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Und klugerweise Protestanten in seine Partei holte, aber doch darauf achtete, daß sie nicht übermütig wurden ... Immerhin hat dieses Spitzenpersonal den Vorzug, daß nicht gefremdelt wird, wenn es zu einer schwarz-grünen Bundeskoalition kommt. Die wird wahrscheinlicher, denn auf die FDP kann sich Angela Merkel nicht verlassen, und mit der SPD zu partnern, könnte an dieser Partei selbst scheitern – sie ist zu sehr damit beschäftigt, die Nebeneinkünfte ihres Spitzenkandidaten dem Volke nahezubringen. Und die Grünen, obwohl sie sich derzeit gezielt zieren, werden, wenn die Lage es nahelegt, auch ein schwarz-grünes Bündnis nicht scheuen, die »staatspolitische Verantwortung« gebietet es. Katrin Göring-Eckardt will ihre Partei zum Angebot für die »bürgerliche Mitte« machen, sagt sie. Das wird nicht schwerfallen, denn mittig-bürgerlich sind die meisten Grünen längst, deshalb hatte ihre Partei auch die schönen Erfolge im Baden-Württembergischen. Und Jürgen Trittin steht einer Annäherung an die CDU überhaupt nicht im Wege, er weiß je nach Lage, wo der Barthel den Regierungsmost holt. Außerdem ist er sogar großbürgerlich akzeptiert, die Bilderberger haben ihn in ihre Gespräche einbezogen, da versammelt sich das Kapital international. Präsenz dort muß allerdings durch den Nachweis von Verständnis für die heimischen Minderbemittelten kompensiert werden. In den Zeitungen, die über die Grünen wohlwollend berichten, wird Katrin Göring-Eckardt als Politikerin mit »sozialem Herzen« gelobt. Ganz praktisch war sie schon in Sachen Sozialpolitik aktiv, unter der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder. Damals hat sie als Fraktionsvorsitzende im Bundestag dahin gedrängt, daß die grünen Abgeordneten den Agenda-2010-Gesetzen zustimmen. Möglicherweise könnte dies nachdenklich machen, also reden wir jetzt nicht weiter darüber. Hauptsache ist, daß die Mitglieder und WählerInnen einer Partei, die in der Mitte angekommen ist, ein gutes Gefühl dabei haben, nicht nur biologisch-dynamisch, sondern auch karitativ oder sagen wir hier besser diakonisch. Da ist eine Frau aus dem Pfarrhaus gerade die richtige Zweite an der Spitze, der Finanzminister in spe allein wäre unzureichend, auch wenn die Medien ihn immer noch als Linken etikettieren. Besonders intensiv müssen sich allerdings die Grünen um »Hartz IV«-Empfänger, Niedriglöhner, Minijobberinnen und andere Menschen unterhalb der Mitte nicht kümmern, die Partei hat ihren sicheren Platz bei den Gutverdienenden, auch in dieser Hinsicht konnte sie die FDP überrunden. Sozialrhetorisch hat der Parteitag jetzt sein Pensum geschafft; in der Regierung später, das weiß man ja, ist das Machbare dran. Marja Winken UrtrittinischAls vorbildliche Neuerung in Sachen innerparteiliche Demokratie pries die grüne Partei ihre Urwahl für die Spitzenkandidaturen an. Ein interessantes Detail des Wahlverfahrens fand keine öffentliche Beachtung: Es konnten zwei Stimmen abgegeben werden, es mußten (gemäß der Parteisatzung der Grünen) eine weibliche und eine männliche Spitze dabei herauskommen. Naheliegend wäre es demnach gewesen, daß die Mitglieder die eine Stimme für einen Kandidatin und die andere für einen Kandidaten hätten abgeben können. Das war aber nicht so. Sie konnten, wenn sie wollten, ihre zwei Stimmen auf zwei weibliche Kandidaturen verteilen, durften aber nur eine Stimme für eine männliche Kandidatur einsetzen. Es standen drei parteiprominente Frauen und ein parteiprominenter Mann zur Wahl, neben diesem dann noch elf in der Partei kaum bekannte und aussichtslose weitere männliche Angebote. Das Wahlverfahren garantierte also absolut ein Spitzenergebnis für Jürgen Trittin. Praktisch war nur zu entscheiden, welche der drei Kandidaturen im zweiten, dem weiblichen Rang, zum relativen Erfolg kommen sollte. Urig, könnte man sagen. Peter Söhren SchmidtologieSpiegel online titelt: »Altkanzler zur Eurokrise – Schmidt empfiehlt ein bißchen Vertragsbruch«. Bei einer Diskussion mit Finanzminister Schäuble über die Maßnahmen zur Überwindung der Eurokrise »sah Helmut Schmidt in einem Punkt durchaus rote Linien überschritten, konnte daran aber nichts Schlimmes finden. EZB-Chef Mario Draghi und sein Vorgänger Jean-Claude Trichet seien für ihre Krisenpolitik »hoch zu loben« sagte Schmidt, auch wenn sie sich über manche Verträge »etwas hinweggesetzt« hätten. Der Mann hat Recht. In Staaten, die keine Unrechtsstaaten sind, müssen Vertragsbrüche erlaubt sein. Günter Krone Kandidat mit KüchenkompetenzÜberraschend ist das nur für Bürgerinnen und Bürger, die immer noch glauben, in der Parteienpolitik sei Sachverstand das Kriterium für die Auswahl von Repräsentanten – Peer Steinbrück und Jürgen Trittin traten als parlamentarische Spitzenredner in Sachen Frauenpolitik auf, offensichtlich neugeboren in dieser qualifizierenden Eigenschaft. Starke Worte fand Steinbrück im Bundestag in der Debatte um das »Betreuungsgeld« – »schwachsinnig« sei diese Maßnahme der Regierung, sie hindere Frauen nur daran, »ihre eigene Berufsbiografie zu schreiben«. Kann es sein, daß Steinbrück meint, wegen 100 oder 150 Euro im Monat werde jemand auf eine lukrative berufliche Karriere verzichten? Er sorgt sich, wie er sagte, um das »Erwerbspersonenpotential«, so wie die Repräsentanten der Unternehmerverbände. Die haben auch vor dem »Betreuungsgeld« gewarnt, weil sie befürchten, es könne für manche Frau mit Kleinkind den Druck mindern, einen miserabel bezahlten Minijob zu übernehmen. Steinbrück vergaß bei seinem Auftritt im Parlament eine Kleinigkeit: Die SPD-geführte Bundesregierung war es seinerzeit, die den Vorschlag für ein »Betreuungsgeld« in die gesetzgeberische Planung hineinschrieb. Aber nun handelt es sich ja um eine »Herdprämie«, und bei Küchengeräten ist Steinbrück Fachmann: Bei seiner regen Vortragstätigkeit ließ er auch einen Auftritt bei den »Küchenkompetenztagen« in Bad Neuenahr nicht aus, 15.000 Euro brachte ihm das ein. Einer notleidenden Kita, deren Nutzung er jetzt so dringend forderte, hat er sie nicht gespendet. Wenn er erst Kanzler sei, sagt Steinbrück, werde er das »Betreuungsgeld« sofort wieder abschaffen. Er hätte noch anfügen müssen, daß er in demselben Atemzug jedem Kleinkind einen Kita-Platz bereitstellen werde, mit anständig bezahltem und gut ausgebildetem Personal. Denn der Mann kann Wunder wirken, davon müssen nur die WählerInnen noch überzeugt werden. Vizekanzlerspitzenkandidat Trittin verwies in der besagten Debatte auf die »besseren Uni-Abschlüsse von Frauen« im Vergleich zu Männern, solche Talente dürfe die Politik doch nicht durch ein Betreuungsgeld ans Haus und an die Kleinkinder binden. Das Argument ist unsinnig (siehe oben), aber wir wissen nun, welche soziale Schicht der Obergrüne fest im Blick hat, wenn er sich feministisch gibt. M. W. HausaufgabenHausaufgaben – das Wort sollte zum Unwort des Jahres erklärt werden. Allmorgendlich begegnet es uns in den Nachrichten, und dabei wird von einem Volk gesprochen, das sich angeblich in der Mentalität von unserem insoweit unterscheidet, als es weniger arbeitsam und eher südländisch schlampig ist. Und die Hausaufgaben, wie »wir« meinen, hat das Volk noch immer nicht gemacht, obwohl »wir« es permanent daran erinnern, wovon jeden Morgen die Rede ist. Was kann man da noch machen? Der Radiosprecher klingt schon genervt – von diesem Kind, was einfach seine Hausaufgaben nicht macht. In diesem Fall bestehen sie daraus, einigen Millionen Menschen Sparmaßnahmen aufzuzwingen, die ihnen ihre Renten, ihren Lebensunterhalt, ihre Sozialleistungen und alle Dinge, die ein modernes, friedliches Leben ermöglichen, zu großen Teilen einfach stehlen – aus dem einen einzigen Grunde, weil der Kapitalismus in einer globalen Überproduktionskrise steckt. Was kann man da noch tun? Damit die Unfolgsamen endlich spuren, damit die endlich hören! Fällt niemandem eine Strafe ein? Denjenigen unter uns, die sich in ihrem Besitzstand bedroht fühlen, denen fallen mühelos Strafen für das unfolgsame Land ein, denn das geht doch nicht, daß sie bluten müssen. Und so ein Land wird mit Samthandschuhen angefaßt, und ihm werden immer weitere Millionen geschenkt. Die Hausaufgaben-Forderung läßt sich mit friedlichen Mitteln nicht gut umsetzen. Hat man keine Diktatur, die das Volk mit Gewalt an den Bettelstab prügelt, muß man wohl etwas nachhelfen. Was folgt in der Regel, wenn Forderungen, die ein mächtigeres Land an ein schwächeres stellt, nicht erfüllt werden? Eine erzieherische Maßnahme. Nach dem Motto: Wer nicht hören will, muß fühlen. Da werden wir also nun wieder daran gewöhnt, daß es mächtigere und wertvollere, weil schlauere Staaten gibt, die Geld haben und florierende Wirtschaften. Und schwächere Staaten, die immer nur auf Kosten anderer schmarotzen und auf der faulen Südländerhaut liegen wollen. Und das passiert dem wunderbaren und stolzen Kulturvolk der Griechen von eben dem Nachfolgestaat des einstigen Verbrecherregimes, das ihm schon einmal überheblich gegenübergetreten war. Ich muß sagen, ich schäme mich. Und am meisten erschreckt mich der überall schon wieder anzutreffende grenzenlose Opportunismus unserer Journalisten. Es zwingt sie doch keiner, diesen Hausaufgaben-Unsinn Tag für Tag nachzuplappern, haben sie keine eigenen Gedanken, keine eigene Moral, die ihnen sagen könnte, daß das verwerflich ist, was die Politiker da predigen, chauvinistisch, amoralisch? Daß das in einen Krieg münden wird? Anja Röhl Walsers TagebuchKaum zu glauben: Der Schriftsteller Martin Walser hat die Klassengesellschaft wiederentdeckt. Zum ersten Mal seit den Zeiten, als er noch als Sympathisant der Deutschen Kommunistischen Partei galt. Lang ist’s her. Und das kam so: Mitte September ließ Walser in der Bahn sein Reisetagebuch liegen. Eine Verlustanzeige blieb vergeblich. Das Tagebuch tauchte bis heute nicht mehr auf. Kürzlich vergaß er auch noch, beim Umsteigen von einem Zug in den anderen sein Handy mitzunehmen. In diesem Fall aber erhielt er noch am selben Abend die Nachricht, daß es abgegeben worden sei. Der Spiegel fragte Walser, was er daraus lerne. Walser antwortete: »Nur zweiter Klasse fahren! Die Fahrgäste sind anders als die in der ersten. Es gibt die natürliche Reaktion, das, was man gefunden hat, auch abzugeben. Bei denen, die erster Klasse fahren, gibt es eine andere psychische Disposition. Selbst wenn die Leute mit dem Gefundenen nichts anfangen können, behalten sie es.« Daß die Besserverdiener in der ersten Klasse alles nehmen und behalten, was sie bekommen können, ist eine Binsenweisheit. Wie sonst wären sie so wohlhabend geworden. Aber woher weiß Walser, daß der unehrliche Finder seines Tagebuchs nichts mit ihm anfangen kann? Spätestens in zehn Jahren könnte er es meistbietend versteigern lassen. Anonym selbstverständlich. Das bringt mehr als ein Finderlohn. Aber vielleicht war es, weil die Verhältnisse sich in Zeiten des Neoliberalismus doch viel stärker geändert haben, als Walser annimmt, ganz anders: Weil heutzutage jeder sich selbst der Nächste ist, besonders in der ersten Klasse, hat niemand das herumliegende Tagebuch beachtet. Die schlecht bezahlte Putzfrau, die es am Abend fand, hat es als nicht mehr zu gebrauchendes, weil schon beschriftetes Altpapier einfach entsorgt. Es gibt noch eine weitere mögliche Erklärung. Vielleicht steht ja etwas sehr Brisantes in dem Tagebuch. Nein, nicht die langweiligen Schoten von späten Johannistrieben. Sondern die Selbsterkenntnis, daß Walser sich in entscheidenden politischen Fragen geirrt hat. Die Paulskirchen-Rede mit ihrer »Auschwitz-Keule«, das »fußballfeldgroße Mahnmal unserer Schande« mitten in Berlin, der dumpfdeutsche »Tod eines Kritikers« – alles schreckliche Irrtümer? Vielleicht hat das plötzliche Auftauchen des »nationalsozialistischen Untergrundes« Walser endlich eines Besseren belehrt. Vielleicht will er Abbitte leisten und hat das seinem Tagebuch anvertraut. Auch, daß er zu Lebzeiten vor Scham nicht mehr den Mut dazu finden wird, dies öffentlich zu tun. Wem immer Walsers Tagebuch in die Hände gefallen ist: Er oder sie hätte ein starkes Motiv, das Buch nicht herauszurücken. Schließlich soll doch die Ehre eines unserer liebsten Schriftsteller nicht beschmutzt werden. Notfalls muß man ihn vor sich selbst schützen. Reiner Diederich Walter Kaufmanns LektüreAls der Gründer der »edition ost« im Sommer 2012 in die Ukraine fuhr, um sich über den Fall Julija Timoschenko Klarheit zu verschaffen, fragte er den Klinikchef des Eisenbahnerkrankenhauses in Charkiw, ob er sich vorstellen könne, nach Berlin zu fliegen, um vor den Augen internationaler Medien deutsche Ärzte anzuweisen, wie ein stationär in der Charitè aufgenommener deutscher Strafgefangener zu behandeln sei. »Nein«, antwortete Michail Afanasjew, »aber wir leben damit.« Seit langem schon lebte der Mediziner mit der Tatsache, daß mit internationalem Druck zwei deutschen Ärzten Zugang zu Julija Timoschenko verschafft worden war. Die Frau hatte sich wegen Rückenschmerzen der Gefängnishaft entziehen und eine Krankenhausbehandlung durchsetzen können – eine vorzügliche was Unterbringung und physiotherapeutische Behandlung angingen, wie sich Frank Schumann überzeugen konnte. Im Lauf seiner Reise konnte er sich von weit mehr als nur dieser Sonderbehandlung überzeugen. Die einstige Staatschefin Julija Timoschenko hatte als »Gasprinzessin« unvorstellbare Summen unterschlagen und für sich einstreichen können. Sie war zur Oligarchin mutiert. So blieben ihr im Gefängnis ungezählte Privilegien vergönnt, wozu auch die Lieferung feinster Speisen in die geräumige Zweibettzelle gehörte. Später, im Krankenhaus, gestattete man ihr neben den Ärzten aus Deutschland auch andere Besucher, die zu ihrer weltweiten Öffentlichkeit beitrugen. Im Lande selbst, so erfuhr es Frank Schumann, war die Schar der Protestierer erheblich geschrumpft. Zwei der Rentnerinnen, die sich in weißen T-Shirts mit dem »Free Yulia«-Logo vor dem Krankenhaus eingefunden hatten, um damit ihre Rente aufzubessern, konnte er ablichten. Überhaupt hatte er überall treffliche Fotos machen können. Sein Buch enthüllt viel über die Beschaffenheit und Ziele der Julija Timoschenko, die sich seit ihrer Verurteilung der Welt als Opfer stilisiert – doch das allein erschöpft den Wert seiner Nachforschungen nicht. Auf den Wegen zu den Behörden, dem Generalstaatsanwalt, dem Frauengefängnis in Charkiw, dem Eisenbahnerkrankenhaus wie auch auf seiner Rückreise im Schnellzug nach Kiew hat Frank Schumann die Augen offen gehalten – er sah, hörte und notierte eine Vielfalt von Eindrücken, die sein Erhellen der Hintergründe des Falls Timoschenko zu einem Erlebnis machen – Ukraine heute! W. K. Frank Schumann: »Die Gauklerin. Der Fall Timoschenko«, edition ost im Verlag Das Neue Berlin, 255 Seiten, 14,95 € Peinliche AktenAls es noch zwei deutsche Staaten gab, war in dem östlich gelegenen kein Brief und kein Telefongespräch vor der Neugier jener Behörde sicher, die dem Staat Sicherheit verschaffen sollte – obwohl doch in der Verfassung der DDR stand, das Post- und Fernmeldegeheimnis dürfe nicht verletzt werden. Nun wissen wir, es herrschte dort eine Diktatur, und die hat keine Scheu davor, staatliches, politisch motiviertes Unrecht zu tun. Wir wurden und werden auch belehrt: Exakt dies war der Unterschied zwischen dem Zustand im Osten und dem im Westen Deutschlands, wo niemand um eines seiner Grundrechte fürchten mußte. War es so? Nicht in der historischen Wirklichkeit. Das ist nun in aller Gründlichkeit nachgewiesen in einer Studie von Josef Foschepoth (Universität Freiburg/Br.) unter dem Titel »Überwachtes Deutschland«. Deren Gegenstand ist die Alt-Bundesrepublik, vor allem in den Jahren 1949 bis 1968. Durch einen Zufallsfund im Bundesarchiv ist der Verfasser zu seinem Thema gekommen, etliche Jahre hat er dann dransetzen müssen, um in allen möglichen Ministerien und Ämtern jene kilometerlangen Aktenbestände zu sichten, die den Vermerk »VS« trugen, was »Verschlußsache« heißt; bis zu seinem Vorstoß in die Archivkammern waren sie geheim geblieben. Foschepoth ist immer noch verblüfft über seine Entdeckungen, aus denen er das Resümee zieht: »Seit Gründung der Bundesrepublik wurden jährlich Millionen von Postsendungen kontrolliert, geöffnet, beschlagnahmt, vernichtet oder in den Postverkehr zurückgegeben. Ebenso wurden Millionen von Telefongesprächen abgehört, Fernschreiben und Telegramme abgeschrieben und von den Besatzungsmächten und späteren Alliierten, aber auch von Westdeutschen selbst zu nachrichtendienstlichen beziehungsweise strafrechtlichen Zwecken ausgewertet und genutzt ... Diese Überwachungspraxis widersprach klar und eindeutig den verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Bestimmungen.« In der Studie wird in allen administrativen Einzelheiten geschildert, auf welche Weise die Geheimdienste der Westmächte und der Bundesrepublik in trauter Gemeinsamkeit diese immense Arbeit bewältigten, unter Heranziehung der deutschen, damals noch staatlichen und mit einem Monopol ausgestatteten Post. Soweit bei deren Personal Vorbehalte wegen der unrechtmäßigen Dienstleistung aufkamen, wurde auf die Treuepflicht des Beamten verwiesen, die dem Staat und seiner Sicherheit geschuldet sei, da müsse das Grundgesetz zurückstehen. Von der Post- und Telefonüberwachung war besonders jede Kommunikation zwischen Ost- und Westdeutschen betroffen. Aus dem Verkehr gezogen wurden Schriften aus der DDR, die als politisch »verführerisch« galten. Die fragwürdigen »Erkenntnisse« aus den illegalen Nachforschungen wurden auch verwendet, um Gegner der herrschenden Politik in der Bundesrepublik einzuschüchtern oder juristisch zu verfolgen. Damals hatte die behördliche Jagd auf Kommunisten Hochkonjunktur – auch auf solche Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik, die amtlicherseits zu Kommunisten erklärt wurden, weil sie gegen die Remilitarisierung und den Beitritt zur NATO protestierten und für einen Dialog beider deutscher Teilstaaten plädierten. Als »staatsgefährdend« galt jede politische Aktivität, die sich dagegen wandte, daß die Bundesrepublik zum »Frontstaat« im Systemkonflikt zwischen West und Ost wurde. Als 1955 mit den Pariser Verträgen Westdeutschland in den westlichen Block eingegliedert wurde, regelten geheime Zusatzabkommen die weitere Überwachung: Auch die Nachrichtendienste der westlichen Alliierten behielten den Zugriff auf den Post- und Fernmeldeverkehr in der Bundesrepublik, bedienten sich nun aber stärker der »Fähigkeiten« von Verfassungsschutz, BND und MAD. Als »eindeutigen Verfassungsbruch« seitens der Bundesregierung wertet Foschepoth diese Vereinbarungen. Die Studie, von der hier berichtet wird, ist nicht als »Enthüllungsschrift« angelegt, sie dokumentiert und analysiert wissenschaftlich, und der Verkaufspreis wird ihre Verbreitung einschränken. Aber sie bringt Licht in ein dunkles Kapitel der westdeutschen Nachkriegsgeschichte, in ihrem sachlichen Gehalt ist sie fast eine Sensation. In den sonst doch leicht erregbaren Medien hat sie bisher kaum Beachtung gefunden. Offenbar paßt dieser Aktenfund nicht in den geschichtspolitischen Leitdiskurs, dem wir uns fügen sollen – den von einem westdeutschen Staat, der nie von freiheitlicher Redlichkeit und Treue zu den Grundrechten abwich, einem makellosen Gegenbild zum »Unrechtstaat im Osten«. Peter Söhren Josef Foschepoth: »Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik«, Vandenhoeck & Ruprecht, 378 Seiten, 34,99 € »Im Netzwerk der Moderne«heißt die Ausstellung im Dresdener Lipsiusbau, die ihre Besucher mit dem »Freiburger Bild« (1956) Ernst Wilhelm Nays förmlich in den Raum zieht. Das Gemälde, 6,50 Meter breit, ist nicht zu übersehen. Für mich sind es Blumen auf einer Wiese oder Tupfen, Farbfelder, Kreise; ein anderer sieht darin vielleicht chemische Prozesse, denn das Bild ist in der Eingangshalle eines Freiburger Laboratoriums zu Hause. Gewidmet ist die Ausstellung Will Grohmann, einem der einflußreichsten Kunstkritiker des 20. Jahrhunderts. Nachdem die Nazis den Kunstpädagogen 1933 entlassen hatten, arbeitete er als freier Kunstschriftsteller und Kritiker und Mitglied im Reichsverband Deutscher Schriftsteller und schließlich der Reichsschrifttumskammer. In der Münchener Ausstellung »Entartete Kunst« prangerte man ihn als Befürworter der »Entarteten« in der Zeit der Weimarer Republik an. Er emigrierte jedoch nicht. Sein Einsatz galt stets der jungen Kunst; er war ihr Anwalt, Förderer und Kritiker. Im nazistischen Deutschland waren die Abstrakten ebenso wenig erwünscht wie die Expressionisten, Veristen oder kritische Realisten. Sie alle fielen unter »entartete Kunst«. Da Grohmann Fürsprecher der »Avantgarde« war, reichte sein Interesse von der Dresdener Künstlergruppe »Die Brücke« bis zum Bauhaus. In der Exposition werden 200 Werke unterschiedlicher Kunstgattungen gezeigt. Die Ausstellungsstücke spannen im Geiste Grohmanns ein Netzwerk der damals jungen Kunst: Mary Wigman und Gret Palucca sind mit Fotos ihrer ausdrucksstarken Tänze vertreten. Wassiliy Kandinskys Bild »Einige Kreise« (1926) gehört zu den Schlüsselwerken der Ausstellung. Kompositorisch und farbig ist es von eigenartiger Schönheit und Harmonie; es regt zum Träumen an. Ebenso sensibel und sehr poetisch sind Gerhard Altenbourgs »Fern das Gebirge« (1952) und Paul Klees »Sonnenuntergang« (1930). Schon 1915 hatte Klee notiert: »Je schreckensvoller diese Welt, desto abstrakter die Kunst«. Leihgaben aus aller Welt machen die Exposition zu einem Erlebnis. Vertreten sind unter anderen Segall, Bacon, Braque, Mondrian, Kirchner, Feininger, Jawlensky, Schmidt-Rottluff, Hartung, Dix, Hans Grundig, Picasso, Richter und Baselitz. Will Grohmann, dem Kunstvermittler »im Spannungsfeld zwischen Künstlern, Galeristen, Museen und Medien«, so die Dresdner Neuesten Nachrichten, wird ein großes Einfühlungsvermögen nachgesagt. Er war sich seiner Rolle durchaus bewußt, hat sich hier und dort durch die Zeiten gemogelt und meinte, bezogen auf die Nazizeit, daß einer da sein müsse, wenn der Spuk vorbei sei. Mit Hans Grundig gestaltete Grohmann 1946 die erste Allgemeine Dresdner Kunstausstellung, in der Werke von ehemals »Entarteten« zu sehen waren. Auch für die erste bis dritte »documenta« engagierte er sich. Als er Dresden verlassen hatte, wurde er – zum Beispiel im öffentlichen Streit mit Karl Hofer – zum Propagandisten des Abstraktionismus in der Periode des Kalten Krieges. Er »war in seiner Zeit ein viel gelesener und gehörter Fachmann und Kritiker, der bis ins hohe Alter neugierig geblieben ist. Er hat die Rezeption dieser Werke auch für das Publikum geprägt, geriet dann aber weitgehend in Vergessenheit«, äußerte Hartwig Fischer, Generaldirektor der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Maria Michel Die Ausstellung ist bis zum 6. Januar 2013 geöffnet (montags geschlossen). Thüringer KunstpreiseMit vollkommen gegensätzlicher Qualitätsauffassung von Kunst wurden am 10. November auf der »Artthuer« und 18. November vom Lindenau-Museum Altenburg Kunstpreise verliehen. Zur Kunstmesse von 130 Thüringer Künstlern in Erfurt gewann ihn Joachim B. Schulze für ein Kellerregal voller Einweckgläser mit Obst und Gemüse, konserviert seit den 1970er Jahren. Die kellerausräumende Installation betitelte er »Jetzt geht’s ans Eingemachte!«. Seit Josef Beuys formen die Künstler, in welchem Material und Medium auch immer, ihre Bildzeichen. Doch anders als Chohreh Feyzdjou, die auf der »Documenta 11« mit recycelten Gemälden in Konservengläsern ein Erinnerungsarchiv schuf, erscheint Schulzens Installation als Witz auf die Gegenwartssituation. Einen anderen qualitativen Anspruch setzt der Gerhard-Altenbourg-Preis, der seit 1998 alle zwei Jahre vom Kuratorium des Lindenau-Museums für ein herausragendes Lebenswerk vergeben wird, 2012 an Michael Morgner. 1942 in Chemnitz geboren, studierte er in Leipzig, lebt in den 90er Jahren als »totgeschwiegener« Künstler in Einsiedel und erweist sich als bedeutender Preisträger. Seine leibbezogene, am Menschen demonstrierende Zeichenkunst, originäre hochartifizielle Ausdruckswerte gegerbter Bildhäute, meist schwarz-grauen Tuschezeichnungen und Radierungen, mit Lavage, Asphalt, Prägungen. Seine tief berührende Serie »Ecce Homo« spricht, in christliche Bildform gefaßte Figur, Welterfahrung aus. Seine Gestaltfindungen mit Umhüllungen und Sturz- und Vernichtungszeichen wirken wie Urbilder zu Bedrückung, Angst, Krieg, Tod, Sprachlosigkeit, Eingeschlossensein und Kampf. Mit 120 Werken, darunter Skulpturen und Aktionsfotos, kuratiert von der ausgeschiedenen Direktorin Jutta Penndorf und dem Laudator Matthias Flügge, schuf das Lindenau-Museum für Michael Morgner einen eindrucksvollen Raum. Peter Arlt Katalog (Bildband und Textheft), 28 € Zuschrift an die LokalpresseNach den ständigen Pressemitteilungen von Totschlägen und Überfällen endlich mal was Lustiges: Hexen und Gespenster erschrecken in den Berliner Parkanlagen die Leute, und man ist erleichtert, wenn man merkt, daß es die dunklen Gestalten mal nicht auf das Geld abgesehen haben. Sie wollen Halloween nur mit dir Spaß haben. Mit von der Partie: das Schloß Bellevue. Schön, daß sich unser Bundespräsident auch unter die Schelme gemischt hat und bei der Gauckelei kräftig mitzieht! Hat er doch, wie der Berliner Kurier am Halloween-Wochenende berichtete, die von einem Berliner Maler geschöpften Porträts seiner Vorgänger von der repräservativen Wand im Schloß Bellevue nehmen lassen! Wie aus unterrichteten Kreisen verlautet, sollen sie nun durch Vampire ersetzt werden. Schön, daß unser Präsident ein so lebensnaher Politiker ist! – Karotta Kürbis (52), Wahrsagerin, 41199 Geistenbeck Wolfgang Helfritsch
Erschienen in Ossietzky 24/2012 |
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