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Der Parteivorsitzende zeigte sich, als er das Papier im Willy-Brandt-Haus der Presse vorstellte, heilfroh über diese Ausarbeitung, und der Kanzlerkandidat äußerte, er fühle sich ganz wohl damit, die »Achse in der Gesellschaft« habe sich nun mal »nach links verschoben«. Da wird er sich, falls es für ihn wirklich ans Regieren geht, was nicht wahrscheinlich ist, mächtig dranhalten müssen, um diese Achse wieder zurechtzurücken. Denn das Programm enthält, wie die FAZ schreibt, »so gut wie alles, was Steinbrück vor Jahr und Tag noch als gutgemeinten Humbug bezeichnet und genüßlich zerpflückt hat«. Immerhin ist die SPD, jetzt als WASG auftretend, eine ehrliche Partei. Das besagte Papier heißt Wahl- und nicht Regierungsprogramm. P. S. Die große Polit-LotterieIn diesem Jahr steht uns wieder die Ziehung der großen Polit-Lotterie ins Haus. Die Trommel dreht sich bereits unermüdlich, und die Lose werden gemischt. Die Frage, wer wird Gewinner, wer Verlierer, beschäftigt die Nation. Alle Ziehungs-Verantwortlichen sind bemüht, den Eindruck entstehen zu lassen, daß es fair und gerecht zugeht bei der Verlosung. Den Begriff »Verlosung« darf man selbstverständlich nicht im weidmännischen Sinne interpretieren, da dort Losung ja bekanntlich ein Exkrement ist. Damit würde »Verlosung” einen ganz anderen, unerwünschten Sinn bekommen. Es heißt ja auch Lotterie, nicht Lotterei. Allerdings wurden bereits vor der Ziehung Lose verteilt, und wir wissen, daß es tatsächlich viele Lose mehrfach geben wird. Wir, das gemeine Wahlvolk, erhielten auch schon die Nachricht, daß wahrscheinlich die Allgemeinheit das Freud-Los bekommen wird. Dem Bundestag wird, wie bei jeder Polit-Lotterie zuvor, auch diesmal gewiß das Macht-Los zufallen. Die Bundeskanzlerin hat sich das Alternativ-Los bereits weit vorher gesichert. Der Spitzenkandidat der SPD setzt dagegen mit Entschiedenheit auf das Gedanken-Los. Der Verteidigungsminister spekuliert auf das Arg-Los und der Außenminister wird sicherlich das Glanz-Los erhalten. Der Wirtschaftsminister, Vizekanzler und jetzt noch amtierende Vorsitzende der FDP hat lange vor der Ziehung das Bedeutungs-Los bereits sicher. Und die FDP selbst setzt in ihrer Angst, nicht wieder an einer Lotterie teilnehmen zu dürfen, auf mehrere unterschiedliche Lose. Neben dem Kopf-Los ist es das Substanz-Los und vielleicht auch noch das Hoffnungs-Los. Die CDU ist wie auch die SPD neben dem Phantasie-Los auch auf das Plan-Los abonniert. Da unterscheiden sich die Parteien wenig. Die CSU wird wohl das Perspektiv-Los erhalten, wenn nicht sogar das Sinn-Los und die Grünen vielleicht das Schmerz-Los. Die Linken müssen aufpassen, daß sie nicht das Glück-Los ziehen, damit sie nicht dann auch noch zusätzlich das Mandat-Los bekommen. Ganz sicher werden eine ganze Reihe der Abgeordneten das Halt-Los, manche gar das Charakter-Los erhalten, weil sie zu lange auf das Bewegungs-Los und das Wort-Los gesetzt haben. Das Arbeits-Los wird aber bei ihnen nie mit dem Verdienst-Los zusammenfallen, da können sich die Kandidaten ganz sicher sein. Winfried Wolk Rechte Linke?Am 11. März fand im Münchener Amerika-Haus eine Diskussion zum Thema »Rechte Linke« statt. Die Runde eröffnete der Münchner Soziologieprofessor Armin Nassehi mit einem Vortrag über die politische Begriffsverwirrung im »postideologischen Zeitalter«: Es gebe zwar noch einige wenige Kriterien, mit denen man feststellen könne, was links und rechts sei, die Frage sei nur, ob das weiterhelfe. Er differenziere zwei Ebenen, an denen man eine Unterscheidung noch festmachen könne. Auf der Ebene der Kultur wäre dies relativ einfach: Rechts sei all das, was kulturelle Unterschiede vernaturalisiere: Schwarze seien dann anders als Weiße, Männer anders als Frauen, Türken anders als Deutsche, Franzosen anders als Briten. Der Unterschied zwischen rechts und links (oder besser liberal) wären die Positionen, wo Individuen nur Exemplare von Gruppenexistenzen oder echte Individuen sind. Im Alltag aber würde man, auch wenn man liberal oder links wäre, rechts wahrnehmen. Die andere Unterscheidung wäre politökonomischer Natur. Zumindest früher hätte es zwei Positionen gegeben: Die Rechte geht davon aus, daß das freie Spiel der Marktkräfte alles von selbst regele. Das linke Credo würde statt dessen lauten, daß der Markt reguliert werden müsse, damit es nicht zu ungewollten Folgen für die Menschen kommt. Allerdings hätten katholische Wirtschaftswissenschaftler und Sozialethiker wie Müller-Armack oder Eucken schon vor dem Godesberger Programm der SPD kritisch über den liberalen Markt geschrieben. Wenn man hier genau hinsehe, könne man nicht genau erkennen, was nun eigentlich links oder rechts sei. Und wenn man noch genauer hinsehe, könne man feststellen, daß in den westlichen Industrienationen nach dem Zweiten Weltkrieg die Marge zwischen Regulierung und Deregulierung klein gewesen sei. Und wenn man dann noch genauer hinsehe, müßte man sich fragen, ob die Agenda 2010 nach diesem Schema eher links oder rechts sei. Nassehi wisse dies auf alle Fälle nicht. Der zweite Referent, der Rock-Theoretiker und Siegmund-Gottlieb-Doppelgänger Karl Bruckmaier, führte dann gleichfalls Erstaunliches aus, nämlich daß – obwohl es in der 1960er Jahren sexy war, links zu sein – das Verhältnis zwischen Pop und Linken eigentlich recht fragil gewesen sei. Schließlich gebe es einen Film, der eine bekiffte und betrunkene Janis Joplin mit einer Federboa vor verstörten deutschen Studenten mit Kurzhaarschnitten und in Anzügen zeige. Nach dem Vortrag wurde in der anschließenden Diskussion noch weiter assoziationsreich argumentiert, eloquent fabuliert sowie entspannt und munter in einer Runde geplaudert, die sich zu jeder Zeit souverän auf der geistigen Höhe des Feuilletons der Süddeutschen Zeitung befand und den Vergleich mit Volker Panzers Nachtstudio nicht zu scheuen braucht. Reinhard Jellen Finanzkrise bei SozialdemokratenDer SPD-Kanzlerkandidat hatte bis vor kurzem einen Wahlkampfleiter, Heiko Geue, der als Staatssekretär für Finanzen des Landes Sachsen-Anhalt zugunsten seiner Parteitätigkeit bis April 2014 beurlaubt war. Jetzt ist Geue, der für Steinbrück schon in dessen Bundesministerzeit tätig war und als Agenda-Fan gilt, nicht mehr Leiter des Wahlkampfes, diese Funktion hat die Parteigeneralsekretärin Andrea Nahles an sich gezogen. Und beurlaubt ist Geue auch nicht mehr, sondern gegen seinen Willen in den einstweiligen Ruhestand versetzt, von seinem Parteifreund Jens Bullerjahn veranlaßt, dem sächsisch-anhaltinischen Finanzminister. Der äußerte, das »Vertrauensverhältnis« zwischen ihm und Geue sei »gestört«. Worum geht es? Das wird verständlich, wenn man die Feinheiten des Beamtenrechts kennt: Im Zustand der Beurlaubung erwirbt der Beamte Pensionsansprüche und hat das Recht, jederzeit in seine Position zurückzukehren; beim einstweiligen Ruhestand sieht das anders aus, in beiden Fällen aber entstehen dem staatlichen Dienstherrn erhebliche Kosten. Die Landtagsjuristen in Sachsen-Anhalt hatten neulich festgestellt, eine Beurlaubung sei in diesem Falle nicht statthaft, weil Geue bei Steinbrück ja nicht für das »Gemeinwohl«, sondern für ein Parteieninteresse arbeite. Geue und Bullerjahn konnten sich nicht auf eine neue Regelung einigen, Bullerjahn war dann den ganzen Ärger leid. Kein politischer Streit unter Genossen also, sondern eine kleine Finanzkrise, die private und die öffentliche Kasse betreffend. Peer Steinbrück, von dem doch gesagt wird, er verfüge über eine Superkompetenz beim Steuern durch Finanzturbulenzen, versteht die ganze Aufregung nicht. Er sei »verwundert«, ließ er mitteilen. Über wen? Über sich selbst, obwohl er den Geue-Job arrangierte, sicherlich nicht. Über Geue vermutlich auch nicht. Es wird der Parteigenosse Bullerjahn sein, der den Spitzenkandidaten zum Kopfschütteln brachte. Dieser Landesfinanzminister ist einfach zu pingelig. M. W. Das Übliche?So wünscht man es sich: Wenigstens im Gesundheitswesen sollte der Artikel 1 des Grundgesetzes des Kapitalismus außer Kraft gesetzt sein, der lautet: In jedem Fall hat der Profit Vorrang. Hauptaufgabe aller Ärzte, Schwestern, Pfleger und auch Klinikdirektoren sollte die gute Behandlung der Patienten sein. Pustekuchen. Denn der Erfolg eines Hospitalchefs und Klinikdirektors wird nicht in erster Linie an den Behandlungsergebnissen und der Zufriedenheit der Patienten gemessen. In den meisten privaten Krankenhäusern, aber auch in den vom Staat finanzierten Unikliniken wird im Stellenplan gestrichen, obwohl das Personal schon jetzt überlastet ist, also den Patienten nicht mehr die notwendige Zuwendung geben kann – und das bei unzulänglicher, teilweise miserabler Bezahlung. Ein krasses Beispiel dafür, wie staatliche Stellen vorgehen, liefert in diesen Tagen die baden-württembergische Landesregierung aus Grünen und Sozialdemokraten: An der Universitätsklinik Freiburg wurde dem kaufmännischen Direktor Reinhold Keil vertraglich eine Bonuszahlung zugesichert, wenn die Klinik einen Überschuß erzielt. Keil, der bereits in anderen Kliniken der Bundesrepublik erfolgreich tätig war, verkündete sogleich: Im Bereich Pflege werde der Etat um drei Prozent gekürzt, das heißt, es werden knapp 100 Beschäftigte entlassen. Die Pflegedirektorin Beate Buchstor fügte gleich hinzu, sie müsse im Wirtschaftsplan auch zwei bis drei Prozent einsparen, und das gehe selbstverständlich nur durch Entlassungen. Die grüne Gesundheitsministerin Theresa Bauer wollte in der Öffentlichkeit nichts sagen und ließ ihre Pressestelle nur lapidar erklären: Das diene der Zukunftssicherung der Universitätskliniken im ganzen Land, die alle unter den Sparplänen litten. Damit wollte sie wohl rechtfertigen, daß sie im Kabinett keinen Widerspruch einlegte. Für Ärzte sollen nach Mitteilungen des Personalrats 8,5 Millionen Euro weniger ausgegeben werden, das entspricht 79 Facharztstellen. Proteste wurden von der Klinikleitung mit der Erklärung beantwortet, jede Abteilung könne ja selbst entscheiden, ob sie Medizinerverträge verlängern wolle. Es müßten halt drei Prozent eingespart werden. Das gilt aber selbstverständlich nicht bei Sparkommissar Reinhold Keil. In dessen Arbeitsvertrag steht nämlich, daß er als Bonus noch sieben Prozent seines beachtlichen Einkommens erhält. Und das Gesundheitsministerium gibt diese entschuldigende Erklärung, die jeden erschrecken müßte: Das sei in unserer Republik allgemein üblich. Werner René Schwab Hugo Chávez Frías ist totAm Nachmittag des 5. März erlag Venezuelas Präsident Hugo Chávez Frías seinem Krebsleiden. Der schwerste Verlust Lateinamerikas seit dem ungeklärten Tod von Salvador Allende 1973. Während ich diese Zeilen schreibe, überträgt der multinationale Sender TeleSur (eine Initiative Chávez’) erschütternde Szenen und Kommentare aus ganz Lateinamerika. Es wird deutlich, wie fundamental Hugo Chávez für das Zusammenrücken Lateinamerikas war. Für die gleichzeitige Loslösung vom Imperialismus der USA (die auch ihm nach dem Leben trachteten) und für die Verankerung sozialistischen Denkens und Wirkens nicht nur in Venezuela. Chávez’ Energie und Charisma gelang es, auf breiter Basis das Bewußtsein lateinamerikanischen Selbstwerts zu verankern. Und dies im historischen Kontext von Kolonialismus und Unterdrückung, von Verrat seitens der feudalistischen und kapitalistischen Eliten und Auflehnung der Unterdrückten. Zweihundert Jahre nach Simón Bolívar sind dessen Ideale wieder Realität und Wegweiser – aus meiner Sicht Chávez’ wichtigster und entscheidender Beitrag zur weiteren, eigenständigen Entwicklung Lateinamerikas. Er reformierte die Verfassung seines Landes und dessen Institutionen, regelte das Bildungssystem neu, richtete eine dezentrale und partizipative Verwaltung ein und überzeugte mit Leistungen im Gesundheitswesen und Wohnungsbau. Chávez war Internationalist, half den Ärmsten der Opfer des Imperialismus, war ständig bereit zur praktischen Hilfe, sei es in den USA nach Naturkatastrophen oder in Paraguay bei Treibstoffmangel. Die Bolivarische Allianz für Amerika (ALBA), die Entwicklungsbank des Südens (Banco Sur) und andere gemeinschaftsbildende Institutionen sind Resultat seiner Initiative. Die gleichgeschalteten Medien der Bourgeoisie haben Hugo Chávez zum grotesken, populistischen Caudillo stilisiert. Sie werden nicht verhindern können, daß er zukünftig und verdientermaßen in einem Atemzug mit Simón Bolívar, mit José Martí, Sandino und Fidel Castro genannt werden wird. Wolf Gauer »Die drei Kühe« aus TirolDie Tiroler haben Kisch entdeckt. Sie haben »Die drei Kühe« neuverlegt – Kischs großartige Reportage aus dem Freiheitskampf der spanischen Republik. Es ist die Geschichte von Max Bair, dem Bauernjungen aus dem Wipptal in Tirol. Kisch hat ihn interviewt in Benicàssim, dem Luxusbadeort unweit von Valencia. Die republikanische Regierung hatte die Villen der Granden den Internationalen Brigaden als Lazarettort zur Verfügung gestellt. »›Ich?‹ fragte er und wurde über und über rot vor Verlegenheit.« So nimmt Kischs Begegnung mit dem 20jährigen Tiroler ihren Lauf. »Daß er so auf meine Anrede reagieren würde, hatte ich mir gedacht, deshalb hatte ich mich ja gerade an ihn gewendet ...« Und als Max Bair dann eher einsilbig erzählt, wie er nach Spanien gekommen ist, da fangen die Kameraden ringsherum an zu lachen. Keiner von ihnen hatte »seine Fahrkarte nach Spanien aus seinem Bankkonto bezahlt. Viele von ihnen hatten irgend etwas veräußert ... Aber – Kühe! Daß jemand seine Kühe verkauft, damit er in Spanien gegen den Faschismus kämpfen könne, schien ihnen maßlos komisch.« »Die drei Kühe«, das ist ein journalistisches Meisterstück. Auf originellem Weg führt Kisch seine Leser in den spanischen Freiheitskrieg, zu jenen Menschen, 35.000 insgesamt, die aus vielen Teilen der Welt den Republikanern und ihrer demokratisch gewählten Regierung zu Hilfe eilten, um Franco und dem Faschismus in Europa Einhalt zu gebieten. Max Bairs Schicksal ist außergewöhnlich: Bauernjunge, verwaist, Erbe eines hochverschuldeten kleinen Hofes, zu arm, um die Milch von den eigenen Kühen selbst zu trinken und die Butter aufs eigene Brot zu schmieren, unpolitisch zunächst, bis er drei junge Arbeiter aus der Umgebung kennenlernt, politisch aufgeklärt, die etwas über den Kampf da unten gehört haben und dann die Entscheidung treffen: Wir gehen nach Spanien. Die Graue und die Moltl und die Schwarze werden verkauft, immer hübsch eine Kuh nach der anderen, damit auch niemand Verdacht schöpft. Nicht einmal die eigene Schwester. Denn nach »Rotspanien« wollen die Behörden keinen lassen. Von dem Erlös der drei Kühe bezahlt Max Bair die Fahrkarte – nicht nur für sich, sondern auch für seine drei mittellosen Gefährten. Dann: Kurze Zeit der Ausbildung, Front, beim Sturm auf Quinto wird Max Bair verletzt – und nun sitzt er am Meeresufer und beantwortet dem Kisch Fragen ... Es ist gut 75 Jahre her, daß Kisch diese Reportage vollendet hat. »In den letzten Tagen war ich sehr fleißig und habe zwei größere Sachen geschrieben«, teilt er in einem Brief Ende 1937 aus Spanien seiner Freundin und Tschechisch-Übersetzerin Jarmila Haasová mit, die in Prag auch seine Interessen bei Redaktionen und Verlagen wahrnimmt. »Die eine, ›Die drei Kühe‹, [...] ist, glaube ich, besonders hübsch geworden. Wenn es für die Tvorba zu lang ist, so könntest Du es vielleicht dem Spanien-Komitee als Broschüre anbieten, natürlich unentgeltlich ...« Daß dieser Text nun erneut verlegt worden ist, noch dazu in Tirol, ist schon erstaunlich. Es ist jedoch nicht das österreichische Tirol, aus dem Max Bair stammt. Nein, die Edition Raetia in Bozen, der Metropole von Südtirol, Italien, hat das Werk vollbracht. Und zwar mit großer Sorgfalt, getreu der Erstauflage, die im Frühjahr 1938 im Amalien-Verlag der Internationalen Brigaden in Madrid erschienen ist: mit den Illustrationen des spanischen Plakatmalers Amado Oliver Mauprivez. Herausgeber Joachim Gatterer hat Kischs Reportage überdies mit einem tiefgründigen, detaillierten Text ergänzt. Darin schildert er Kischs Werdegang zum »rasenden Reporter« sowie Höhepunkte aus dem ferneren Lebensweg von Max Bair – den ich im Jahre 1982 im ND der Öffentlichkeit als den Protagonisten in Kischs berühmter Reportage vorgestellt habe: nun Max Jäger, wohnhaft bis zu seinem Tode in der Karl-Marx-Allee in Berlin. Gatterer verfolgt auch die Lebenswege von Bairs Gefährten, mit welcher Reserviertheit man die Spanienkämpfer nach 1945 in der österreichischen Heimat aufgenommen hat, und er stellt literarische Vergleiche an. Eine gründliche Arbeit, angefüllt mit Tatsachen. Dazu zahlreiche Fotos, ein umfangreicher Dokumententeil, eine Bibliographie. Kompliment! Kisch-Liebhaber sollten unbedingt zugreifen. Klaus Haupt Egon Erwin Kisch: »Die drei Kühe. Eine Bauerngeschichte zwischen Tirol und Spanien«, hg. von Joachim Gatterer, Edition Raetia, 176 Seiten, 13,50 € Am 31. März 1948 ist Egon Erwin Kisch in Prag verstorben. Dieser Jahrhundert-Journalist ist auch deshalb unvergessen, weil er ohne persönliche Rücksichtnahme entschieden gegen den Faschismus gekämpft hat. Blinde FleckenEine späte Kriegsbewältigung, wie der Titel »Weil der Krieg unsere Seelen frisst« vermuten läßt, ist dieses Buch nicht. Die Autorin Hilke Lorenz, Redakteurin der Stuttgarter Zeitung, schildert in dem Band, wie unbewältigte »Blinde Flecken« aus der Nazizeit noch heute in der Bundesrepublik nachwirken. Dokumentiert werden die Versuche von sieben sehr unterschiedlichen Personen, nach Jahrzehnten des Schweigens ihre Familienbiographie zu ergründen und sich dieser zu stellen. Eine Lehrerin versucht das Schicksal ihrer 1945 durch Suizid aus dem Leben geschiedenen Mutter aufzuklären. Ein am Sterbebett des Vaters gegebenes Versprechen wird gebrochen, als der Sohn sein eigenes Kinderschicksal im Wirrwarr der Nachkriegsjahre rekonstruiert und dabei erfährt, daß seine angeblich kurz nach dem Krieg gestorbene Mutter Jahrzehnte später noch lebte. Eine psychisch labile junge Frau findet zu sich selbst, indem sie die Biographie ihrer von den Nazis im Rahmen des Euthanasieprogramms ermordeten Großmutter öffentlich macht. Der Neffe des Hitler-Attentäters Georg Elser bricht das von der Familie verordnete Schweigen über den Onkel und muß sich dabei seiner eigenen Vergangenheit als gläubiger Hitlerjunge stellen. Eine Tochter versucht vergeblich, die Gründe für das Zerbrechen der elterlichen Ehe im Chaos der Nachkriegsjahre zu ergründen. Ein Enkel setzt sich mit dem literarischen Nachlaß seiner Großmutter auseinander, die eine führende Ideologin der repressiven Erziehungspolitik der Nazis war und – 1945 als »Mitläuferin« eingestuft – in der frühen Bundesrepublik ihre Machwerke weiterhin unter die Leute bringen durfte. Eine Familie hat Angst um das Leben eines in Afghanistan stationierten Bundeswehrsoldaten. Großmutter und Enkel kommen sich in Schilderungen ihrer jeweiligen Kriegserlebnisse näher. Das Buch ist eine – sehr vorsichtig formulierte – Kritik an der in der alten Bundesrepublik mit staatsoffizieller Duldung betriebenen Praxis des Verschweigens von allem, was mit Verbrechen der Nazizeit, aber auch mit antifaschistischem Widerstand zusammenhing. Diese Verdrängung, so die These der Autorin, rief psychische Deformationen hervor. Erst nach dem langen und quälenden Prozeß der Geschichtsaufarbeitung der letzten Jahrzehnte wären jetzt viele Leute so weit, sich ihrer Familiengeschichte zu stellen. Vorsichtig aber entschlossen nutzt die Autorin ihr Buchprojekt zu einer Positionierung gegen die Kriegseinsätze der Bundeswehr: »Der Krieg kommt wieder in das Leben der Menschen. Als reichte nicht schon das, was an Erfahrungen und Prägungen in Umlauf ist.« Für ein Buch des Ullstein-Verlages immerhin beachtenswert. Gerd Bedszent Hilke Lorenz: »Weil der Krieg unsere Seelen frisst. Wie die blinden Flecken der Vergangenheit bis heute nachwirken«, Ullstein Verlag, 224 Seiten, 19,99 € Rätselhafte PandemieEin Medienunfall ist zu vermerken. Zuerst kam ein wenig Schadenfreude auf, förderte doch die Panne womöglich die kritische Sicht auf den journalistischen Hauptstrom. Doch mittlerweile hat das Unglück über politische Schranken hinweg ein solches Ausmaß angenommen, daß sich optimistische Erwartungen verbieten. Vor einigen Jahren tauchten in der hiesigen Presse mit einem Mal befremdliche Nachrichtenpassagen auf. Am 3. Dezember 2009 zum Beispiel hieß es: »... Auf dem deutschen Schienennetz wurden von Januar bis September 2009 insgesamt 226,4 Millionen Tonnen Güter transportiert, wie das Statistische Bundesamt mitteilte. Das war demnach ein Rückgang von 20,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.« Noch fiel kaum etwas auf. Das Wörtchen »demnach« im zweiten Satz schien wie gewohnt eine Folgerung anzuzeigen. Schon am nächsten Tag stellte eine Meldung klar, daß der Eindruck täuschte: »Wie die Friedenstruppe der Afrikanischen Union mitteilte, hat sich am Donnerstag in einem Hotel in Somalias Hauptstadt Mogadischu ein Selbstmord-attentäter in die Luft gesprengt. Unter den Toten waren demnach drei Minister der somalischen Übergangsregierung, viele Studenten und zwei Journalisten.« Wieso »demnach«? Offenbar wollte der Schreiber auf die eingangs genannte Informationsquelle verweisen und verwechselte das Adverb mit »danach«. So ging es bis in unsere Tage, von Jahr zu Jahr heftiger. Kürzlich war zu lesen: »... Alle 612 Bewerber für die 612 Sitze seien gewählt worden, teilte die Kommissionsvorsitzende Alina Balseiro mit. 4,73 Prozent gaben demnach leere Stimmzettel ab, 1,2 Prozent der Stimmen waren ungültig.« Testen Sie gar nicht erst Ihre Rechenkunst – wieder bezieht sich »demnach« auf die Quelle. Unklar bleibt, auf welche. Ist Alina Balseiro in Wirklichkeit ein Mann, dem zufolge ...? Wie kam es zur verqueren Neuerung, die übrigens in einer Kettenreaktion auch »demzufolge« ins Unglück zog? Um gewöhnlichen Sprachwandel kann es sich nicht handeln, wenn Wörter, die eine logische Beziehung signalisieren, unversehens auf den Ursprung einer Nachricht verweisen. Zumal der Kopf schmerzt, sollte sich der gemeinte Sinn nicht sofort und zweifelsfrei erschließen. Nach meinen Beobachtungen ging der deutschsprachige Dienst der Nachrichtenagentur Agence France-Press beim Angriff auf die Textlogik voran. Vielleicht scheiterte ein Übersetzer des Dienstes, nicht sattelfest im Deutschen, beim Übertragen einer fremdsprachlichen Wendung und steckte mit seinem adverbialen Unfug die Tochterfirma des ältesten modernen Nachrichtenunternehmens an. Wie auch immer – Abonnenten von AFP müssen sich die Frage gefallen lassen, weshalb sie den Wortmißbrauch hinnahmen. Inzwischen hat das Demnach-Virus längst andere Agenturen infiziert und hinterläßt seine Spuren in fast allen journalistischen Textformen. Ein Nachrichtensprecher des Fernsehens ist neuerdings unsicher, welche Silbe des Adverbs er zu betonen hat! Genervt rätselt der noch nicht abgestumpfte Leser und Hörer, was es nur ist, das diese Pandemie ermöglicht. Im Februar 2009 meldete AFP: »Feinstaub schädigt mehreren Studien zufolge neben Atemtrakt und Herzkreislaufsystem sehr wahrscheinlich auch das Gehirn.« Wem diese Warnung jetzt in den Sinn kommt, den bringt sie freilich kaum auf die richtige Spur. Gottfried Braun Chanson Total im Panda-TheaterSie können es – und sie könnten mit ihrem Chanson Total weit größere Spielstätten füllen als das kleine Panda-Theater in der Kulturbrauerei: Suzanna und Karsten Troyke! Sie passen zusammen, nicht bloß stimmlich, die schöne Frau und er, dessen Jungenhaftigkeit, zumindest in diesem Programm, zurückgedrängt ist – Troyke wirkt reifer, männlicher und bringt Lockerheit ins Spiel, gewinnende Souveränität. Humor auch – aber den haben sie beide, Suzanna und Troyke, Spielfreude bei den kleinen Spielszenen, die sie einflechten. Und wie sie den Chansons des Georg Kreisler, des Götz Lindenberg, des Hermann Leopoldi in Mimik, Gestik und – selbstverständlich – Musikalität gerecht werden, das belohnt die kleine Zuhörerschar wieder und wieder mit Applaus. Kleine Zuhörerschar? Mehr als sich an diesem naßkalten Samstagabend des 23. Februar eingefunden haben, hätte das Berliner Panda-Theater schwer aufnehmen können. Und wenn ich anfangs behaupte, Suzanna und Troyke hätten mit ihren Chansons, hebräischen Liedern, russischen Romanzen und diesem »Dirty Old Town«, dem Lied, das einst um die Welt ging, weit größere Spielstätten füllen können, so halte ich jetzt dagegen: Ob wohl vor weit mehr Leuten jene besondere Intimität aufgekommen wäre, diese Art Zwiegespräch der Künstler mit ihrem Publikum? Wie es war, war es gut an diesem Abend, und es wird auch gut sein, wenn Chanson Total am 12. April im Panda noch einmal präsentiert wird. Walter Kaufmann Zuschrift an die LokalpresseAuweia! Det hat ja einjeschlaren wie ’ne Bombe! Jetzt wird der Mehdorn ooch noch Fluchhafen-Chef, und wie det aussieht, hat der sich nich mal dajejen jewehrt! Na jut, schlimmer kann det sowieso kaum noch komm’. Der hat ja schon bei de Bahn und bei de Fliejer aus Scheiße Jold machen woll’n, aba mal ehrlich, er hat doch eher Scheiße aus Jold jemacht! Und denn hatter ooch noch hinjeschmissen, wie der Ratzinger! Da hab’ ick aba jleich mal ’ne Idee: Ob der Mehdorn nich ooch noch könnte den neuen Papst machen? Mit seine Fliejer war der doch sowieso schon ziemlich dichte dran am lieben Jott! Und irjendwat Katholischet hat der ooch an sich, der hat sich von andere noch nie wat saren lassen! Der fährt ooch sei’m Chef und sei’m Aufsichtsrat, wat bei de Kirche wohl die Dreifaltichkeit is, jlatt übert Maul! Wat saren’se, det wäre unjewöhnlich? Unjewöhnlich is et seit 700 Jahre ooch, det een Papst von alleene zur Vernunft kommt, noch dazu een Deutscher! – Didi Krawullke (56), Fachmann für Jas, Wasser und Scheiße, 13593 Pichelsdorf Nachtrach: Wie ick jerade jehört habe, hamse nu doch een ander’n Papst aus’m Rauch jeholt, een aus de entjejenjesetzte Halbkugel. Aber wer weeß denn, wie lange der det durchhält! Den Mehdorn solltense uf jeden Fall in de Requisite halten, so schnell bringt der Schönefeld sowieso nich zum Fliejen! Wolfgang Helfritsch
Erschienen in Ossietzky 7/2013 |
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