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Sie tun das in der Wiener Innenstadt, vor der Saatchi Gallery in London, in Barcelona, in Cleveland und in Sydney vor der Oper. In Mexiko-Stadt sind es 18.000 Männer und Frauen, die sich vor dem Parlamentsgebäude und vor Spencer Tunick entblättern. In Brügge stellen sich auf dem historischen Marktplatz bei Sturm und eisigen Temperaturen 1.249 Männer und 701 Frauen nackt in eine Reihe. Und der Künstler wundert sich immer wieder über die Ausdauer der Leute. Das sagt er. Auch in München und in Düsseldorf stellt man sich gern für ihn nackt auf, im Ehrenhof vor der Front des Museums Kunstpalast, vor dem NRW-Forum und in der benachbarten Parkanlage. Nicht immer ist das hundertfache Nacktsein sinnfrei. Manchmal verleiht Spencer Tunick den Aktionen auch eine höhere Bedeutung, wenn 600 Nackte auf einem Gletscher in den Schweizer Alpen aus Protest gegen den Klimawandel frieren oder 1.200 Nackte im Toten Meer treiben, um auf die Gefahr der Austrocknung des Gewässers hinzuweisen. Keiner der Nackten bekommt Geld. Sie wüßten ja sowieso nicht, wohin sie es stecken sollten, nackt, wie sie sind. Sie wollen aber auch keines, denn Spencer Tunick macht sie in ihrem Nacktsein und durch ihre geduldige Mitwirkung zur Kunst, zu »sozialen Plastiken«. Das kann er, einfach so, denn er ist Künstler. Spencer Tunick mag Wien besonders. In Österreich seien die Menschen nicht nur leicht zu dirigieren, sondern auch ehrlich bemüht, sagt er. Deshalb nutzte er 2008 auch das Ernst-Happel-Stadion, damit sich dort 1.840 Menschen nackt ausziehen konnten. Auch der Kunsthallen-Direktor Gerald Matt, einer der Mitorganisatoren, entkleidete sich dort. Und eine Fernsehjournalistin und ihr Kollege, die über die Aktion berichten wollten, ließen sich spontan mitreißen und rissen sich die Kleidung vom Leib, um nackt aufs Bild zu kommen. In Amerika, gesteht Tunick, würde er sofort festgenommen, wenn er dort mit Nackten in ein Stadion ginge. In Wien aber ist das Kunst. Deshalb ist Wien einzigartig und gebiert auch eigene, ebenso großartige Ideen, beispielsweise die Ausstellung »Nackte Männer« im Leopold Museum. In weltweit über 1.000 Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln berichteten Kunstkritiker darüber, daß Männer tatsächlich nackt sein können und daß männliches Nacktsein außergewöhnlich attraktiv sei. Das empfand die internationale Presse als einen besonderen künstlerischen Aspekt. Die Ausstellung, die nach Verlängerung vor wenigen Tagen ihre Pforten schloß, gilt als die bestbesprochene Ausstellung, die es je in Österreich gegeben hat. Der Höhepunkt war eine spezielle Führung, zu der die Besucher nackt erschienen, eine sogenannte Nacktführung. Möglicherweise ist das nun eine ganz neue Kategorie der Bildbetrachtung. Wenn schon die Dargestellten auf den Bildern nackt sind, warum sollen es nicht auch die Besucher sein. Das führt zu einer gewissen Gleichstellung von Bildwerk und Betrachter. Wahrscheinlich fand irgendein genialer Kunsttheoretiker es ungerecht, daß die Nackten auf Bildern ausschließlich von Bekleideten betrachtet werden. Jetzt wurde das geändert. Der nun ebenfalls nackte Besucher ist endlich frei, nämlich hüllenlos, für den unverstellten Empfang der künstlerischen Intuition, die ihm durch die nackten Darstellungen vermittelt wird. Er braucht nicht mehr erstaunt und verwirrt die verschiedenen nackten Körperdetails der Dargestellten zu betrachten, er kann sie sofort auch mit dem eigenen Leib vergleichen und so vielleicht Dinge sehen, die er früher nicht für möglich gehalten hätte. »Die Latte liegt sehr hoch«, lautet die amtliche Einschätzung des Museums, was wohl aber vor allem die durch dieses Kunstereignis angeschwollene Besucherzahl meint. Das alles ist nicht neu. Es soll einmal einen Kaiser gegeben haben, der keine Kleider trug und trotzdem Kaiser war. Bis auf ein dummes Kind waren alle anderen begeistert. Vor Jahren hatte ich selbst einmal eine ganz andere, aber auch interessante, künstlerische Idee. Ich wollte mit einer Reihe von Versuchspersonen einen künstlerischen Test starten und nachweisen, daß sich bei den meisten nichts verändert, wenn man die Hirnmasse durch eine ganz andere Substanz ersetzt. Im Gegensatz zu den Aktionen von Spencer Tunick hätten sich die Mitwirkenden dabei nicht einmal ausziehen müssen. Vielleicht war das der Grund, daß sich für mein Experiment damals niemand interessiert hat. Angesichts dieser Kunstaktionen habe ich den Verdacht, daß irgendein mir bislang unbekannter Künstler diese Idee sehr dreist plagiiert und bereits heimlich umgesetzt hat, weltweit.
Erschienen in Ossietzky 6/2013 |
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