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Sieger wurde nicht wie allgemein erwartet der Leiter der MfS-Gedenkstätte in Berlin-Hohenschönhausen und Träger des Bundesverdienstkreuzes, Hubertus Knabe, mit seiner beeindruckenden Analyse, daß man die Opfer der »beiden Diktaturen« in Deutschland »nicht gegeneinander aufrechnen, sondern ... selbstverständlich addieren« muß, um »das ganze Grauen dieser Zeit« zu erfassen, sondern »Deutschlands klügster Kopf« (Bild), der altgediente Konservative Arnulf Baring, mit seiner bekannten Einschätzung: »Die Leute drüben sind verzwergt ... und verhunzt ... Ob sich heute einer dort Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Psychologe, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig egal: Sein Wissen ist auf weite Strecken unbrauchbar.« Inzwischen wurde aus einer leider unzuverlässigen Quelle, etwa in der Art des von einem Mann betriebenen Syrien-Informationsbüros in London, vermeldet, daß unsere Bundeskanzlerin Klage, genauer eine Verleumdungsklage gegen Baring eingereicht haben soll. Als eine von »drüben« wolle Angela Merkel, so die unbestätigte Information, nicht länger die Beleidigung hinnehmen, daß sie »verzwergt und verhunzt« sei und ihr in Leipzig erworbenes Wissen als Physikerin, die immerhin in Ostberlin am Zentralinstitut für physikalische Chemie auf dem Gebiet der Quantenchemie geforscht und 1986 zur Dr. rer. nat. promovierte, nichts wert sei. »Verzwergt und verhunzt« hätte sie auch niemals die verantwortungsvolle Funktion einer FDJ-Sekretärin für Agitation und Propaganda an der Akademie der Wissenschaften ausüben können. Offenkundig, so der Informant, fühle sie, die erst kürzlich mit einem an die DDR erinnernden Zuspruch von 97,9 Prozent an die Spitze der CDU wiedergewählt wurde, sich in ihrer persönlichen Ehre beschädigt und hoffe zugleich, mit diesem mutigen Schritt angesichts der heranrückenden Bundestagswahl ihr persönliches Ansehen und das der von ihr geführten Partei unter den ostdeutschen Landeskindern zu erhöhen. Angeblich soll sich auch Bundespräsident Joachim Gauck, der an einer ostdeutschen Universität Theologie studierte, mit dem Gedanken tragen, sich der Klage der Kanzlerin anzuschließen. Interessanterweise sollen beide Staatsoberen die Meinung vertreten, daß die Bundesrepublik aus der Erbmasse des untergegangenen Staates neben dem Treuhand- und dem anderen Volksvermögen schließlich auch das Sand- und das Ampelmännchen übernommen habe. Ermutigt durch diese Information, die möglicherweise auch nur ein dem Wahlkampf geschuldetes Gerücht ist, mucken neuerdings auch andere bisher schweigende Ostbürger, darunter auch ehemalige Direktoren von Industriekombinaten, also unter dem Politbüro-Admiral Günter Mittag geschurigelte Wirtschaftskapitäne, auf und erklären, daß von der DDR – auch ohne Abschaffung der Marktwirtschaft – noch so manches andere hätte übernommen werden können. Und so zählen sie unter anderem auf: gesicherte Arbeitsplätze; niedrige Mieten und keine Obdachlosigkeit; niedrige Tarife für Strom, Gas, Wärme, Wasser und Entwässerung; langfristig bezahlbare Pachten für Wochenendgrundstücke und Kleingärten; umfassende Fördermaßnahmen für Frauen und Jugendliche, junge Eheleute und kinderreiche Familien; Abgabe von Medikamenten und Krankenhausaufenthalte ohne Zuzahlung, vorbildliche Betreuung von Schwangeren; das dichte Netz von Theatern, Orchestern, Museen, Bibliotheken, Kulturhäusern und Klubs für die Jugend; niedrige Preise für Bücher, Zeitungen und Zeitschriften sowie für die Benutzung von Bibliotheken, für Kino-, Theater-, Konzert- und Museumsbesuche; weitgehende Chancengleichheit im Bildungswesen, unentgeltlicher Besuch aller staatlichen Bildungseinrichtungen, einheitliche Abiturprüfungen im ganzen Land, Stipendien für alle Studenten; unentgeltliche Kinderbetreuung, minimale Preise für Essen und Milch in Kinderkrippen und -gärten sowie für Schulspeisung und Teilnahme an Ferienlagern; ein entwickeltes System der Berufsausbildung ohne Mangel an Ausbildungsplätzen und nahtloser Übergang in den erlernten Beruf; vorbildliche gesundheitliche Betreuung der Kinder und Jugendlichen von obligatorischen Schutzimpfungen bis zu wiederkehrenden prophylaktischen Untersuchungen. Hören die Reichen und ihre Kassenwarte in der Regierung diese Aufzählung, dann stimmen sie den bekannten Karnevalsschlager an: »Wer soll das bezahlen, wer hat das bestellt, wer hat so viel Pinkepinke, wer hat so viel Geld?« Sie barmen, als wüßten sie nicht, daß das höchst ungleich verteilte private Netto-Vermögen mittlerweile rund zehn Billionen Euro beträgt und allein schon eine Millionärssteuer viele Milliarden in die Staatskassen spülen würde. Warum sollte die »reiche Bundesrepublik«, der »Stabilitätsanker in Europa«, nicht das bezahlen können, was die »arme DDR« leistete? Auch meinen die durch die unbestätigte, aber bisher auch nicht dementierte Klage der Kanzlerin Ermutigten, vor allem eben die Industriekapitäne ohne Schiff, daß die herrschende Marktwirtschaft mit einigen Elementen der wirtschaftlichen Planung kombiniert werden könnte. Nach ihrer Auffassung könnte das in den Zeiten der Banken-, Schulden- und Eurokrise dazu beitragen, die explodierende staatliche Verschuldung einzudämmen. Dabei verweisen sie auf den Umstand, daß die DDR dank ihrer Planwirtschaft weit weniger über die eigenen Verhältnisse gelebt habe als die alte Bundesrepublik. Als Beweis führen sie an, daß zum Zeitpunkt der »Wiedervereinigung« die Pro-Kopf-Verschuldung östlich von Elbe und Werra bei 5.298 DM und westlich davon bei 16.586 DM lag. Während die nun neuen Bundesländer eine Gesamtschuld von 86,3 Milliarden in die Einheit einbrachten, hätten die alten 924 Milliarden DM Miese beigesteuert. Mit einer gewissen Selbstgefälligkeit behaupten die noch immer »neue Bundesbürger« Genannten auch, daß bei einem Mindestmaß an staatlicher Planung einige chaotische Zustände bei der Energiewende nicht eingetreten wären. Zum Beispiel wäre es schwerlich dazu gekommen, daß mit einer enormen Leistung auf hoher See gewaltige Offshorewindparks errichtet, die notwendigen Anschlüsse an das deutsche Stromnetz aber vergessen wurden. Einige besonders Niederträchtige, die ihre Liebe zu planwirtschaftlichen Elementen wiederentdeckt haben, sind gar der Ansicht, daß diese zum Beispiel das permanente Desaster bei der hauptstädtischen S-Bahn, die zu DDR-Zeiten auch bei extremen Witterungsbedingungen reibungslos funktionierte, verhindert hätten. Allein schon bei einem Minimum an gesellschaftlicher Planung wäre auch die schier endlose Reihe von Pleiten, Pech und Pannen bei Großprojekten vermieden worden, so beim Bau des Bahnhofes Stuttgart 21, des Flughafens Berlin-Brandenburg International, des Freizeitparks am Nürburgring, des Glaspalastes der Elbphilharmonie in Hamburg und so weiter. Gern werden in diesem Zusammenhang auch die massenhaften Baufehler am zukünftigen Monster-Hauptquartier des Bundesnachrichtendienstes in Berlin erwähnt, des »größten Bauvorhabens der Bundesrepublik«, wie Ronald Pofalla, Chef des Bundeskanzleramtes, zu sagen pflegte. Mit einem leichten Anflug von Nostalgie erinnern sich die Planfreunde an den Bau des Palastes der Republik auf der Berliner Spreeinsel mit dem Sitz der Volkskammer und seinen einzigartigen Veranstaltungsräumen. Nach nur 32monatiger Bauzeit hatten sich wie vorgesehen seine Tore geöffnet. Nicht anders sei ein Jahrzehnt zuvor der Bau des Berliner Fernsehturms, des höchsten Bauwerks Deutschlands, verlaufen, der in vier Jahren nach oben wuchs und wie geplant am 7. Oktober 1969, zum 20. Jahrestag der DDR-Gründung, eröffnet wurde. Wäre der Bau eines solchen Turmes mitten im Stadtzentrum unmittelbar nach der »Wiedervereinigung« unter den Bedingungen der planlosen Marktwirtschaft in Angriff genommen worden, dann, so spotten einige von der Klage der Kanzlerin Animierte, würden die Berliner und ihre Besucher wohl noch heute das Baugeschehen in luftiger Höhe verfolgen können. Aber gut, noch ist die Klage nicht bestätigt, und Baring kann sich ungestört über seinen ersten Platz im Schmähcontest freuen. Den »Verzwergten und Verhunzten« ist es ein Bedürfnis, ihm aufrichtig zu gratulieren und der Kanzlerin ihr solidarisches Mitgefühl zu bezeigen, daß auch sie eine von »drüben« ist.
Erschienen in Ossietzky 2/2013 |
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