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Für Kisseler hingegen bleibt Vattenfall »die Firma, die uns wieder ein großes Frühjahrsfestival der Literatur schenkt«. So jubelte die Senatorin Mitte März und machte dem Vattenfall-Chef einmal mehr den Hof, damit dieser sein – vom Hamburger Senat mitfinanziertes – Firmenevent »Vattenfall-Lesetage« im Rathaus präsentiert. Kisselers Behörde ist der letzte größere Verbündete eines »inakzeptablen Kulturmißbrauchs« – wie der Begründer des Alternativen Nobelpreises, Jakob von Uexküll, über »das Greenwashingspektakel Vattenfall-Lesetage« zürnt. Außer der treuen Senatorin haben sich nahezu sämtliche Partner früherer Tage vom Atomkonzern verabschiedet: die größte Buchhandelskette Heymann, das Hamburger Kulturzentrum Kampnagel, die Öffentlichen Bücherhallen, der NDR – alle kündigten die Zusammenarbeit mit dem Energiekonzern Vattenfall, der mit Bränden und Leckagen in seinen Atommeilern sein Image ramponiert hat, das mit Literatur und Kultur wieder aufgemöbelt werden soll. Der Stromkonzern will inzwischen von der Bundesrepublik den Verlust durch den Atomausstieg ersetzt bekommen – wegen der endgültigen Abschaltung seiner beiden Atommeiler Krümmel und Brunsbüttel vor fast genau zwei Jahren. Und reichte Klage auf Schadensersatz in Höhe von 3,7 Milliarden Euro ein – ein Verfahren, das demokratische Entscheidungsprozesse unterminieren könnte. Vor allem der NDR, der direkt vor dem Fukushima-GAU 2011 zusätzlich zum Hörfunkprogramm noch mit seiner größten regionalen Fernsehsendung »Medienpartner« Vattenfalls geworden war, hatte sich herbe Kritik anhören müssen. Günter Grass schnaubte: »Der Lobbyismus kennt keine Grenzen. Eine Anstalt des öffentlichen Rechts hat sich in eine schmutzige Partnerschaft mit Vattenfall eingelassen.« Nach dieser und weiteren Attacken blieb den öffentlich-rechtlichen Sympathisanten des Atomkonzerns nicht viel anderes, als Vattenfall mit seinem literarischen Firmenfest allein zu lassen. Offiziell. Doch im Stillen machen die Nordfunker weiter was sie können – zugunsten der Atomstromer: Sie schaffen gespenstische Stille im Äther, indem sie das von einem breiten Bündnis aus Stiftungen, Privatmäzenen und Kulturinstitutionen organisierte, prominent besetzte und unabhängige Kulturfestival »Lesen ohne Atomstrom« weitgehend ignorieren. Dieses hatte sich als Reaktion auf das literarische Vattenfall-Greenwashing im Jahr 2011 gegründet. Selbst von den mehr als 10.000 kostenlosen Plätzen, die »Lesen ohne Atomstrom« in exklusiven Kulturveranstaltungen anbietet, erfuhren NDR-Hörer und -Zuschauer vorab bislang so gut wie nichts. Egal, ob in den letzten Jahren Roger Willemsen und Dieter Hildebrandt, Konstantin Wecker und Frank Schätzing in den größten Theatern aufgetreten sind, oder Günter Grass und Nina Hagen vor dem Vattenfall-Atomreaktor zu sehen und zu hören waren. Oder ob die Kultserie »Teufelskicker« für die kleinen Leser im HSV-Stadion als Live-Hörspiel Weltpremiere feierte – und jedes Kind ohne Eintrittskosten dabei sein konnte. Darüber seine Hörer und Zuschauer zu informieren, das erachtet der NDR offenbar nicht für nötig. Lauscht man dieser Tage den Hamburger NDR-Sendern – die nach ausführlichen Nachrichten über das »Jubiläum der Vattenfall-Lesetage« maximal lapidar hinzufügen, daß auch »Lesen ohne Atomstrom« stattfindet –, so gilt das absehbar auch für Jean Ziegler und Hannes Jaenicke, Elke Heidenreich und Wolfgang Niedecken, Ben Becker, Joachim Król und viele mehr, die Ende April eine Woche lang auf Hamburgs attraktivsten Bühnen auftreten. In drei Jahren werden so an die hundert Stars der Kulturszene gegen den »Kulturmißbrauch Vattenfalls« gelesen haben – ohne daß der NDR seinen Hörern und Zuschauern mitteilt, wann und wo diese gratis dabei sein können. »Ich bitte um Verständnis, daß wir uns die redaktionelle Entscheidung vorbehalten, ob und wann wir auf einzelne Veranstaltungen eingehen«, schreibt Landesfunkhausdirektorin Sabine Rossbach. »Zu regional« war der Fernsehredaktion des NDR-»Kulturjournal« etwa das Angebot eines exklusiven Interviews mit Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass vor dessen Auftritt bei »Lesen ohne Atomstrom«. Das sei »für den Zuschauer in Braunschweig oder Schwerin zu weit weg«. »Das hat schon was von ›Aktueller Kamera‹ der DDR«, so ein NDR-Redakteur fassungslos. Aber warum diese öffentlich-rechtliche Informationsvorenthaltung? Vielleicht weil die Beziehungen der NDR-Verantwortlichen zu den Handelnden bei Vattenfall unverändert intim sind, auch ohne offizielle »Medienpartnerschaft«: So ist die Agentur »Heinekomm«, die die »Vattenfall-Lesetage« seit zehn Jahren für den Atomkonzern organisiert, auch die NDR-Eventagentur. »Heinekomm« organisiert ausgerechnet die »Lesetournee: Der Norden liest« für das NDR-»Kulturjournal« – jene Redaktion, die den »Regional«-Dichter Grass den Braunschweigern und Schwerinern nicht zumuten mag. Zuvor arrangierte »Heinekomm« für den NDR die Reihe »Lieblingsplätze: Eine Bank für den Norden« oder die »Sommertour-Expeditionen ins Tierreich«. Und Hamburgs Hörfunkchefin Rossbach – die sich vorbehält, über welche Veranstaltung sie ihre Hörer informiert – nimmt höchstselbst Vattenfall-Kuratorin Barbara Heine ins Programm: »Seit 2009 stellt Barbara Heine auf NDR 90,3 (Rossbachs Radiowelle; R.G.) ihre Lieblingsbücher vor«, informiert eine Vattenfall-Zeitung über das Netzwerk seiner Programmacherin. »Die von Herrn Grass benannten Seilschaften von NDR und Vattenfall sind unverändert intakt. Wir wußten das und haben darauf reagiert«, sagt Rainer Schmidt, »Lesen ohne Atomstrom«-Sprecher, nüchtern. »Unsere Förderer haben eine völlig unabhängige, massive Informationskampagne ermöglicht. Die eigenwillige Interpretation des öffentlich-rechtlichen Informationsauftrags seitens des NDR hat eher zusätzlich motiviert. Und so wird »Lesen ohne Atomstrom – Die erneuerbaren Lesetage« trotz allen Informationsboykotts nahezu jeden Hamburger Haushalt erreichen – mit mehr als einer halben Million Programmheften und Tausenden Plakaten auf Straßen und Bahnhöfen.« Ein großes Kulturereignis kündigt sich an: vom 21. bis 26. April 2013 in Hamburg, weitere Informationen: www.lesen-ohne-atomstrom.de/.
Erschienen in Ossietzky 8/2013 |
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