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Während des Fluges genieße ich die ausführliche Lektüre der mitgebrachten europäischen Zeitungen, für die sonst oft die Zeit fehlt. Die Berichte aus Spanien, Griechenland, Italien und Portugal unterscheiden sich zwar in Nuancen, beschreiben aber im Kern das Gleiche: Eine stückweise Vernichtung aller sozialen Leistungen und den Verfall der politischen Strukturen als Ergebnis der globalen Krise des kapitalistischen Systems. Massenentlassungen zur Sicherung von Profitraten, Jugendarbeitslosigkeit und Bildungsnotstand, Aushöhlung des Gesundheitswesens, Wohnungsräumungen, Selbstmorde aus Existenzangst, Hartz IV, Kriegseinsätze in anderen Staaten und Polizeiterror gegen protestierende Bürger: Alles dies werde ich für einige Wochen hinter mir lassen. Ein Mitreisender, der die FAZ beiseite legt, in der er zumindest einige dieser Meldungen auch lesen könnte, hat eine andere Sicht der Dinge. Er reise nach Kuba, um sich dort noch einmal den »morbiden Charme einer untergehenden Zeit« anzusehen, vertraut er mir an. Am Flughafen José Martí der kubanischen Hauptstadt ist davon nichts zu spüren. Taxifahrer und Zimmervermieter versuchen, Kunden einzufangen. Großfamilien verabschieden Angehörige, die das Glück hatten, ein Visum zu bekommen. Seit dem 14. Januar 2013 brauchen kubanische Bürger zur Ausreise nur noch ein Flugticket, ihren Paß und das Visum des Ziellandes. Frühere Einschränkungen und bürokratische Formalitäten sind aufgehoben. Jetzt sind die USA das einzige Land auf dem Kontinent, das die Reisefreiheit seiner Bürger einschränkt. Seit 1963 ist es US-Bürgern per Gesetz verboten, nach Kuba zu reisen. Wer dagegen verstößt, riskiert empfindliche Strafen. Seltsamerweise regen sich diejenigen, die die Reisefreiheit der Kubaner zu einer Menschenrechtsfrage stilisierten, darüber bei den USA nicht auf. Das Problem mit den Visa ist in Kuba allgegenwärtig. Jeder scheint irgend jemanden zu kennen, dem die Einreisegenehmigung in die USA oder in ein europäisches Land verweigert wurde. Eine Situation, die Bürger aus anderen armen Regionen in der Welt, für die ein Visum zum Verwandtenbesuch oder zur Familienzusammenführung so etwas wie ein Hauptgewinn in der Lotterie ist, seit Jahrzehnten kennen. Auch hier stößt die Reisefreiheit jetzt an ihre Grenzen, wenn das Geld dafür oder ein Visum fehlen. Die »Normalität« hatten sich viele Kubaner anders vorgestellt, und sie sind jetzt ratlos, weil sie dafür nicht ihrer Regierung die Schuld in die Schuhe schieben können. Die von der US-Regierung, europäischen Medienkonzernen und rechten Parteistiftungen großzügig ausgehaltenen »Dissidenten«, die auf Kuba zwar niemand kennt, den Konzernmedien aber trotzdem stets als Quelle für Negativmeldungen dienen, haben diese Probleme nicht. Im April dürfen Berta Soler und José Daniel Ferrer, zwei militante Gegner der kubanischen Verfassung, auf Einladung der deutschen Botschaft nach Panama reisen. Die Reisen samt Spesen zahlt das Auswärtige Amt großzügig mit dem Geld der deutschen Steuerzahler. Auch die bei rechten Aktivisten beliebte Systemgegnerin Yoani Sánchez geht seit Mitte Februar auf Tournee. Um ihre Reisen zu finanzieren, haben »Freundeskreise« im Internet zu Spenden aufgerufen. Es gilt, den mühsam aufgebauten Mythos von der mittellosen, verfolgten und unabhängigen Bloggerin aufrechtzuerhalten. Die freien Medien des Westens belästigen ihre Kunden dabei nicht mit überflüssigen Informationen über das sechsstellige Vermögen auf ausländischen Banken und die regelmäßigen monatlichen Zahlungen der profaschistischen Interamerikanischen Pressegesellschaft (SIP) und des rechtslastigen spanischen Medienkonzerns Prisa an die Dame. Mit deren Welt und Weltbild haben die Menschen auf den Straßen in Havanna nichts gemein. Dort herrscht ein Treiben, daß mir noch lebendiger vorkommt, als ich es bei vielen Aufenthalten in den letzten 30 Jahren wahrgenommen habe. Die Stadt, die vor der Auflösung des sozialistischen Lagers zwar gut organisiert, aber auch bürokratisch blockiert und oft langweilig daherkam und in den darauffolgenden Notzeiten der Sonderperiode eher Mitgefühl als Lebensfreude aufkommen ließ, ist zu einer pulsierenden, aufregenden, heiteren und nie zur Ruhe kommenden karibischen Metropole geworden. Zugegeben, schwer zugänglich für jene, deren Lebensgefühl vom Konsumangebot abhängt, aber ein Fest für alle Sinne für die, die Authentisches und Originalität schätzen. Im Zentrum der sozialistischen Hauptstadt sind Straßen und Plätze voll mit Bücherständen, Lesebühnen, Straßentheater-Ensembles, lesenden und diskutierenden Gruppen, aber auch voller Clowns und Musiker aller Stilrichtungen. In keinem anderen Land der Welt sind so viele Menschen aller Schichten und Altersgruppen zu sehen, die in Büchern blättern, gleich mehrere kaufen und oft – an einem schattigen Platz – gleich mit der Lektüre beginnen. Die Begeisterung der Kubaner für Literatur begann nach dem Sieg der Revolution, als in wenigen Jahren die zuvor hohe Analphabetenrate auf Null gesenkt wurde. Sicher liegt es auch daran, daß Bücher hier kein Luxusartikel, sondern für jeden erschwinglich sind. In Kuba oder den befreundeten ALBA-Staaten verlegte Bücher kosten in nationaler Währung zwischen zwei und maximal 25 Pesos, was etwa fünf bis 70 Eurocent entspricht. Auch für den derzeitigen Trubel gibt es einen Grund. Die 22. Internationale Buchmesse von Havanna hat begonnen. Diese »Feria« ist zugleich Kultur- und Volksfest. Am 14. Februar wurde sie in der historischen Festungsanlage La Cabaña eröffnet und bietet bis zum 10. März – zunächst in der Hauptstadt und danach in den Provinzen – das wichtigste und umfangreichste Publikumsangebot für Literatur, Kunst und Kultur in Lateinamerika. Die Vorfreude auf die nächsten Wochen, die spannende Gespräche, Erlebnisse und Anregungen versprechen, ist groß.
Erschienen in Ossietzky 5/2013 |
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