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Der Papst, der UN-Generalsekretär, die Queen, der EU-Kommissionspräsident, zahlreiche Regierungschefs und Minister – also das westliche Führungspersonal – suhlten sich im entsetzten Nichtverstehen und versicherten wie die deutsche Kanzlerin den USA ihre Solidarität und Sympathie. Amokläufe wie der in Newtown gehören zu den USA wie Hollywood, wie die nicht aufsteigenden Tellerwäscher, die weltweiten Folterungen oder der Glaube, Gottes auserwähltes Land zu sein. Präsident Barack Obama hielt in seiner bisherigen Amtszeit vier Trauerreden an den Orten solcher Amokläufe, wobei er sich die spektakulärsten aussuchte. Der Amoklauf eines William Spengler am Lake Ontario zwei Wochen nach Newtown, bei dem »nur« drei Menschen getötet wurden, blieb beispielsweise unbeachtet: Vielleicht weil Christmas war und der US-Präsident urlaubte oder weil der Amokläufer nur aus der Arbeiterklasse kam, die auch für Obama ein »subpolitical topic« darstellt, also öffentlich nicht existiert. Daß man die Amokläufe und Massaker in den USA nicht verstehen kann – dazu reicht die bornierte Wahrnehmungsfähigkeit zum Beispiel der christlich lackierten Bundeskanzlerin und Dienerin »der Märkte« aus. Gossenmedien wie Bild organisieren dazu die kollektive Tränendrüse, indem sie die bunten Fotos der ermordeten Kinder mit ihren strahlenden Kinderaugen und ihren Vornamen und mit der Zahl ihrer wenigen gelebten Jahre präsentieren: Wie menschlich, wie mitgefühlig! Und selbstverständlich »fassungslos«. Man kann nicht verstehen. Vor allem: Man darf nicht verstehen. Denn das Verstehen würde das systemrelevante Tabu der westlichen Wertlosgesellschaft aufbrechen: die Logik der Führungsmacht USA, die von wiederkehrender, sich steigernder Gewaltanwendung und Vernichtung Unbeteiligter geprägt ist – nicht nur innerhalb des nordamerikanischen Territoriums. Die Mutter des Amokläufers kaufte sich nach ihrer Scheidung 2008 fünf Waffen, auch ein halbautomatisches Sturmgewehr, die spätere Tatwaffe. Die ortsbekannte Waffennärrin residierte in einer geräumigen Villenanlage im Kolonialstil mit einem Dutzend Zimmern, bekam jährlich laut New York Magazine knapp 325.000 US-Dollar von ihrem geschiedenen Ehemann, einem Manager im Erfolgskonzern General Electric. Die Familie wollte auch die beiden Söhne in dieses Milieu aufsteigen lassen. Beim älteren Sohn gelang es, er arbeitet bei der renommierten Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young im New Yorker Finanzdistrikt, die bekanntlich wie die anderen renommierten US-Wirtschaftsprüfer falsche Bilanzen betrügerischer Finanzinvestoren absegnet. Der jüngste Sohn sollte auch so etwas werden, aber es gelang nicht. Die Mutter lehrte die Söhne das Schießen. Der zukünftige Amokläufer, der Looser, war wie andere bekannte Amokläufer ein freundlicher, etwas zurückgezogener junger Mann. Er war »unauffällig«. Die Mutter verstand offensichtlich nicht, was sich in ihrem Sohn anstaute. Plötzlich zerschoß aus diesem idyllischen Gehäuse des Nichtverstehens der einsame, hochgerüstete Sohn im schwarzen Kampfanzug mit Schußweste seiner mütterlichen Waffennärrin cool das Gesicht, bevor er den Rest des Massakers abspulte. Terroristen wie Lanza kommen aus der »Mittelschicht«. Die muß als staatstragende Klasse des »amerikanischen Traums« immer mehr Geld aufwenden und Zwang ausüben, um den Aufstieg der Kinder zu organisieren. Sie schafft dies aber immer weniger. Die im Aufstieg verhärteten und verklärten und mit sich selbst beschäftigten Eltern verstehen ihre Loser-Kinder nicht. Aus dem dollarumglänzten Erfolg und der bewaffneten Idylle entlädt sich plötzlich und unverstehbar der Massenmord. Nach jedem Amoklauf vermitteln uns die Medien routinemäßig, daß die USA der Staat sind, in dem die Bürger – es sollen etwa 50 Prozent der Bevölkerung sein – unvergleichlich mehr Schußwaffen besitzen als in jedem anderen Staat. Daß es 50.000 registrierte Waffengeschäfte gibt. Daß bei Maschinengewehr-Parties treusorgende Papis und inzwischen auch Moms den Söhnen und inzwischen auch Töchtern die Baseballmütze aufsetzen, den Schalldämpfer über die Ohren ziehen und die erfolgsverpflichtete Brut an den Schießstand führen. Wir hören nach jedem Amoklauf, daß die Waffenlobby National Rifle Association (NRA) so mächtig sei. Ihr Einfluß auf die öffentliche Meinung und den Gesetzgeber scheint unerklärlich zu sein. Aber wenn man nur ein bißchen genauer hinschaut, lüftet sich das Geheimnis, zumindest teilweise. Die NRA ist mit der einen US-Regierungspartei, den Republikanern, verschwistert und verschwägert. Das hat viele Facetten, nicht nur die traditionellen Spenden an Politiker. Beispielsweise gehören die etwa zwei Dutzend wichtigen Hersteller von Feuerwaffen, Munition und vielfältigem Zubehör Private-Equity-Investoren (»Heuschrecken«) wie Cerberus, Mid Ocean Partners, Blackstone, Wellspring Partners und der United Bank of Switzerland. Die haben von den Deregulierungen seit Ronald Reagan und William Clinton besonders profitiert. Ehemalige Regierungsmitglieder werden Lobbyisten der Waffenindustrie. Die NRA bespendet auch die andere Regierungspartei, die Demokraten, die noch nie eine solche Spende zurückgewiesen haben. Das halbautomatische Sturmgewehr AR-15 mit aufwendiger Zieleinrichtung wird vom Unternehmen Bushmaster hergestellt. Es gehört zur Waffen-Holding, die mit ihrem Namen »Freedom Group« (Freiheits-Gruppe) Wert darauf legt, daß das Klischee der Freiheit US-amerikanischer Provenienz zugleich harte Realität ist. Die lukrativ das Volk aufrüstende Freiheits-Gruppe gehört einem der größten Private-Equity-Fonds namens Cerberus (lateinisch für Höllenhund). Wenn die NRA fordert, daß zur Vermeidung von Amokläufen die Schulen besser bewaffnet werden sollen, so ist diese perverse Logik in den USA gar nicht so abwegig wie die Gutmenschen aus der liberalen Öffentlichkeit meinen: Der kalifornische Lehrerpensionsfonds California State Teachers‘ Retirement System (CalSTRS) hat 750 Millionen Dollar in der Freedom Group angelegt. Die Legitimation des privaten Waffenbesitzes wird aus dem 2. Zusatzartikel zur US-Verfassung abgeleitet. Doch dieser Zusatz von 1791 ging auf die Erfahrung zurück, daß die Soldaten der Union im Kampf gegen die Briten miserabel ausgebildet waren und schlecht schossen. Deshalb sollten »für die Sicherheit eines freien Staates« die Bürger Waffen haben und das Schießen üben können. Diese Situation ist längst vorbei. Die USA haben eine große (zu große) Armee, und dort wird gewiß nicht nur zum guten Schießen an Sturmgewehren ausgebildet. Erst 2008 hat der US High Court den privaten Waffenbesitz höchstrichterlich aus dem 2. Verfassungszusatz abgeleitet – ein typisch neoliberaler Verfassungsbruch, der allerdings schon durch eine hundertjährige Praxis vorbereitet war. In den USA werden jährlich etwa 30.000 Menschen durch Einsatz privater Schießprügel getötet. Sie dienen aber nicht der »Sicherheit eines freien Staates«, sondern Bürger bedrohen und töten sich gegenseitig. Sie leben in stummer Angst neben- und gegeneinander. Ihr Waffenbesitz führt zu Unfreiheit und Selbstzerstörung. 60 Prozent der genannten Tötungsfälle bestehen darin, daß die Waffenbesitzer Selbstmord begehen. Auch die Amokläufer töten sich selbst. Die Vernichtungs-Logik wird von der Waffenlobby forciert, aber auch von den kritischen Gutmenschen mitverantwortet. So will etwa Obama wenigstens die halbautomatischen Sturmgewehre verbieten lassen und den Handel bei Waffenmessen »besser kontrollieren«. Möglicherweise meint er es ernst, auch weil kurzzeitig nach jedem größeren Amoklauf die in der Hälfte der Bevölkerung verankerte Kritik verstärkt Gehör findet. Aber selbst wenn der individuelle Waffenbesitz eingeschränkt würde, so würde das so gut wie nichts nützen. Denn die Doktrin »Freiheit ist nur möglich mit immer mehr Waffen« ist fest im Muster der US-Industrie und in der herrschenden und der mitherrschenden und der nach Mitherrschaft und zum Mitgewinnen gierenden Klassen und Schichten verankert, zum Beispiel auch in der lukrativen Unterhaltungsindustrie. Und: Der Amok-Staat als angemaßte Freiheits-Führungsmacht exportiert seine tödliche Logik weltweit. Er agiert als führender Waffenexporteur und Foltermeister und mit 700 Militärstandorten weltweit wie zuhause: Nach der Logik der sich selbst verstärkenden Gewalt. Und wenn die Soldaten und unbemannten Drohnen des Chief Commander des US-Militärs irgendwo in der Welt beim Kampf um die bewaffnete Rendite-Freiheit auch Kinder ermorden – und zwar sehr viele mehr als bei den Amokläufen in den USA –, dann reist auch der gute Obama nicht dorthin, um Trauer wenigstens zu simulieren. Und es rührt sich dann kein Mitgefühl bei den Mittätern aus der Wertegemeinschaft der gefühllos entsetzten Nichtversteher. Auch die professionalisierte Mitfühligkeit des Papstes breitet sich hier urbi et orbi nicht aus, sondern verdunstet an der Grenze zum andersgläubigen Feind. Der kranke Weltpolizist schießt in seinem moralischen und wirtschaftlichen Niedergang heftiger um sich denn je, im Inneren und im Äußeren. Entreißt ihm die Waffen! Entmachtet die entsetzten Nichtversteher, die ihm gewinngierig und unterwürfig die Treue halten!
Erschienen in Ossietzky 2/2013 |
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