von Stefan Janson
Björn Brennecke beschreibt in seinem Aufsatz "Seit' an Seit' – Gewerkschaften und SPD-Linke" ihre Geschichte als die einer Beziehung und lotet die aktuellen Möglichkeiten der Parteilinken in der SPD aus. Ich frage zunächst nach einer Begründung für den von Brennecke dargestellten eingeschränkten Aktionsradius der heutigen SPD-Linken. Zu fragen ist zunächst nach den historischen Kontinuitäten, die Brennecke in seiner Darstellung aufweist. Sind diese Kontinuitäten für eine progressive Strategie nützlich, sind sie wegen der erlittenen Traditionsabbrüche tragfähig? Danach frage ich, welche Milieus in der SPD-Linken und den Gewerkschaften repräsentiert sind und ob es hier mentale und habituelle Überschneidungen gibt, die ein politisches Bündnis wahrscheinlich machen. Und schließlich: welchen Stellenwert hat ein Bündnis von SPD-Linker mit Gewerkschaften für eine sozialistische Transformationsstrategie?
Dazu folgende Thesen:
1) Die historische Spaltung zwischen staatsskeptischer libertärer und staatsaffiner sozialdemokratischer Fraktion ging in Deutschland zu Lasten ersterer aus: nach dem Ausschluss der "Jungen" und der "Lokalisten" erhoffte sich die organisierte Arbeiterbewegung, und auch ihr linker Flügel, Befreiung über und durch die Eroberung der Staatsgewalt. Wie allerdings eine millionenstarke Bewegung auf die Idee kommen konnte, die fremden Kommandohöhen in Wirtschaft, Verwaltung und Justiz ohne eigenes, in den erforderlichen Fertigkeiten geschultes Personal einnehmen zu können, das bleibt ihr ewiges Geheimnis und zeigt den ganzen Illusionismus dieser politischen Strategie. Nebenbei: als ebenso illusionär erwies sich aber auch die andere Variante sozialdemokratischer Politik: entgegen den hochtrabenden Ankündigungen in Lenins "Staat und Revolution" wurde von den Bolschewiki der alte zaristische Staatsapparat nicht etwa zerschlagen – sondern unter Wechsel der Türschilder und der führenden Köpfe schlicht übernommen. Sozialdemokratische Linke ist also überwiegend eine etatistisch (auf die Übernahme der Staatsgewalt) orientierte Linke, die damit als Teil der Sozialdemokratie in der Tradition des marxistischen Mehrheitsflügel der Arbeiterbewegung steht.
2) Der Logik einer wachsenden sozialen und mentalen Binnendifferenzierung der Arbeiterklasse, ihrer wachsenden, zunächst bloß "negativen Integration", die schon von Bernstein soziologisch und später von Otto Rühle psychologisch sehr treffend beobachtet und belegt wurde, hatte die sozialdemokratische Linke wenig entgegenzusetzen. Der sozialdemokratischen Linken fehlt aber heute auch aus ganz praktischen Gründen ein nüchtern kritischer Blick auf die real existierende Bürokratie und ihr Verhältnis zur Zivilgesellschaft: das soziale Feld, in dem sich die sozialdemokratische Linke bewegt, findet sich seit der wohlfahrtsstaatlichen Ausweitung sozialer Transferleistungen in der Bundesrepublik mit und nach der Großen Koalition ganz überwiegend in Dienstleistungsberufen im öffentlichen Dienst. Diese Fraktionen der neuen Dienstleistungsberufe leben und arbeiten in anderen Milieuzusammenhängen als die klassische Arbeiterschaft in der Produktion. Sozialdemokratische Linke ist also eine Linke in den Staatsapparaten, wenngleich in einer ihrer Fraktionen wohl ihr aufgeklärter Teil.
3) Der reale Boden gewerkschaftlicher Tarif- und Sozialpolitik war nie darauf gerichtet, das System des Kapitalismus zu überwinden. Die Affinität bzw. antagonistische Kooperation zwischen "big industry" und "big labour" ist eine der Kontinuitätslinien, die sich – von den Kampfansagen der Industrieellenverbände, die zum Ende der Weimarer Republik führten, abgesehen – von den Burgfriedensabkommen über die Zentrale Arbeitsgemeinschaft 1918 usw. über die Konzertierte Aktion in den 60er Jahren bis zum Konjunkturpaket 2008 bis heute beobachten lässt. Die Gewerkschaften haben den Widerstand gegen die Aufrüstung aufgegeben, sie haben den Widerstand gegen die Notstandsgesetze aufgegeben, sie haben den Boden der sozialen Marktwirtschaft als ihr Terrain affirmiert, sie haben den Widerstand gegen die Hartz-Gesetze aufgegeben. Das zumindest zweideutige Agieren der Gewerkschaften gerade wieder bei der Energiepolitik, bei der die Postulate des Klimaschutzes bzw. der Konversion zu umwelt- und ressourcenschonender Produktion allzu oft auf der Ebene der Programmatik be- und verlassen werden, insbesondere von der IG BCE, real aber auch von der IG Metall zeigt dies erneut. Die wohltemperierten Kongresse zur Wirtschaftsdemokratie und "Alternativen" durchbrechen diese Kontinuitäten nicht. Die langwährende Hoffnung in der Linken, in den Gewerkschaften eine potenziell systemüberwindende Kraft zu haben, ist so oft, so lange und so tief enttäuscht worden, dass es nach über 100 Jahren wohl angebracht ist, auch von dieser Seite her nüchtern auf die Tragfähigkeit dieser Seite des von Brennecke anscheinend letztlich erhofften Bündnisses zu schauen.
4) Die Schwerkraft der gewerkschaftlichen Traditionen wuchs sich auf dem Boden einer historisch bedingten Affinität zu einem szientifistischen Weltbild aus, in dem jede technische und industrielle Entwicklung quasi klassenneutral zur naturnotwendigen Voraussetzung des kommenden Zukunftsstaates wurde. Alternativen wurden entweder nicht gedacht oder gar bekämpft. Die Neigung der Mehrheit der Gewerkschaftlichen wird daher faktisch immer eher dahin gehen, mit dem prokapitalistischen, industrialistischen Mehrheitsflügel der Sozialdemokratie zu gehen, wie aktuell bei den Konflikten um "Stuttgart 21" und zuvor bei den Konflikten um den Frankfurter Flughafen zu besichtigen war.
5) Brenneckes Anmerkungen zur Godesberger Wende der SPD sehe ich kritisch. In der Retrospektive gesehen: War es wirklich realistisch, wie Abendroth und andere eine weitere Orientierung an einer Arbeiterbewegung zu fordern, die sich in den historischen Krisen des 20. Jahrhunderts – also den Zeiten ihrer größten Macht – den Anforderungen (Faschismus, Stalinismus) nur in winzig kleinen Minderheiten gewachsen gezeigt hatte? Das Godesberger Programm 1959 hat doch in gewisser Weise viel realistischer als die Alternativentwürfe abgebildet, dass die Lohnabhängigen eben keine einheitliche Mentalität, keine systemtranszendierenden Interessen, geschweige denn eine alternative Vorstellung von einer "neuen Gesellschaft" jenseits des Kapitalismus hatten. Selbst der ethische Sozialismus eines Willi Eichler und Co. waren doch insofern produktiv, weil sie die alten deterministischen Vorstellungen vom "den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ox noch Esel auf" über Bord warfen und eine neue Gesellschaft zum Resultat eigener Anstrengungen, zur "permanenten Aufgabe" machten.
6) Im Ergebnis erwarte ich von einem Bündnis von sozialdemokratischer Linken und Gewerkschaften wenig bis nichts. Seit "1968" zeigt sich das Verhältnis von gesellschaftlicher und sozialdemokratischer Linken darin: je weniger gesellschaftliche Linke um so weniger sozialdemokratische Linke. Die Aufgabe der letzteren scheint mir seit diesem Zeitpunkt auch lediglich zu sein, als Transmissionsriemen für neue gesellschaftliche Fragestellungen und Kritik in die Sozialdemokratie hinein zu fungieren. Dagegen war sie eher wenig mit den Gewerkschaften verbandelt – der Gewerkschaftsrat der SPD war ja immer noch Pro-AKW als Harrisburg längst wieder heruntergekühlt worden war – übrigens auch die ÖTV eines Frank Bsirske! Insoweit war die SPD-Linke gerade wegen ihrer fehlenden gewerkschaftlichen Orientierung wahrscheinlich fortschrittlicher als der DGB – obwohl mit Otto Brenners IG Metall-Kongress zur "Qualität des Lebens" 1972 für eine kurze historische Zeitspanne die Möglichkeit eines fortschrittlichen Bündnisses gegeben war. Soweit diese alten, aber immer noch aktuellen Fragestellungen eines alten dissidenten Arbeiteraktivisten und Widerstandskämpfers nun von der gesellschaftlichen Linken vorangetrieben werden, haben sozialdemokratische Linke und Gewerkschaften dabei vielleicht eine (Gast-)Rolle zu spielen.
https://sopos.org/aufsaetze/51753778a1fd5/1.phtml
sopos 4/2013