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Man sieht ein liebloses Plattengebäude, davor ein abgeplatzter Balkon, Steine, Müll, Schrott, Zäune, Wiesen. »Wenn es der Hausmeister erlaubt«, sagt ein Kind, »dann fahren wir hier weg, mit einem großen Auto.« Die Erwachsenen sind an das Heim »gefesselt«, zur Untätigkeit verdammt, zum Warten. Fünf, zehn, 15 Jahre warten sie auf ihre Verfahren, die nach Kräften verschleppt werden; die Kinder zelebrieren das Warten draußen. Drinnen ist kein Platz zum Spielen und Toben, dort stehen die Betten eng an eng – eine Lageratmosphäre. Die Kinder also sind draußen und da sich selbst überlassen. Die Filmemacherin Anne Kodura traf auf sie, spielte mit ihnen und drehte schließlich einen Film für sie, wobei sie einfach ihre Spiele kommentarlos festhielt. Das erste, was in »Ödland – Damit keiner das so mitbemerkt« (Deutschland, K+) auffällt: Alle Kinder sprechen akzentfrei deutsch. Sie beherrschen nicht nur die deutsche Sprache, sondern auch die deutschen Sprichwörter, Kinderreime, Abzählverse und typische Kinder-Idiome (niemals im Leben – dochmals im Leben). Erschreckend wird jedem klar: Es sind also Deutsche, die hier aus- und eingesperrt sind. Ihre Eltern hinter den Mauern des Hauses hören Radio, verfolgen die Fernsehberichte aus den heimatlichen Kriegsgebieten, sie leiden unter der Untätigkeit und Unsicherheit, unter der Gefangenschaft. Die Kinder haben keine unbeschwerten, glücklichen Eltern, die mit ihnen etwas unternehmen. Deshalb fliehen die Kinder sie, wollen ihnen möglichst wenig Last sein. Mit seinen stilistischen Besonderheiten schafft es der Film, zahllose Botschaften zu übermitteln, dabei ist nichts doziert, alles nur beobachtet. Die Entscheidung, die Erwachsenen in der Muttersprache ihre traurigen Erlebnisse schildern zu lassen und die Sprechenden dabei nicht zu zeigen, stattdessen das vom Fenster zu sehende Windkraftpanorama, die Entscheidung, die wilde Wiesenidylle, in der die Kinder oft spielen, nicht farbig zu zeigen und die Radiosprecher der innerhäuslichen Kriegsnachrichten mit den aushäusigen Busradiomeldungen vom Wetter zu kontrastieren – das sind allesamt wunderbare und preisverdächtige Einfälle großer Filmkunst. Auch die Dramatik der Kinderspiele, die zunächst daraus besteht, die ewig wartende Langeweile zu töten, dann aber durch Anne Koduras nicht sichtbare Spielanregungen immer differenzierter und kreativer wird, ist beeindruckend; sie zeigt uns die Hoffnung, die in diesen Kindern steckt. Am Filmende werden die Kinder mit Ranzen gezeigt, wie sie als einzige den Ort der Verbannung verlassen dürfen, um mit dem Schulbus kilometerweit in die Schule zu fahren, wo sie teilhaben an der sie umgebenden Welt und lernen, daß es noch Menschen und Dinge außerhalb ihrer Kasernenlandschaft gibt. Der Schwerpunkt, den Anne Kodura auf die Kinder und damit auf eine Zukunft legt, in der es anders aussehen könnte, macht diesen Film für uns aushaltbar. In der sich an die Filmvorführung anschließenden Diskussion sagte eine Frau, daß es ein Skandal sei, daß mitten in Deutschland solche Gefängnisse existieren, in denen die Menschen 15 oder 20 Jahre warten müssen, bis ihre Verfahren bearbeitet werden, und die ganze Zeit über zum Nichtstun verurteilt seien. Der ganze Saal klatschte. * Der beste Film dieser Berlinale: »Kopfüber« (Deutschland, K+). Die Geschichte von Sascha, einem sozial benachteiligten Kind; benachteiligt durch die Wohngegend, eine Platte, dadurch, daß er aus einer Mehrkindsfamilie kommt, benachteiligt durch das Aufwachsen bei einer alleinerziehenden Mutter, durch eine Familie, die permanent von Arbeitslosigkeit getroffen und bedroht ist, dadurch, daß er nicht gut lesen gelernt hat, durch permanenten häuslichen Nikotin- und Fernsehgenuß, durch Schulwechsel, durch Kleinkriminalität des älteren Bruders und dadurch, daß er männlichen Geschlechts ist. Alles seit langem bekannte Benachteiligungsparameter. Daß sich dadurch bei diesem Kind Probleme zeigen und welche, beschreibt der Film eindringlich. Der kindliche Schauspieler ist überragend, meines Erachtens nach der beste Darsteller der ganzen großen Berlinale. Er gehörte auf die roten Teppiche und in die Fernsehsender, er als Symbol für die wachsende Zahl benachteiligter Menschen in unserer Gesellschaft. Sein Gesichtsausdruck variiert in jeder Minute des Films: mal ist er erstarrt, mal traurig, mal wütend oder gewitzt, fröhlich, verzweifelt ... Der Clou des Ganzen: Das Kind wird als krank bezeichnet. Eine freundliche Ärztin stellt – angeregt durch die Lehrerin und zur großen Entlastung der Mutter und auch des betroffenen Kindes – die rettende Diagnose: Nicht etwa die Bedingungen, unter denen sich das Kind hilflos fühlt, sondern der eigene Körper, den man mit Medikamenten füttern kann, ist Schuld an Saschas Verhalten. Nach vier Monaten Tablettenkonsum kann Sascha zwar besser lesen, dafür aber nicht mehr lachen oder mit seiner Freundin tolle Hörspiele produzieren und Abenteuer erleben. Die einzigen Dinge, die ihm Trost und Freude spendeten, hat er verloren. Der Betreuer Frank, an den er sich gerade gewöhnt hatte, wird ihm genommen, als es ihm etwas besser geht. Wieder eine Bestrafung. Und die Mutter zieht auch nur von dannen, obgleich Sascha mit gutem Zeugnis kommt. Ihr Freund ist ihr wichtiger. Sascha fällt zurück in sein altes Leben, in dem er, wie man plötzlich begreift, auf die reale Problemsituation vollkommen adäquat reagiert hat: mit Wut, weil er all die Ungerechtigkeiten und Demütigungen spürt, gegen die auch die Tabletten nicht helfen. Im Gegenteil, sie decken zu; und deshalb wirft er sie fort: »Die machen, das man nicht mehr lacht!« Ein toller Film, mutig, gegen eine millionenschwere Pharmalobby angeschrieben. Ob das der Grund war, den Film ins Kinderprogramm zu verdammen, so daß er nie in die großen Kinos kommt? Den Film haben auch Kinder verstanden und gut gefunden, der Beifall war langandauernd, aber wichtiger ist er für Erwachsene, unbedingt! Und er wird dort Diskussionen auslösen, wo man Sand in die Augen geschüttet bekommt und glauben gemacht wird, mit Tabletten könne man gegen soziales Unrecht angehen. Unbedingt weiterempfehlen! * Gähnende Langeweile verbreitet hingegen »Capturing Dad« (Japan, 14+), ein Film über zwei halbwüchsige Mädchen, die sich ausschließlich für Mode interessieren und bei ihrer Mutter, einer Zeitungsverkäuferin, die dem Vater der Mädchen schon vor langer Zeit den Laufpaß gegeben hat, leben. Weder die Ehegeschichte noch die Charaktere der Beteiligten werden vertieft. Alles bleibt flach, wenig ideenreich, langweilig. Die vielen Zugfahrten, auf denen nichts passiert, ermüden. Die ganze Zeit wartet man auf Spannendes – leider vergeblich. Ein Film mit unverzeihlichen Längen und einem leicht vorhersehbaren Plot. Ein wenig Witz liegt allein im Kennenlernen asiatischen Sterbebrauchtums, wo die Asche auf einem Tablett ausgekippt wird und man dann gemeinsam Knochen sortiert.
Erschienen in Ossietzky 5/2013 |
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