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Gesättigte Märkte zur Mitte der 1970er Jahre im Gefolge eines abgeschlossenen europäischen Wiederaufbaus bei gleichzeitig für Unternehmerinteressen teurer, sozialpartnerschaftlich ausgerichteter Beteiligung der ArbeiterInnen ließen nur zwei Strategien zur kapitalistischen Krisenüberwindung offen: technologische und betriebswirtschaftliche Rationalisierung sowie Markterweiterung. Die Strukturschwäche der plangelenkten Staatswirtschaften, die 1989/91 zusammenbrachen, bot mit einem Schlag ein weites Expansionsfeld. Zehntausende Betriebe, landwirtschaftliche Flächen, Immobilien und ein schwach entwickelter Dienstleistungssektor standen neuen Eigentümern offen. Das Zauberwort dieser größten sozioökonomischen Transformation des 20. Jahrhunderts war ein lateinisches: Privatisierung. Im klassischen Lateinwörterbuch wird das Verb »privare« mit »berauben« und »von etwas befreien« übersetzt. Und tatsächlich, der Raub am ehemaligen Volkseigentum befreite die neuen Eigner – zumindest für zwei Jahrzehnte – von ihren Ängsten und Sorgen. Überproduziertes fand neue Märkte, billige Arbeitskraft trug zur Kostensenkung bei. Die Osterweiterung entpuppte sich als Eldorado für den schnellen, privaten Profit und ließ gleichzeitig die Volkswirtschaften ausgedörrt zurück. Die Dynamik der Privatisierung speiste sich aus einem Mix aus anlage- und märktesuchendem Kapital aus Westeuropa, Nordamerika und Ostasien, blanker Not und Kapitalmangel in den Ländern des ehemaligen Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und einem gehörigem Schuß Marktapologetik einer für zwei Generationen wirtschaftlich enteignet und politisch entmachtet gewesenen Bourgeoisie vor Ort. Diese simulierte in unheiliger Allianz mit gewendeten Funktionären und Kombinatsdirektoren einen gesellschaftlichen Konsens die Wende betreffend, den es so nicht gab. Eine breit angelegte Umfrage der Paul-Lazarsfeld-Gesellschaft aus dem Jahr 1998, in der nach der Einstellung zum Kommunismus gefragt wurde, ergab eine positive Zustimmung zwischen 30 Prozent (in Tschechien) und 58 Prozent (in Ungarn). Grundsätzlich existierten fünf Arten der Privatisierung. In der zerfallenden Tschechoslowakei wurden zwischen 1990 und 1992 alle parallel zueinander betrieben: die Treuhandprivatisierung, also der Verkauf über eine staatliche Stelle; die Restitution an frühere Eigentümer oder deren Erben; die sogenannte Coupon-Privatisierung, bei der allgemein ausgegebene Coupons in einem komplizierten Verfahren in »Volks«-Aktien umgewandelt wurden, die dann Teilhabe an bestimmten Betrieben bedeuteten; die Versteigerung meist kleinerer Unternehmen oder Immobilien und die Übergabe zum Beispiel von staatlichen oder kommunalen Wohnungen an die Nutzer beziehungsweise Mieter. Die ersten vier kamen sich – so sie gleichzeitig angewendet wurden – regelmäßig in die Quere. Oft tauchten noch während einer ersten Bieterrunde alte Eigentümer auf, oder »Volks«-Aktien stießen auf vormalige Besitzer, ganz zu schweigen von Machenschaften schnell gebildeter Fonds, die hohe Renditen für Coupon-Ankäufe versprachen, diese aber nur für sich selbst realisierten. Entscheidungen staatlicher Treuhandgesellschaften waren oft von geopolitischer Tragweite. Ein Vergleich der zwei größten osteuropäischen Automobilhersteller mag dies verdeutlichen. In Tschechien ging es um ein Kern- und Herzstück der Volkswirtschaft, die Škoda-Werke in Mladá Boleslav. Volkwagen und Renault ritterten um den Zuschlag. Als lokale Mentoren agierten Václav Klaus und Václav Havel, der erste für das deutsche, der zweite – familienhistorisch bedingt – für das französische Kapital. Volkswagen erhielt den Zuschlag und wurde in der Folge zum führenden Autohersteller in Osteuropa mit Werken in Tschechien und der Slowakei sowie Motorenwerken in Ungarn und Polen. Gänzlich anders verlief die Wende-Geschichte für den weltgrößten Bushersteller, das ungarische Kombinat Ikarus. »Too big to fail« zählte hier nicht. Seine Tauschgeschäfte mit Rußland und anderen osteuropäischen und arabischen Staaten waren dem Internationalen Währungsfonds ein Dorn im Auge, weil sie von ihm nicht kontrollierbar waren. Eine Dollarisierung scheiterte an der Größe, die westlichen Bushersteller waren froh, einen Konkurrenten loszuwerden. Ikarus hat die Transformation nicht überlebt. »Die Ostöffnung war ein galaktisches Fenster für Österreich und die Raiffeisen Zentralbank«, vermerkte deren Boss Herbert Stepic im Jahr 2005 und sprach damit für die gesamte Branche. Im Bankensektor äußerte sich die Privatisierung besonders drastisch. 70 bis 80 Prozent (berechnet auf Basis der Bilanzsumme) der tschechischen und slowakischen Banken befinden sich in ausländischer Hand, im Baltikum sind es über 90 Prozent. UniCredit, Raiffeisen, Société Générale, Erste Bank ... heißen die großen Profiteure dieser Entwicklung. Ähnliches spielt sich im Telekomsektor, bei den Einzelhandelsketten und in der Energiebranche ab. Wie vergleichsweise wenig einheimische Eigentümer vom großen Raubzug in der Zeit der Transformation profitieren konnten, zeigte sich ironischer Weise in Ungarn, als Fidesz-Chef Viktor Orbán 2010 die Einführung einer Sondersteuer für vier wichtige Branchen verkündete. Brüssel war schockiert und protestierte, auch deshalb, weil sich diese Steuer nur gegen ausländisches Kapital richten würde. Kein Wunder, einheimisches war in den betroffenen Sektoren kaum vertreten. Wer die Verlierer dieses Prozesses sucht, braucht sich nur Arbeitslosenstatistiken und Lohnhöhen anzusehen und davon Kenntnis zu nehmen, wie die Wende mit einer großen Enteignungswelle in den frühen 1990er Jahren ihren Anfang nahm. Damals ließen Hyperinflationen in dreistelliger Höhe die kommunistischen Versprechen auf späteren Konsum – nichts anderes waren ja die Sparguthaben – in wenigen Wochen platzen. In Polen wütete diese »Enteignung der Besitzlosen« mit einer Jahresinflationsrate von 600 Prozent besonders kräftig, aber auch die 60prozentige Inflationsrate der Tschechoslowakei im Jahr 1991 räumte Erspartes im Nu hinweg. Aktuelle Durchschnittslöhne zwischen 350 und 800 Euro haben Hunderttausende in die private Schuldenfalle getrieben und sie damit auf perfide Art die Auswirkungen der Privatisierung spüren lassen. Von Hannes Hofbauer ist zuletzt gemeinsam mit David Noack das Buch »Slowakei. Der mühsame Weg nach Westen« erschienen (Promedia Verlag 2012).
Erschienen in Ossietzky 10/2013 |
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