nach dem herrschaftssichernden Charakter aller Reformen und vergißt also die Frage nach dem cui bono (wem nützt das – d. A.) nicht und nach der Zweckrationalität irrationalen Verhaltens der politischen Macht". Die Kategorie der Kritik, so Agnoli, könne nur inhaltlich werden, wenn sie mit dem Ziel der Emanzipation zusammenfällt, das heißt im Agnolischen Sinn, mit der Abschaffung der Herrschaft und nicht etwa der Verteidigung der Menschenrechte, die wiederum Herrschaft voraussetzt.

Besonders letztere Formulierung hat in anarchistischen Kreisen dazu geführt, Agnoli als einen der ihren anzusehen. Aber diese Interpretation greift zu kurz, ist unvollständig und lässt wichtige und wesentliche emanzipatorische Ansätze der Kritik der Politik außer acht. Denn keine materialistische Staats- und Politikkritik kann existieren ohne Bezug auf die Marxsche Kritik der Politischen Ökonomie und Agnoli hat die Kritik der Politik immer wieder explizit als Fortsetzung der Kritik der Politischen Ökonomie bezeichnet.

Ausgehend von der Prämisse, dass die Politik kapitalistisch sich reproduzierender Gesellschaften nicht die Ökonomie zum Wohle der Menschen zügelt, sondern ihre Aufgabe und ihre Existenz allein darin sieht, die fetischistische Verwertung des Werts aufrechtzuerhalten, knüpft Agnoli mit der Kritik der Politik an der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie an, führt sie fort, seiner endgültigen und finalen Bestimmung gemäß. Es ist unbestritten, dass sich Marx in seinem Hauptwerk, wenn überhaupt, nur beiläufig mit dem Staat befasste. Eine Untersuchung des Staats des Kapitals hatte Marx sich ausdrücklich vorbehalten. Wegen eines natürlichen Vorganges, dem seines Ablebens, kam er jedoch nicht mehr dazu.

Genau so unrichtig es ist, Agnoli als Anarchisten zu bezeichnen, genau so falsch wäre es ihn in den großen Topf der marxistischen Orthodoxie, der Marxisten-Leninisten zu stecken. Agnoli analysiert historisch korrekt, wenn er bemerkt, dass die Leninsche Partei zur Machtergreifung geführt hat, zu extremen Veränderungen ökonomischer, gesellschaftlicher und institutioneller Art. Dass sie nicht gescheitert ist "als Programm, Instanz und Strategie der Eroberung der Macht und der Errichtung eines revolutionären Machtapparates". Darin sei sie sogar ziemlich erfolgreich gewesen. "Aber sie ist gescheitert in der Perspektive, auf die es geschichtlich ankommt: als Projekt der Massenemanzipation".

Nicht Anarchist, nicht Marxist-Leninist, aber wie lässt sich dieser große, ironische – der "seine" Studierenden in den Lehrveranstaltungen auch gern mit Waffenbruder und -schwester, der deutschen Übersetzung von Kommilitonin und Kommilitone, anredete – Reproduzent der Wirklichkeit im Denken (Marx) denn nun einklassieren?

Agnoli selbst hat von sich behauptet, in einem Punkt immer Marxist geblieben zu seien: "Daß nämlich die Beziehung einer Emanzipationsbewegung zur Politik keine partizipative, sondern eine destruktive seien soll". "Maulwurfsarbeit" gelte es zu leisten, mit den Methoden des "Marxismus-Agnolismus" um den Staat des Kapitals zu zerstören, weil dies der mutmaßlich einzige Weg zur Emanzipation darstelle. In seinen letzten Lebensjahren hat sich seine Position den sogenannten Autonomen angenähert, also nicht unbedingt nach Organisationsformen zu suchen, sondern sich um Inhalte herum zu organisieren. Vor allem aber hat sich Agnoli, in Anlehnung an Kant, immer als jemanden bezeichnet, "der sich seines eigenen Verstandes bedient". Er verstarb zu Beginn seines 79. Lebensjahres im toskanischen Lucca, in das er sich nach seiner Emeritierung zurückgezogen hatte.

Materialsammlung

Zitate (chronologisch)

(...)"Gelingt es dabei tatsächlich, in der Orientierung der Bevölkerung und in der politischen, legislativen wie exekutiven Tätigkeit den Antagonismus auszuschalten und gerade durch die Vielheit der Parteien die Friedensintegration zu erreichen, so wird das wirkliche Gesicht der Volksparteien des modernen Verfassungsstaates offenbar: Sie bilden die plurale Fassung einer Einheitspartei – plural in der Methode des Herrschens, einheitlich als Träger der staatlichen Herrschaft gegenüber der Bevölkerung, einheitlich vor allem in der Funktion, die die Volksparteien innerhalb der westlichen Gesellschaft übernehmen".(...) (TdD, 1967)

"Die BRD ist kein faschistischer Staat, aber die Kerntendenz der Abwehr gegen Emanzipation in der Bundesrepublik, im bürgerlichen Staat, ist faschistisch. Das heißt konkreter formuliert und auch historischer: Der Umschlag in den offenen Faschismus ist dem bürgerlichen Staat immanent". (Mai 1968)

"Es bleibt für viele eine Utopie, daß eines Tags die Form Staat – gewiß nicht auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen, wohl aber in das Germanische Museum eingebracht wird. "Wie die Axt" – wie schon Engels sagte. Damit aber dieser Tag kein utopischer bleibt, und er uns die mutmaßlich einzige Möglichkeit der Emanzipation bringt, müssen wir zunächst einmal die Form Partei ins Museum stecken". (1980)

"Marx hat in einem Punkt leider Recht behalten gegenüber Bakunin: Die Institutionen sind stärker als der Wille des Einzelnen. Die Institutionen entwickeln eine eigene Dynamik und Klebrigkeit. Wenn man bedenkt, daß die Grünen als Fundamentalopposition in den Bundestag kamen und sich jetzt als prinzipiell koalitionsfähig bezeichnen, merkt man, wie die Institution die Menschen einkassiert". (1984 !!)
"Wenn in meinen Seminaren die Marxistische Gruppe auftaucht und sagt: "Johannes, was Du sagst stimmt nicht mit Marx überein", dann antworte ich: "um so schlimmer für Marx". (1984)
"...nehmen wir unseren Staat, der sich als Demokratie bezeichnet. Wo ist hier denn eine Demokratie"? (1984)
"Die Utopie der Gesellschaft der Freien und Gleichen kann nicht als Gesetzesvorlage, weder oppositioneller noch regierender Fraktionen, in den Bundestag eingebracht werden". (1986)

"Aus der Erkenntnis, daß der Kapitalismus das Leben zerstört und sein Staat die Zerstörung institutionalisiert, kann der Schritt ins Emanzipatorische nicht unmittelbar vollzogen, noch die politische Zwangsanstalt negiert werden. Es muß allerhand mit materiellen Interessen und mit Bedürfnissen vermittelt werden, bis die Massen von sich aus das rationale Ziel der eigenen Befreiung von der Irrationalität einer blinden, teils auch bequemen Bevormundung und Ausbeutung vorziehen. (1986)
"Der kategorische Imperativ (oder Marx als Kantianer) gilt nach wie vor: es sind alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist." (1986)

"Unter dem schönen Schein freiheitlich-demokratischer Wertordnungen verbarg sich die schlichte Anleitung, wie politische Macht zu erobern, zu handhaben und zu behalten sei." (1987)

"Um die Stimmen der Wähler wird bekanntlich geworben – wie in der Marktwirtschaft um den Kunden. Der Kunde aber, als angeworbener Käufer einer Ware, ist politikökonomisch immer Mittel, nie Zweck. (…) Selbst ein entschiedener Apologet der kapitalistischen Produktions- und Distributionsweise käme sich lächerlich vor, sähe er im Ziel der Werbung (im Adressaten auf dem Markt) den Zweck des Produzierens. (1987)

"...meines Erachtens ist die einzig richtige Aufgabe politikwissenschaftlicher Forschung heute, subversive Wissenschaft zu betreiben. Viel mehr bleibt nicht übrig angesichts des allgemeinen politischen Rückflusses der Linken". (1988)

"...das, was ich mache, ist nicht so prüfungsrelevant, denn es ist unmöglich, daß etwa bei einem Staatsexamen der Student auf eine Frage hin eine von mir vorgeschlagene Antwort gibt – dann wäre er schon durchgefallen". (1988)

"Die Kritik der Politik stellt (…) die Frage nach dem herrschaftssichernden Charakter aller Reformen und vergißt also die Frage nach dem cui bono nicht und nach der Zweckrationalität irrationalen Verhaltens der politischen Macht. Im Mittelpunkt steht (…) die Anklage gegen das Prinzip, daß Herrschaft naturnotwendig und höchstens zu bändigen sei (…). Die Mitteilung also, die da zu machen ist seitens der politischen Wissenschaft, bezieht sich nicht auf das gestörte Verhältnis der Politik zur Verfassung. Sie zeigt vielmehr an, daß die Verfassung die Regelung eines gestörten gesellschaftlichen Verhältnisses ist". (1989)

"In der Fortsetzung der Kritik der Politischen Ökonomie in die Kritik der Politik übersetzt sich das Ökonomische ins Politische: der Wähler ist nach der in die Verfassungsnorm gegossenen Wirklichkeit als Stimme nur Mittel zur Machtverteilung und Machtgewinnung der Parteien. Derart gerinnt das Wahlrecht – doch zur baren Münze". (1989)

"Nicht nur der Markt weitet sich aus, sondern auch die Aporie: im Denken, Tun, im Zusammenleben. Der Emanzipation stehen harte Bedingungen und schwere Zeiten bevor. Und die mühselige Arbeit des Maulwurfs. In der Aporie müssen die Maulwürfe einen entgegengesetzten Orientierungspunkt haben. Hier gilt es, die Utopie, die viel geschmähte, von der Assoziation der Freien und Gleichen aus der Verbotszone zu befreien, in die interessierte Ideologen der Ideenlosigkeit, die Vertreter der zweckrationalen Vernunftlosigkeit sie gedrängt haben". (2000)

Literatur von und über J. Agnoli:

Johannes Agnoli: Die Transformation der Demokratie und verwandte Schriften. Konkret Literatur Verlag 2012

Barbara Görres Agnoli: Johannes Agnoli. Eine biographische Skizze. Konkret Literatur Verlag 2004

Johannes Agnoli: Der Staat des Kapitals. Gesammelte Schriften Band 2. ça ira Verlag Freiburg 1995

Johannes Agnoli: Subversive Theorie. Gesammelte Schriften Band 3. ça ira Verlag Freiburg 1996

Johannes Agnoli: Faschismus ohne Revision. Gesammelte Schriften Band 4. ça ira Verlag Freiburg 1997

Johannes Agnoli: 1968 Und die Folgen. Gesammelte Schriften Band 5. ça ira Verlag Freiburg 1998

Johannes Agnoli: Politik Und Geschichte. Gesammelte Schriften Band 6. ça ira Verlag Freiburg 2001

E. Mandel, J. Agnoli: Offener Marxismus. Ein Gespräch über Dogmen, Orthodoxie und die Häresie der Realität. Campus Verlag Frankfurt a. M. 1980

Agnoli im Internet

www.blogsport.eu/2013/02/27/das-negative-potential-Johannes-Agnoli-im-gespräch/

www.veoh.com/watch/v8139800W94yCeH5

Zur normalen Fassung


https://sopos.org/aufsaetze/51890d370ac9a/1.phtml

sopos 5/2013