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Ich ließ es mir zum Jahresausklang von zwei alten und zwei jüngeren Festivals bestätigen. Ein Marathon ohne Atempause. Start war beim 55. Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm, wie die offizielle Bezeichnung lautet. Kurz Dok-Woche genannt, deren wechselvolle Geschichte als gesamtdeutsche Veranstaltung im November 1955 vor dem Hintergrund des von DDR-Präsident Wilhelm Pieck proklamierten »Jahr der Verständigung über die friedliche Wiedervereinigung« begann. Bei der zweiten Auflage vom 4. bis 10. November 1956 konnte die paritätisch besetzte Jury über Filme zu Themen wie »Unsere schöne deutsche Heimat, Sport im Film, Puppen und Zeichentrickfilme« urteilen, deren Qualität zu wünschen übrig ließ, was zu der Kuriosität führte, daß das SED-Zentralorgan Neues Deutschland und Springers Welt gemeinsam (!) »Gesamtdeutsche Gartenzwerge« für die am besten mißlungenen Filme vergaben. Erstmals konnte man auch ausländische Gäste begrüßen, aber erst nach dreijähriger Pause startete das Leipziger Festival als internationale Veranstaltung. Bald wurde daraus ein Mekka des Dokumentarfilms, dessen Teilnehmerliste sich wie ein »Who is Who« der internationalen Dokumentaristen las. Selbstverständlich war eine großzügige staatliche Finanzierung auch mit politischer Einflußnahme verbunden. Kritisches aus osteuropäischen »Bruderländern« gelangte nicht auf die Festivalleinwand, aber westdeutschen Besuchern lieferte sie auch Gegeninformationen zu Themen wie Vietnam oder Chile. Wie so vieles nach dem Ende der DDR schien auch die Zukunft der Dok-Woche unsicher, doch gelang es der Filmwissenschaftlerin Christiane Mückenberger und danach dem Filmkritiker Fred Gehler als Direktoren, das Festival durch die Krise zu steuern. Heute unter der Leitung von Claas Danielsen hat Leipzig im internationalen Maßstab seine überragende Bedeutung behauptet. Wie immer machte das Mammutangebot von 350 Filmen die eigene Auswahl schwierig. Ein besonderer Fokus Lateinamerika knüpfte an gute Traditionen an, und wie stets bot die Retrospektive Neu- und Wiederentdeckungen. Diesmal mit der Erinnerung an Willi Münzenbergs bis zur Auflösung durch Stalin 1936 bestehende deutsch-russische Filmfirma Meshrabpom. Ausgangspunkt waren die von der Internationalen Arbeiterhilfe IAH eingesetzten Dokumentationen über die Hungerkatastrophe an der Wolga 1921/22. Später standen Bilder von KPD-Demonstrationen und dem Aufbau in der Sowjetunion im Zentrum, aber auch Spielfilme. Für mich gehörte diesmal die Retrospektive zu den interessantesten Festivaleindrücken. Von Leipzig nach Cottbus. Von einem der traditionsreichsten deutschen Festivals überhaupt zu einer Nach-»Wende«-Gründung, immerhin im mittlerweile 22. Jahrgang. Die Existenz ist den Filmklubs zu verdanken. In der DDR bildeten osteuropäische Filme einen festen Bestandteil der Kinospielpläne. Nach dem Anschluß waren sie verschwunden. Diese Lücke sollte ein eigenes, ganz den Kinematografien des Ostens gewidmetes Festival schließen. Inzwischen hat es sich zu einem international wahrgenommenen Ereignis entwickelt mit auch stetig gewachsener Publikumsresonanz. Wer sich über die Produktion in den osteuropäischen Ländern informieren will, für den ist Cottbus eine erste Adresse, umso wichtiger als Filme aus jener Region zu Unrecht in unserem Kinorepertoire fast völlig ignoriert werden. Einen Anreiz für osteuropäische Gäste bietet der Ost-West-Koproduktionsmarkt »connecting cottbus«, der bei der Partnersuche für neue Projekte hilft. Drei Wettbewerbe und über zehn Programmsektionen boten 2012 wieder einen umfangreichen Überblick zum aktuellen Filmschaffen der östlichen Nachbarn. Rußland als produktionsstärkstes Land ist jeweils ein ganzer Tag gewidmet, wobei diesmal zwei sozialkritische Autorenfilme besonders auffielen. »Poka noch ne razluchit« (Bis daß die Nacht uns scheidet) von Boris Khlebnikov kontrastiert die Welt der Schönen und Reichen in einem Moskauer Luxusrestaurant mit den Problemen der ungeliebten kaukasischen Gastarbeiter in der Küche. Und Mikhail Segels »Rasskazy« (Kurzgeschichten) stellt in vier Episoden mit Mitteln absurder Komödie und Satire Charakteristika heutiger russischer Gesellschaft wie Reglementierung, Wundergläubigkeit und Geschichtsvergessenheit der Jugend bloß. Die traditionell ebenso starke Präsenz des polnischen Films spiegelte sich auch bei der Preisvergabe, wo er gleich drei Auszeichnungen erhielt, darunter den Hauptpreis, mit dem ein sonst eher rar gewordenes Stück Sozialkritik gewürdigt wurde. Im Langspielfilmdebüt der populären Musikerin Maria Sadowska »Dzień kobiet« (Frauentag) steigt die Protagonistin erst zur Filialleitern in einer Supermarktkette auf, wird aber – weil sie nicht systemgerecht funktioniert – mit der gleichen Rücksichtslosigkeit, die sie gegenüber ihren Kolleginnen verweigert, wieder auf die Straße gesetzt. Die breite Solidarität mag freilich ein Traum sein, aber das Vorbild des in Polen allgegenwärtigen Discounters ist ebenso echt wie mögliche Parallelen im skandalträchtigen Alltag einschlägiger Billigmärkte hierzulande. Doch Szenenwechsel. Meine nächste Festivalstation war Mannheim. Von einem jungen zum nach der Berlinale ältesten deutschen Filmfestival, diesmal im 61. Jahrgang. Das Programm wird seit 1994 parallel auch in Heidelberg gezeigt und widmet sich vor allem Werken junger Autoren, Entdeckungen aus allen Ländern dieser Erde. Das macht es nicht nur für ein zahlreiches einheimisches Publikum interessant, sondern auch für Fachleute aus der Branche. Produzenten und Verleiher treffen sich beim »Mannheim Meeting Place«, um Projekte zu unterstützen und fertigen Filmen zu internationalen Starts zu verhelfen. Eine eigene Jury von Kinobetreibern spricht auch Empfehlungen für Filme aus, die sie für den Einsatz in deutschen Kinos ganz besonders geeignet halten. Anders als bei Preisträgern von Berlin, Cannes oder Venedig ist das bei den Newcomern von Mannheim keineswegs selbstverständlich, obwohl in der Geschichte des Festivals viele heute bekannte Namen ihre ersten Lorbeeren ernteten. Gerade einige Filme der Auswahl von 2012, die sich mit der Emanzipation muslimischer Frauen aus religiösen Zwängen beschäftigten, verdienten breitere Aufmerksamkeit. Festivaldirektor Michael Kötz hatte das Festival erstmalig unter ein Thema gestellt, »Leben: Aber wie?«, das er so kommentierte: »Wir wollen beweisen, wie aussagestark das Medium Film ist – weit jenseits der blöden Unterhaltung und des überflüssigen Zeit-Totschlagens der üblichen Mainstream-Filme: Wie nachhaltig und intensiv im Film solche existentiellen Fragen (ähnlich wie dies von der Literatur erwartet wird) erörtert werden, und zwar sehr sinnlich erörtert werden können.« Von Mannheim gleich (mit zweimaligem Umsteigen) nach Neubrandenburg. Hier war seit 1978 das Nationale Dokumentarfilmfestival der DDR zu Hause, im Dokumentaristen herausfordernden bewegten Herbst von 1989 zum letzten Mal. Doch die Stadt mochte ihr Festival nicht missen und erfand es deshalb neu als internationale »dokument-ART«, wobei der Akzent auf dem künstlerischen Dokumentarfilm liegen sollte. Auch beim 21. Jahrgang gab es unter 80 Filmen aus 20 Ländern dementsprechend manch experimentell Ambitioniertes neben klassischen Formaten. Internationale Gäste kamen diesmal neben anderen aus Afghanistan und vermittelten mit ihren Filmen interessante Einblicke in den Alltag von Kabul. Seit sechs Jahren pflegt Neubrandenburg eine Partnerschaft mit dem polnischen Szczecin, wo das gesamte Programm bei regem Zuspruch zeitgleich läuft, jeweils begleitet von angeregten Diskussionen zwischen Publikum und Filmemachern. Meine Reise vom größten zum kleinsten Festival hatte sich wieder gelohnt.
Erschienen in Ossietzky 3/2013 |
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