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Die Einwohnerzahl ist um fast zwei Millionen gestiegen, das Land besitzt viel mehr moderne Straßen – und mehr Mauern, mitten in der Wüste, rings um Felder. Seit es die Mauer nach Palästina gibt, ist die Zahl der Sprengstoffanschläge auf Null gesunken, sagte man uns. Uns: Wir waren eine Reisegruppe von politisch Interessierten, mit der thüringischen Landeszentrale für politische Bildung als Reise-Organisator. So kamen wir mit Menschen außerhalb üblicher Tourismusmeilen zusammen. Abgesehen davon, daß auch jeder Israel-Vergnügungs-Reisende die Probleme des Landes spürt, scharfe Kontrollen über sich ergehen lassen muß. Das ist verständlich, wird für Sicherheit in Kauf genommen. Doch warum ist bei der Ausreise (!) dreistündiges Filzen erforderlich, wo nicht nach verborgenen Flüssigsprengstoffen gefahndet wird, sondern nach Büchern? Wo haben Sie die Bücher gekauft? Von wem gekauft? Welchen Inhalt hat das Buch? – Soll man dem Kontrolleur mit Heine antworten: Mein Kopf ist ein zwitscherndes Vogelnest / Von konfiszierlichen Büchern? Hat man das Recht, sich sarkastisch zu äußern, wenn man einst sein eigenes Land ähnlich erlebte, in dem die Frage nach verborgenen, also verbotenen Druckschriften der ideologischen Reinhaltung diente? Das sind die kleineren, eher humoristischen Widersprüche in diesem Land, das fasziniert und uns Deutsche scharf und eindringlich an unsere Geschichte erinnert. Nicht nur in Yad Vashem, wo die früheren jüdischen Gemeinden in hellen Stein gehauen sind und die Lagernamen im Halbdunkel stehen. Natürlich sind jene Orthodoxen kurios, die eine osteuropäische Tracht aus dem 18. Jahrhundert als Ausweis von Rechtgläubigkeit vorzeigen, wo doch deren Monotheismus viele tausend Jahre Geschichte beinhaltet. Gewiß sind die christlichen Taufen im Jordan mit züchtig verhüllenden weißen Gewändern verwirrend, ist doch nach der Taufe das züchtig Verhüllte so deutlich zu sehen, wie an keinem FKK-Strand. Halbsätze mit halben Erkenntnissen drängen sich auf: Daß man mit Russisch-Kenntnissen in manchen Gegenden besser klarkommt, als mit Englisch, von der alten, schönen, fast ausgestorbenen Sprache Jiddisch ohnehin abgesehen. Daß Jerusalems Altstadt trotz christlicher oder jüdischer Viertel, trotz Klagemauer und Kontrollen eine arabische Stadt ist. Daß das von christlichen Palästinensern gebraute Bier von einem Rabbi aus einer Siedlung fit, um einen laxen Begriff für »koscher« zu verwenden, für den Genuß in Israel gemacht wird. Daß das Wort Siedlung hier eine andere Bedeutung hat – all das trägt dazu bei, daß unsereiner nach einem Israel-Besuch zwar mehr weiß, aber nicht unbedingt mehr versteht. In Ramallah, der Palästinenser-Hauptstadt, gibt es einen »Ständigen Vertreter« Deutschlands, weil ein Botschafter nicht opportun ist. Kommt unsereinem nicht unbekannt vor. In diesem Ramallah spricht man in der Adenauer-Stiftung vom Wasserverbrauch, gemeint sind Wasserlieferzahlen: 70 Liter für einen Palästinenser, 320 Liter für einen Siedler – also einen jener Leute, um nun doch eine Erklärung zu versuchen, die auf palästinensischem Gebiet wohnen, nach israelischem Recht illegal, aber von der Armee – und auch von Mauern – geschützt. Die Wasserzahlen kann der Journalist David Vitzthum nun gar nicht bestätigen – er weiß nichts davon. Auch der Israel-Kenner Ulrich Sahm, in dessen Wohnung wir einen Abend lang zu Gast sein dürfen, will davon nichts wissen. Dafür möchte er uns erklären, daß die Pferdefleisch-Abstinenz in Deutschland nichts anderes ist als das Schweinefleischverbot für gläubige Juden. Daß ein demokratisch und westlich orientierter Staat wie Israel für die Ehe keine Trennung von Kirche und Staat kennt, muß dann nicht mehr wundern. Wer standesamtlich heiraten will, ohne Rabbi, ohne Pfarrer, reist nach Zypern. Während eines Gesprächs mit Bruder Nikodemus, Benediktiner in der Dormitio-Abtei auf dem Zionsberg, erfahren wir nebenbei, daß er kürzlich auf der Straße aufgrund seines Äußeren – die Mönchskutte – zusammengeschlagen wurde. Von drei strenggläubigen Juden. Oder ist die strenge Gläubigkeit nur aufgesetzt und angehängt, wie Kippa und Ziziot, die Schauschnüre? Einige Stunden später sitzt der Sprecher der israelischen Armee vor uns. Aufgewachsen in Berlin-Spandau und im Wedding, was er sprachlich nicht verleugnen will und kann. Er erzählt, warum er sich in Berlin zunächst mit einem Kurden verbündete, denn moslemische Schläger kamen ihm nicht selten nahe. Später wurde ihm aufgrund solcher Erlebnisse dieses Deutschland doch zu ungemütlich, ihm, dessen Eltern aus dem Iran stammende Juden sind. Jetzt ist er israelischer Staatsbürger und will von uns nicht nach der Politik gefragt werden, denn die Armee sei strikt unpolitisch. Wir erwähnen aber doch jene Episode, die uns vor ein paar Stunden von Bruder Nikodemus erzählt wurde. Tja, Schlägereien kämen leider überall auf der Welt vor, das könne man politisch nicht ernst nehmen. Ob solches den einzelnen Punks und Juden, die sich in Deutschland gelegentlich Trupps von Rasse- oder Allahgläubigen ausgeliefert sehen, hilft? Ich fürchte, der Glaube an eine gemeinsame Ölberg- oder Ölzweigkultur nützt da nicht viel. Vorerst leben wir mit halben Wahrheiten. Doch es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als sie für uns zu ergänzen.
Erschienen in Ossietzky 25/2012 |
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