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Gesamtgesellschaftlich gesehen könnte man die 68er als solche vielleicht bezeichnen, denn viele von ihnen waren zumindest Halbwaisen. Ein zweifacher Verlust hatte in ihren Familien stattgefunden: der an möglichen Vorbildern – jeglicher Freigeist war während der Nazizeit ermordet worden – und der an ihren Eltern, denen mehrfacher Seelenmord widerfuhr, sie waren mehrheitlich zu Tätern an unschuldigen Menschen, Kindern, Frauen und Alten geworden, zu Brudermördern, Denunzianten, Massenabschlächtern gedungen, hatten hernach Verwundungen, Elend, Verluste und Hunger oder den gewaltsamen und zu frühen Tod erlitten. Das Schwefelholzmädchen hat zwar Eltern, die aber sind so arm, daß sie es am Silvesterabend zum Betteln schicken müssen. Insofern sind beide im übertragenen Sinne Waisenkinder. Während nun aber das eine Kind sich mit den Streichhölzern nur erwärmt und sich im Schatten fremden Reichtums in einer Straßenecke mit seinen Phantasiegebilden tröstet, bis es einschlafend erfriert, zieht das andere, hier als Terrorist bezeichnet, eine andere Konsequenz: die Flammen, in die sich der Tand der Warenhausüberproduktion auflöst, der durch Kinder- und Billigarbeit in fernen Ländern ermöglicht wird, die wir durch Kriege in Schach halten, enthalten in sich die Visionen eines gerechteren Lebens mit der Symbolkraft Feuer. Hier entsteht die Verbindung zu einem dritten in der Oper verwendeten Text von Leonardo da Vinci: »So donnernd brüllt nicht das stürmische Meer«, in dem der Held am Rande einer Höhle von dem Doppelgefühl der Furcht und des Verlangens ergriffen und geplagt wird, während um ihn her die Felsen bersten und die Schwefelfeuer rasen. Aus diesen Ideen baute sich Lachenmann ein Libretto, das nichts als unverständliches Gestammel (»einer an sich sprachlos erlebten Situation«, so das Programmheft) bleibt und nur einen Text im Wortlaut zitiert, nämlich den, das Kriminelle, Wahnsinnige und Selbstmörder die vom System produzierten Widersprüche zwar in sich verkörpern, andererseits aber sich selbst an diesem zertrümmernden System auch gleich mit zertrümmern. Etwas, was sich schließlich auch an Gudrun Ensslin, der Autorin dieses Textes, realisiert hat. Dazu gibt es Bilder einer Gesellschaft, die in voneinander getrennten Wohnkästen hausen, in denen die Angst regiert und das Fortkommen und der Widerstand gegen diese Angst, zu einem heimlichen Drahtseilakt in einem Lichtschacht wird, in den man vieltausendmal wieder zurückgestoßen wird, bevor man einmal ans Ziel gelangt. Die Zimmer sind seltsam: In einem sieht man zwei halbwüchsige Mädchen, es könnten die Schwestern Ensslin sein, sie tragen altmodische Faltenröcke aus den frühen 1960er Jahren und lernen an einem Flügel gutbürgerliche Hausmusik. Das helle Zimmer wird schließlich von Feuerwerkskörpern verwüstet und beschmutzt, die Brüchigkeit und Verlorenheit des Bürgertums wird sichtbar. Im zweiten Zimmer lebt ein Mann mit einer Frau in einer kleinen digitalen Filmwelt. Beide leben unverbunden, unkommunikativ, in enger Umgebung, an die Leinwand gebunden. Das Kleinbürgertum, das in Illusionen lebt. In einen dritten Raum gelangen die Menschen, die sich durch den Lichtschacht hindurchzwängen, sie bleiben im Dunkeln, sie experimentieren mit Flaschen, sie zündeln und springen nach hinten weg, es sieht wenig gemütlich bei ihnen aus. Sind das die, die sich selbst am Ende zertrümmern? Rechts davon ist ein Plafond unterm Sternenhimmel. Dort tanzen diejenigen, die den Weg hinauf und hinaus geschafft haben, mit dem Tod. Die Figuren wirken vor allem gestisch und mimisch und durch eine Fülle von Geräuschen, die einen Klangteppich weben und sich zu einer orchestralen Zertrümmerungsmusik verbinden. Es sind nicht Maschinen-, nein Menschengeräusche äußerster Vielfalt, sie wechseln sich ab mit solchen von Eintönigkeit, ja Uniformiertheit, zersplittern wie bei einer Explosion. Das wird kontrastiert durch leise Rhythmik, ein Herzklopfen, das sich steigert und steigert wie zu einem Schrei. All das fegt in Wellen durch den Saal und durchbrandet das Publikum. Die Menschen, die diese Töne erzeugen, mit Stäben, Papier, mit ihren Händen und Mündern, spielen auf den eigenartigsten, nicht zuzuordnenden Instrumententeilen und sitzen im ganzen Publikum verteilt. Die Musik umklammert die Zuschauer, hält sie gefangen, durchdringt sie aber auch. Ein eindrucksvolles Schauspiel, nicht ungefährlich. Es ist selber ein Spiel mit dem Feuer, denn der Autor hat mit dieser Oper 1990 oder vielleicht noch früher begonnen, sieben Jahre daran gearbeitet und sie schließlich 1997 in Hamburg uraufgeführt. Einige Jahre früher wäre sein Werk unzweifelhaft aus Sicht der damaligen Politik verdammt worden. Heute können Briefe von Gudrun Ensslin frei zugänglich erscheinen, heute darf auch ein Zitat von ihr im Mittelpunkt einer ganzen Oper stehen. 35 Jahre nach ihrem Tod beginnt zaghaft die Zeit der Erklärungen und die Suche nach Ursachen, jenseits von Verteufelungen. Deshalb kann heute Lachenmanns Oper gezeigt werden, jedoch nur denen, die der Wohlstand in die oberen Etagen unserer Finanz-Oligarchie-Diktatur gespült hat, die sich Karten für 70 oder 80 Euro leisten können. Kunst steckt in einem Dilemma: Sie ist, nach Lachenmann, »eine der letzten Bastionen«, ein »antikapitalistischer Raum«, »zumindest nicht direkt vom Geld gesteuert«, der Künstler hat also relative Freiheit, sich zu entfalten, sie kommt allerdings oft nicht bei ihrer antikapitalistischen Zielgruppe an, da die bürgerliche Kunst in einem Elfenbeinturm steckt, aus dem zu entfliehen nur mit viel Mühe und meist erst einige Jahrhunderte später gelingt. Günstiger war da Luigi Nonos Oper in einem alten Heizkraftwerk. Die Musik seines Schülers Lachenmann paßt nicht in vornehme Opernhäuser, wo die Aktionärsgattinnen lange Schleppen tragen. Ich wünsche sie mir in die abgewickelten ostdeutschen Fabrikruinen, die man allüberall entlang der Eisenbahnlinie nach Greifswald und Usedom stehen sehen kann. Hier haben einmal Menschen gearbeitet und gar nicht so schlecht. Nun sind sie arm wie das Schwefelholzmädchen. Die Fabrikhöhlen sind kalt und leer. Hier kann man die Angst geradezu sehen, die die Menschen unseres Jahrhunderts packt und aus der Wut und Widerstand entstehen. Das wäre eine Analogie, die wahrhaft passend wäre.
Erschienen in Ossietzky 2/2013 |
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