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Das Jahr 2013 begann in Großbritannien nicht zuletzt mit der Neujahrsansprache von Premier David Cameron. »Wir können mit Realismus und Optimismus in die Zukunft sehen«, befand der entspannt wirkende Regierungschef und frohlockte, die in diesem Jahr geplante Umstellung der Sozialhilfe nach deutschen Muster – sprich die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe – »wird Arbeitswillige fördern«. Welche zusätzlichen schmerzlichen Einschnitte die in Regierungskreisen als »überambitioniert« eingeschätzte »Reform« für die sogenannte Underclass konkret nach sich ziehen wird, ist noch nicht abzusehen. Nicht weniger überambitioniert erscheint der Versuch des Premiers, seiner politischen Zauberformel: »Weniger, nicht mehr Europa« entsprechende Taten folgen zu lassen. Der politische Druck der für einen EU-Austritt trommelnden United Kingdom Independence Party (UKIP) nimmt jedenfalls ebenso zu wie die Zahl der zur ihr überlaufenden Mitglieder aus vielen Tory-Ortsvereinen. Der Koalitionspartner, die Liberaldemokraten, stemmt sich gegen einen Abschied von der EU, und auch Teile der oppositionellen Labour Party sowie zahlreiche Auguren der Wirtschaft warnen immer lauter vor solch einer politischen Grenzziehung mit unkalkulierbaren Folgen. Im Unterhaus finden Austrittsphantasien gegenwärtig denn auch keine Mehrheit. Dennoch ergibt sich aus Umfragen, daß die Volksmehrheit in Großbritannien dem Ziel »continent cut off« – Kontinent abgeschnitten – bei einem Referendum zustimmen würde. Vielen Briten ist der nicht erst seit der Finanzkrise vorangetriebene Ausbau der »Brüsseler« Regulationsmacht mehr als nur ein Dorn im Auge, und Premier David Cameron hat sich vorgenommen, diesen stechenden Schmerz durch einen »Repatriierungsprozeß« zu lindern, über dessen Ergebnis das Volk dann direkt demokratisch abstimmen soll. Allerdings erst nach der wohl im Sommer 2015 erfolgenden Neuwahl des Parlaments. Bis dahin läuft freilich noch viel Wasser die Themse herunter. Worum geht es? EU-Skepsis ist nichts Neues bei der in den globalen Windschatten getriebenen ehemaligen Welt- und Seemacht samt ihrer Tradition großer kapitalistischer Freiheiten. Sie bestand im Königreich schon gegenüber der nach dem Krieg gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), der es erst 1973 beitrat. Die 1993 mit den Maastrichter Verträgen ausgerufene Europäische Union stieß schon gar nicht auf große Gegenliebe. »The thing« – wie die EU bezeichnenderweise verspottet wird – wurde von den britischen Regierungen ohnehin nur bedingt im Inselreich verankert. Dem den Güterverkehr und das Reisen erleichternden Schengenraum trat das Königreich ebenso wenig bei wie (zusammen mit Dänemark) der Eurozone. Nachdem die von Cameron geführten Tories vor einiger Zeit die konservative Europäische Volkspartei verließen und seine Regierung (mit durchaus guten Gründen) gegen den die Haushaltshoheit der Parlamente aushebelnden europäischen Fiskalpakt und jüngst zudem gegen eine Erhöhung des EU-Haushalts stimmte, möchte der Premier nun bestimmte Regulierungskompetenzen wieder den EU-Institutionen entreißen. Wie diese Repatriierung erfolgen, und vor allem, was im einzelnen wieder »very British« werden soll, dürfte allerdings frühestens Ende 2014 festgeschrieben werden, wenn die Wahlen für das Europäische Parlament abgehakt sind (und die UKIP womöglich nicht nur in den verarmten Vierteln der einst bedeutenden Industriestädte wie Manchester einen großen Triumph feiert). Ein Schelm, wer dabei an politische Taktiererei denkt. Im Ernst: Die von der finanzkapitalistischen Krise und wirtschaftlichen Rezession schwer gebeutelte EU steckt in einer politökonomischen Zwickmühle von gewaltigen historischen Dimensionen. Die durch Spar- und andere unsoziale Programme ruinierten lohn- und rentenabhängigen Bevölkerungsmehrheiten in vielen Mitgliedstaaten zahlen derzeit die astronomisch hohe Zeche der privaten Investoren, Banken und Spekulanten. Von einer mehrheitlichen öffentlichen Unterstützung der offenbar nur mehr dem Markt beziehungsweise globalisierten Kapital dienenden Union kann in den meisten Mitgliedstaaten keine Rede mehr sein. Es verwundert daher nicht, daß auch die von der Krise und Camerons Sparmaßnahmen gebeutelte britische Unter- und Mittelschicht die erheblich ausgebaute Durchgriffsmacht der EU-Institutionen gern beschnitten sähe. Der Druck auf Cameron, seinen nebulösen Phrasen vertraglich-handfeste Taten folgen zu lassen, dürfte in nächster Zukunft zunehmen. Allerdings wird der von Krisengipfel zu Krisengipfel irrende Europäische Rat Großbritannien bestenfalls mit einigen kleinen, anstandswahrenden Wortklaubereien entgegenkommen können. Schließlich hat das Vereinigte Königreich den 2009 von allen Mitgliedstaaten ratifizierten Vertrag von Lissabon unterschrieben. Die in diesem Vertragswerk für den europäischen Binnenmarkt festgeschriebenen Regeln, einschließlich der immer neuen Verordnungen und Richtlinien, sowie die für die Mitgliedsländer festgelegten finanziellen Verpflichtungen (nebst schon bestehendem »Briten-Rabatt«) sind realiter nicht nachverhandelbar. Ganz zu schweigen von den für alle EU-Länder verbindlichen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes. Sie sind schlichtweg nicht abstuf- oder verhandelbar – jedenfalls nicht ohne den gleichzeitigen Entschluß des Europäischen Rats, einen neuen europäischen Vertrag auszuhandeln. Britisches Veto hin oder her. Wer die fast schon »sagenhafte« Geschichte der nur mit Mühe und Not durchgesetzten jüngeren europäischen Verträge betrachtet, dürfte schnell zu dem Schluß gelangen, daß die Briten weitere Rabatte oder maßgeschneiderte Ausnahmeregelungen zwar verlangen, aber zweifellos nicht einmal ansatzweise für sich werden durchsetzen können. Erinnert sei zum Beispiel an die in Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheiterte europäische Verfassung sowie an das erste ablehnende Referendum der Iren für die Notlösung Lissabon-Vertrag (erst ein zweites Referendum machte den Weg frei, während hierzulande das dann zustimmende Votum des Bundesverfassungsgerichts zunächst keinesfalls sicher schien). Ganz abgesehen davon, daß die europäischen Eliten vor allem wegen des dramatisch unter Druck stehenden Euroraums eher mehr, denn weniger Kompetenzen in die Hände der EU-Kommission und anderer Aufsichtsgremien zu legen willens sind. Demokratisch geht es bei diesem Prozeß gewiß nicht zu, und wie das sich demnächst quasi zwangsläufig herauskristallisierende »Kern-Euro-Europa« aussieht, ist – etwa für die Griechen, Portugiesen, Italiener, Iren, Spanier und Zyprioten – eine entschieden entscheidendere Frage als die nach einem Verbleib oder Austritt des Vereinigten Königreiches. Fest steht: Laut Artikel 50 des Lissabon-Vertrages können Mitglied-staaten wieder aus der EU austreten. Einen Musterfall für dieses Prozedere gibt es freilich bislang nicht. Der von liberalen Ökonomen hochgeschätzte britische Ökonom Adam Smith erhellte vor 250 Jahren: »There are two ways to conquer and enslave a nation. »One is by sword, the other is by debt.« (Es gibt zwei Wege, eine Nation zu erobern und zu versklaven. Der eine geht durch das Schwert, der andere durch Verschuldung.) Welcher Weg seit 2009 für Griechenland planiert wurde, ist bekannt: strangulierende Verschuldung. Überhaupt nicht unschuldig daran ist eine britische Besonderheit, die den Namen »City of London Corporation« trägt und als weltgrößter Finanzplatz mit Tagesumsätzen von mehr als zwei Billionen US-Dollar gerühmt wird. Dort läßt sich das Fluchtkapital aus aller Welt verwalten und legalisieren, bevor es dann ganz nebenbei dazu dient, die eigentlich verlorene Weltgeltung Großbritanniens erneut zu etablieren. Solange die große angelsächsische Weltmacht jenseits des Atlantiks mitspielt, die USA mit ihrer tonangebenden Wall-Street, könnte jedenfalls ein von den Untertanen ihrer Majestät der Königin Elisabeth II. in einem Referendum besiegelter Ausstieg aus der EU der mit zehn Prozent zum Bruttoinlandsprodukt beitragenden City of London Corporation tendenziell gelegen kommen. Bis sich abzeichnet, wohin die Big Society unter der Regierung von Premier Cameron tatsächlich in der zunehmend ungeliebten EU steuert, werden jedoch noch unzählige Spekulationen ins Kraut schießen.
Erschienen in Ossietzky 3/2013 |
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