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Gelinge dies nicht, so die Erwägungen in Berlin, sei ein »Kerneuropa« zu schaffen, in dem die wirtschaftlich Starken sich zusammentun und von dort aus den Randländern zeigen, wo es langgehen soll. Diese Europapolitik findet im Milieu des sogenannten bürgerlichen Lagers in der Bundesrepublik keine ungeteilte Zustimmung. Sie ist geprägt von den Interessen der deutschen Exportindustrie und der großen Finanzinstitute, in mittelständischen Kreisen ist Unmut darüber weit verbreitet, der sucht nach Formen, sich politisch zur Geltung zu bringen: »zurück zur Nation«, »zurück zur Deutschen Mark«. Sozialdemokratie und Grüne hingegen wirken mit bei der »Erzählung von Europa«, wie sie die gegenwärtige Bundesregierung öffentlich kommuniziert, sie bekritteln nur, daß Angela Merkel es dabei an Vortragskunst fehlen lasse. In der deutschen Bevölkerung haben skeptische Gefühle zur europäischen Zukunft Konjunktur, aber noch sind sie überlagert von der Hoffnung, die Bundesrepublik werde ihren wirtschaftlichen Logenplatz bei dem ganzen Spektakel behalten können. Hierzulande geht es politisch ruhig zu, die Ablenkungsmechanismen funktionieren. Ganz anders im südeuropäischen Terrain, dort rebellieren Massen von Menschen gegen die regierenden Exekutoren der europäischen »Spar«-Politik, gegen die staatlich organisierte, großflächige und nachhaltige Verarmung. In Portugal und Spanien haben die Gewerkschaften einen Generalstreik ausgerufen, in Griechenland ist der Protest schon Alltag, in Italien sind neue, größere Streikbewegungen zu erwarten. Wie steht es da mit der sozialen »europäischen Solidarität«, dem länderübergreifenden gemeinsamen Engagement für ein Leben ohne Existenznot, für das Recht auf Arbeit und anständigen Lohn? Der Europäische Gewerkschaftsbund, sechs Millionen Mitglieder zählt er, hat einen gesamteuropäischen »Aktionstag« aufgefordert. Leider ist nicht damit zu rechnen, daß dadurch die fiskalpolitischen Kommissare in Brüssel und anderenorts in Furcht und Schrecken versetzt werden. »Europa neu begründen« ist der Titel eines Appells, den prominente deutsche Gewerkschafter und Wissenschaftler jetzt veröffentlicht haben. Das »Projekt Europa« stehe »auf der Kippe«, heißt es darin, eine europäische Bürgerbewegung müsse nun eine »identitätsstiftende Leitidee« in die Öffentlichkeit bringen, nur durch »Solidarität und Demokratie« sei »die Krise Europas zu bewältigen«. So allgemein formuliert ist das schön und gut. Aber politisches Handeln geschieht unter den Bedingungen gesellschaftlicher Interessenkonflikte. Ein »Projekt Europa« gab und gibt es in unterschiedlichen und gegensätzlichen Versionen. Sogar der deutsche Faschismus hatte seinen Europa-Entwurf, er betrieb mit militärischen Mitteln die Errichtung eines »großeuropäischen Wirtschaftsraumes«, mit Kolonialgebieten auch im Osten. Daraus wurde dann nichts, »außereuropäische Mächte« standen dem im Wege. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zur westeuropäischen Integration, mit EURATOM, EWG und dann EU. Bestimmend waren dabei nicht die Friedensbewegungen in den europäischen Ländern, auch nicht die Arbeiterorganisationen, sondern wirtschaftliche und politische Machteliten, die ihre Positionen im Weltmarkt und im Kalten Krieg ausbauen wollten. Das gelang, und der westdeutsche Staat profitierte davon in besonderem Ausmaß. Stets war dieses integrierte Europa ein Feld der Auseinandersetzung zwischen sozialen Klassen. Und das ist es auch heute. »Auf der Kippe« steht derzeit nicht die Verflechtung des Unternehmens- und Finanzkapitals in Europa, sondern – in immer mehr Ländern der EU – die menschenwürdige Zukunft vor allem der nachwachsenden Generation jener Klasse, die auf abhängige Arbeit und ein öffentliches System sozialer Sicherung angewiesen ist. Nicht um »europäische Solidarität« geht es, sondern um die Entwicklung von Solidarität quer zu den nationalen Grenzen unter und mit denen, die wirtschaftlich ausgebeutet oder in Armut getrieben werden und denen die Inhaber der Macht politische Aktivität abgewöhnen wollen. Eine freischwebende Europa-»Idee« ist für vieles zu ge- oder mißbrauchen; es ist zu empfehlen, sie mit der bedrängenden Realität in Europa zu konfrontieren.
Erschienen in Ossietzky 23/2012 |
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