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Viele müßten viel zu lange von der Antragstellung bis zur Auszahlung der Hilfe warten, berichtet Ombudsmann Waldemar Schütze. »Sie kommen zu mir und haben überhaupt kein Geld mehr. Sie können sich keine Lebensmittel mehr kaufen. Und die Kündigung der Wohnung steht an.« Die Amtsvorgabe einer Bearbeitungszeit der Anträge von zwei bis vier Wochen werde oft nicht eingehalten: Real seien zehn Wochen kein Einzelfall, drei Monate auch nicht. »Es wird nur nach Aktenlage entschieden. Es gibt keine Sprechzeiten für Menschen, die Geld nach dem Sozialgesetzbuch II beantragen – also Hartz IV.« Der 30 Seiten dicke Antrag mit zusätzlichen Anlagen sei so komplex, daß die Antragsteller damit überfordert seien. Die Behörde helfe ihnen aber trotz gesetzlicher Pflicht nicht beim Ausfüllen. Das liege aber auch an deren Überforderung: »Die Sachbearbeiter kriegen vor Leistungsdruck und Streß den Kopf nicht hoch. Sie müssen 160 Fälle gleichzeitig bearbeiten. Der Krankenstand ist entsprechend hoch.« 9. Oktober: Einem Ehepaar aus der Gemeinde Küstriner Vorland (Brandenburg) wurden« Anfang August vom Jobcenter die Leistungen gestrichen. Der Grund: Sie hätten ja ein Haus, seien somit vermögend und bräuchten keine Unterstützung. Für den angesetzten Preis kaufe im Oderbruch niemand ein Haus, schon gar kein sanierungsbedürftiges, zitiert die Märkische Oderzeitung das Ehepaar. Sie sind zwei von 20.000, die im Landkreis Märkisch Oderland auf »Hartz IV« angewiesen sind. Der Bereichsleiter des zuständigen Jobcenters weist im Blatt darauf hin, daß derjenige, der sich um die Verwertung von Eigentum bemühe, weiter ALG II vom Jobcenter bekommen könne – als Darlehen. 23. Oktober: Was der Slogan »fördern und fordern« in der Realität bedeuten kann, hat der arbeitslose Tobias M. erfahren. Der 32jährige bekam Anfang 2012 vom Jobcenter Chemnitz grünes Licht für eine Weiterbildung im Elektrobereich. Bedingung war eine erfolgreich abgeschlossene mehrmonatige »Eignungsfeststellung«. Zwei anerkannte Bildungsträger bestätigten ihm unabhängig voneinander eine »sehr gute« beziehungsweise »ausgezeichnete« Eignung für den von ihm angestrebten Beruf des Mechatronikers, berichtet die Freie Presse aus Chemnitz. Als M. sodann einen Bildungsgutschein beantragen wollte, wies ihn seine Vermittlerin fälschlicherweise darauf hin, daß er noch ein Gutachten des Psychologischen Dienstes der Agentur für Arbeit benötige. In diesem Gutachten hieß es dann, M. habe »massive Probleme im mathematischen Bereich« und leide an einer »psychischen Behinderung«. M. vermutet, daß es der Sozialbehörde vor allem darum ging, sich vor der Finanzierung der Umschulung zu drücken. Nach einer gezielten Nachfrage der Freien Presse nahm der Psychologische Dienst der Arge das fragwürdige Gutachten nochmals unter die Lupe und revidierte es. M. bekam den Bildungsgutschein. 23. Oktober: Das Statistische Bundesamt (Destatis) veröffentlicht weitere Zahlen der Studie »Leben in Europa 2011«. So waren laut Destatis 2011 in Deutschland rund 16 Millionen Menschen (etwa jede/r Fünfte oder 19,9 Prozent) von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen (2010: 19,7 Prozent). 27. Oktober: Der arbeitslose Berliner Ergotherapeut Ralph B. wurde vom Jobcenter bestraft, weil er sich den Anweisungen widersetzte, heißt es auf der Website gegen-hartz.de. Die Sanktionen belaufen sich auf 90 Prozent des »Hartz IV«-Regelsatzes, es bleiben B. noch 37,40 Euro pro Monat zum (Über-)Leben. Lebensmittelgutscheine lehnt er ab, er befindet sich zur Zeit im Hungerstreik. B. wolle einen Präzedenzfall gegen das System der »Hartz IV«-Sanktionen schaffen, heißt es im Text weiter. Ziel der Aktion sei es, über eine Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe die Sanktionen als verfassungswidrig zu entlarven und damit schlußendlich zu stoppen. In einem offenen Brief an den Bundespräsidenten, die Bundeskanzlerin, die Bundesarbeitsministerin sowie an die Chefetage des zuständigen Jobcenters begründet der erwerbslose Aktivist seine Aktion. 31. Oktober: »Fördern und fordern«, Teil 2: In München lebt ein chronisch kranker Mann seit sieben Jahren von »Hartz IV«. Schon 2005 hatte ihm das Amt mitgeteilt, daß die Miete von 536 Euro pro Monat für seine Zwei-Raum-Wohnung um 123 Euro zu hoch sei. Er solle sich eine günstigere Bleibe suchen – und das in München, der Stadt mit den deutschlandweit höchsten Mieten. Aber wer vermietet schon an einen Langzeitarbeitslosen, fragt die Süddeutsche rhetorisch. Auch das Wohnungsamt habe nichts Passendes für den Mann gehabt. Das Jobcenter bezahlte zwei Jahre stillschweigend die gesamte Miete. 2007 wurde dann der Betrag für die Grundmiete von einem auf den anderen Tag um rund 100 Euro gekürzt. Der Mann wandte sich an den Mieterverein, der ihm sofort mit juristischer Hilfe zur Seite sprang. Der Anwalt klagte 2008, vier Jahre später (!) kam der Fall jetzt vor den Richter. »Als ich meinen Mandanten damals zum ersten Mal gesehen hatte, stand ein Mann mit etwa 85 Kilo vor mir – bei der Verhandlung jetzt war er auf schätzungsweise 69 Kilo abgemagert, ich hätte ihn fast nicht erkannt«, zitiert die Zeitung den Anwalt. Der Mann habe in der Zeit bis zum Prozeß oft tagelang nur sehr wenig oder gar nichts zu essen gehabt. Der Richter hat übrigens sofort einen Kompromiß vorgeschlagen, das Jobcenter muß zusätzlich zwei Drittel der Anwaltskosten übernehmen. 2. November: Im Oktober sind in Thüringen ein Mann und seine 13-, 14- und 15jährigen Kinder infolge einer Kohlenmonoxid-Vergiftung verstorben. Dem Vater, einem »Hartz IV«-Empfänger, sei der Strom abgestellt worden, nachdem er seine Rechnungen nicht mehr bezahlen konnte. Er habe sich provisorisch mit einem Notstromaggregat geholfen, dessen Abgase aber nicht sachgemäß abgeleitet worden seien und zum Tod der vier Menschen führten, berichtet die Internetseite gegen-hartz.de. Immer häufiger könnten sich verarmte Haushalte die hohen Stromkosten nicht mehr leisten. Die Folge sei eine Stromabschaltung. 8. November: Die Eltern haben gleich nach der Wende ihren Job verloren und nie einen neuen gefunden. Die Kinder teilten nach der Ausbildung das gleiche Schicksal. Jetzt wächst die nächste Generation heran, schon vorbelastet durch »Hartz IV«. Als »generationsübergreifenden Leistungsbezug« bezeichne das Jobcenter Uckermark solche Fälle, und sie seien nicht selten, schreibt die Märkische Oderzeitung. Das Jobcenter wolle jetzt gegensteuern, indem betroffene Familien intensiver von den Fallmanagern betreut würden. Doch gerade die Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen werde zum Hauptproblem, wenn zu wenig freie Stellen zu haben sind. Deswegen setze das Jobcenters seinen zweiten Schwerpunkt auf öffentlich geförderte Beschäftigungsmöglichkeiten.
Erschienen in Ossietzky 24/2012 |
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