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Seit Marx wissen wir, daß der Kapitalismus unter anderem an einem zentralen Widerspruch leidet: Die Unternehmer wollen die Lohnkosten als Kostenfaktor stets minimieren, gleichzeitig aber reduzieren sie damit die Massennachfrage nach den Gütern, die sie so kostenoptimal hergestellt haben. Das Produktionspotential überschießt die kaufkräftige Nachfrage, die Krise ist unvermeidlich, Produktion muß gekürzt werden, Arbeitsplätze werden abgebaut, Investitionen finden kaum mehr statt, Rezessionen dafür umso mehr. Zu Zeiten des sogenannten Fordismus waren diese Krisen innerhalb kürzerer Zeit zu bewältigen. Die Masseneinkommen waren lange proportional zur Entwicklung der Arbeitsproduktivität gewachsen. Die Dimension zwischen dem Produktpotential und der Nachfrage klaffte nicht so weit auseinander, mit einer kurzen Entwertung eines Teils des Kapitals in der Krise war das Gleichgewicht wieder hergestellt und der neue Konjunkturzyklus konnte anlaufen. Seit der Durchsetzung der neoliberalen Akkumulationsweise ist dies unmöglich. Die Arbeits- und sonstigen Masseneinkommen wuchsen nur um ein Zehntel der rasanten Entwicklung der Arbeitsproduktivität. Den »Rest« des Zugewinns, also neun Zehntel, steckten die Unternehmer und Geldvermögensinhaber ein. Private und Staaten mußten sich ihr Geld bei Banken und anderen Vermögensverwaltern leihen, um einigermaßen ihre Ansprüche befriedigen zu können. Deshalb haben wir heute in allen fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten eine enorme und wachsende Verschuldung von Privaten, von Staaten und von Unternehmen. Die zehn höchstentwickelten Industriestaaten der OECD sind zu 340 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts verschuldet. Das heißt, die Länder müßten inklusive der Zinszahlungen vier Jahre lang arbeiten und jeden Euro zur Schuldenrückzahlung verwenden, also keinerlei Konsum, keinerlei Neuinvestition, keine Sozialleistungen, keinerlei Staatstätigkeit – vier Jahre lang geht alles an die Gläubiger. Die Welt käme zum Stillstand, aber die Reichen hätten ihr Geld. So dumm sind sie aber nicht, die Reichen, denn danach wäre es ja aus mit der Zinsherrlichkeit. Deshalb läuft das jetzige System darauf hinaus, die Völker sparen und schuften zu lassen, so daß sie die Zinsen möglichst pünktlich und in großer Höhe zahlen können. Die Europäische Union und die Euro-Gruppe sind zu einem Inkassobüro für Banken und Reiche verkommen. Die EU-Staaten sind heute mit 11.500 Milliarden Euro verschuldet, also mit 11,5 Billionen. Pro Jahr müssen zwei Billionen Euro neu an Schulden aufgenommen werden, das sind vier Fünftel des deutschen Sozialprodukts, um die alten Schulden zu bedienen. Darauf zielt die jetzige Austeritätspolitik der allgemeinen Kürzung für die Bevölkerung ab. Nirgendwo geht es um soziale Gerechtigkeit, um den Aufbau neuer Wirtschaftsstrukturen. Oberstes Ziel ist das Wegkürzen von sozialen Leistungen und Masseneinkommen, um die Gläubiger befriedigen. Dieser Politik müssen wir den Weg verlegen. Wir brauchen die höhere Besteuerung der Reichen, die ihren Reichtum in den Jahren seit 2000 in Deutschland um fast 50 Prozent erhöhten haben, während die Masseneinkommen stagnierten, real sogar absanken. Das private Geldvermögen übertrifft die Staatsverschuldung in Deutschland um das Zweieinhalbfache. Aber seit 1997 ruht in Deutschland die Vermögensteuer. Hier müssen wir ansetzen, nicht an den Sektoren Bildung, Gesundheit und Soziales. Außerdem sind die Staatsschulden akribisch zu überprüfen: Welche sind warum legitim, welche sind offenkundig illegitim und müssen sofort gestrichen werden. Griechenland hat anteilig den höchsten Militäretat der Euroländer – wieso sollen die Griechen für Kredite zahlen, die der korrupte Staat Griechenland vom korrupten Staat Deutschland zum Ankauf deutscher U-Boote und Panzer erhalten hat? Ein großer Teil der Schulden Griechenlands fand sich als Umsatz in den Bilanzen deutscher Konzerne wie Mercedes-Benz, Audi, BMW oder Krauss-Maffei Wegmann. Dafür sollen sich die Griechen ihre Renten kürzen lassen, ihre Arbeitsplätze aufgeben, sich abschneiden lassen von Medikamenten und Ärzten? Irrsinn. Wir brauchen eine europäische Schuldenkonferenz, auf der der Großteil der heutigen Staatsschulden ersatzlos gestrichen wird. Es gibt historische Vorbilder für ein solches Vorgehen, beispielsweise die Londoner Schuldenkonferenz 1952, auf der die West-Alliierten der BRD die Schulden erlassen haben. Damals ging es darum, ein aggressives Bollwerk gegen den realen Sozialismus zu schaffen. Heute geht es darum, ob uns die Frage des Wohlergehens der europäischen Völker wichtiger ist als die Sorge der Banken und sonstigen Gläubiger um ihre Kredite. Unsere Wahl ist klar: Uns interessieren die Völker mehr als die Bilanzen der Banken. Conrad Schuhler, Diplom-Volkswirt, Vorsitzender des ISW (Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung, München).
Erschienen in Ossietzky 1/2013 |
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