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Er hatte seine Stelle 1958 im Alter von 29 Jahren angetreten und fast 40 Jahre innegehabt. Der anfängliche Autodidakt (ein akademisches Studium holte er später nach) war ein unvorstellbar begabter und schneller Leser mit ästhetischer Urteilskraft. Bruno Henschel hatte geradezu instinktsicher den richtigen Mann geholt. Und der wiederum holte sich ebenfalls die richtigen Leute. Und nicht nur Theaterleute – der Verlag wurde einer der größten Kunstverlage. Neben den Fachgruppen für die darstellenden Künste wie Theater und Musiktheater, Film, Fernsehen und Rundfunk, Kabarett und Varieté wirkte ein starkes Lektorat für Bildende Künste, dessen langjähriger Leiter Kuno Mittelstädt später als Nachfolger Henschels Verlagschef wurde. Die Arbeitsgruppen wuchsen allmählich zu einem Großlektorat Darstellende Künste, in dem zeitweise zwölf Lektoren arbeiteten – zunehmend in Kooperation mit den Bildenden Künsten, zum Beispiel bei der Arbeit an Büchern über Szenografen wie die langjährigen Chefbühnenbildner Karl von Appen (Berliner Ensemble) und Heinrich Kilger (Deutsches Theater). Fast alle großen Nachschlagewerke der DDR zu Theater und Film (Theaterlexika, Opernlexikon, Schauspielführer, Filmschauspieler-Buch, Filmführer, Handbücher für die Schauspielkunst) brachte der Henschelverlag heraus; nur eine umfangreiche »Geschichte des Theaters« konnte leider nicht geschrieben werden. Allerdings erschienen »Theater in der Zeitenwende« von Werner Mittenzwei und Kollektiv (2 Bände, 1968), eine Darstellung des deutschen Theaters 1945 bis 1968 in Richtung DDR-Theater; auch »Deutsches Arbeitertheater« von Ludwig und Daniel Hoffmann (1972). Außerdem wichtige Werke über Bühnen, vor allem Berlins, die damals Welttheater spielten; in der Reihe »Theaterpraxis« erschienen Bücher über die besten Regisseure und Schauspieler (etwa Wolfgang Langhoff, Wolfgang Heinz, Benno Besson, Horst Schönemann, Fred Düren, Eberhard Esche), auch in kleineren und weiterführenden Reihen, der Kosten wegen. Fast alle großen Theoretiker des modernen europäischen Theaters mit ihren Schriften wurden in umfangreichen Bänden publiziert. Zudem begann der Verlag, die wichtigsten dramaturgisch-theaterästhetischen Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts zu edieren – äußerst aufwendige Arbeiten hinsichtlich der Text-Konstituierung und der Kommentare. Man schaue sich nur die »Bibliografie 1946-1985« (1987) an. Last, but not least: die Dramatik. >Für sie standen mehrere Reihen zur Verfügung: die sogenannte kleine Reihe ZD (Zeitgenössische Dramatik in Broschur), die etwas später gegründete Reihe Dialog (ebenfalls Broschur, indes farbig) und ID (Internationale Dramatik in Hardcover). Letztere wurde gemeinsam mit dem Verlag Volk und Welt produziert, wobei sich das Augenmerk dieses international erfahrenen und ausgewiesenen Verlages bei Auswahl und Edition mehr auf das Ausland richtete, während Henschel sich eher im deutschsprachigen Raum umtat und von der Spielbarkeit ausging. ZD war vor allem für Jungdramatiker gedacht, denen erste Chancen gegeben wurden; manchmal auch für in anderen Genres erfahrene Autoren, die sich im dramatischen Genre ausprobieren wollten (etwa Günther Rücker mit »Der Herr Schmidt«). »Dialog« war vielseitiger, genreoffener und enthielt neben Filmtexten und anderer Prosa vor allem auch Essays. ID öffnete sich bekannten deutschen wie ausländischen Autoren mit internationaler Anerkennung, Praxis und Wirkung. Wie überhaupt der Aspekt der Theaterpraxis, das Gespieltsein, das inszenierte oder zu inszenierende Stück mit bereits literarischer Qualität hervorragendes Kriterium und Maßstab für Auswahl und Aufnahme waren. Das reichte dann von Arden und Baierl über Gatti, Kleineidam, Lask, Müller bis Weiss oder Wüsten, von europäischen Autoren einschließlich sowjetischen über afrikanische bis zu beiden Teilen Amerikas. Die Reihe umfaßte bei ihrem jähen Ende um 1990 104 Bände mit mehr als 500 Stücken – manche Bände mit nur zwei langen Texten wie zum Beispiel von Hochhuth bis zu solchen mit sieben bis acht schmalen Texten. Es gab Autoren-, Genre-, Länder- und Themen-Bände (etwa Volksstücke, Dramen zum deutschen Bauernkrieg – ausnahmsweise mit Klassik, Stücke gegen den Faschismus, Stücke nach der Antike, englische Stücke). Das alles mußte gelesen, aus einem noch viel größeren Angebot herausgefiltert, bewertet, oft übersetzt, redigiert, bearbeitet, kommentiert und gedruckt werden – es war eine herausgeberische Großleistung, die es – für Dramatik! – so nirgendwo in Europa und in den amerikanischen Länderkulturen gegeben hat und gibt. Dies alles war Verdienst Horst Wandreys und seiner Mitarbeiter, zu denen ich gehörte. Bevor ich schließe, sei noch hinzugefügt: Dieser großartige Fach-, Literatur- und Theaterfreund und Kenner war ein umgänglicher Mensch, ein guter Kollege, ein Chef mit Manieren. Ich hatte bis dahin aus meiner Geschichte von Verfolgung, Exil und Widerstand wenig Anlaß, Menschen für Freundlichkeit zu lieben. Meine kapitalistischen und auch frühen sozialistischen Berufserfahrungen gaben hinreichend Gründe. Horst Wandrey hat da viel verändert. Auch er war Chef, ließ daran nie einen Zweifel, doch hat er den Chef nie herausgekehrt. Er hatte ein Ohr für Probleme seiner Mitarbeiter, hörte zu, beriet und ließ sich beraten. Manchmal ließ er dieses oder jenes schleifen, aus welchen Gründen auch immer, es schadete nie, erleichterte manches. Er war ein Mensch, den die Chefposition niemals entmenschlicht hat. Er war ein Genosse, der Empfehlungen seiner Partei durchaus ernst nahm, doch sie nie in Befehle ummünzte. Von hohen Stellen verdächtigter Literatur (antisozialistisch oder ähnlich) konnte er fast immer den Verdacht nehmen – er hatte seinen Marx gelesen und einiges mehr. Meine etwa zehnjährige Zusammenarbeit mit ihm (als Autor dann noch erheblich länger) werde ich nie vergessen. Er war mein bester Chef – und ein guter Mensch! Wie nur mag er die Niederlage von 1989/90 erlebt, empfunden, erlitten haben? Die Gründung des kleinen Parthas-Verlags mag sowohl eine Trotz- wie Überlebensaktion gewesen sein. Ohne Bücher ging es für ihn eben nicht. Die er verlegte, fast nie selbst machte! Die schönste Ausnahme: ein liebevoll herausgegebenes Bändchen mit Briefen Mozarts. In der DDR galt Horst Wandrey als der dienstälteste Cheflektor – deren Stühle wechselten bei politischem Kurswechsel oft ihre Besitzer. Manche nahmen seine Beharrlichkeit als Fähnchenschwenk. Nein: Es war List, jene auch von Brecht empfohlene Herr-Keuner-List, die in Revolutionen – neben Aufstand und Massenstreik – nötig ist, um zu gewinnen. Sein Gesicht hat er dabei nie verloren. Auch für ihn galt jener Vers aus jenem Gedicht, das leider nicht zur deutschen Hymne geworden ist: »Anmut sparet nicht noch Mühe, Leidenschaft nicht noch Verstand.« Nein, dieser Mann hat nicht gespart, weder an Anmut noch an Mühe, an Leidenschaft nicht und am Verstand schon gar nicht. Und den Eingang zu dieser Geisteswelt hatte ich als damals junger Mensch jenem oben genannten Buch von Eggebrecht zu danken. Er hatte es mir zum meinem Abschied vom Verlag geschenkt. Seit längerem stand es unbenutzt in meiner Bibliothek. Nun las ich wieder drin – so zwischen Trauer und Hoffnung. Horst Wandrey wird über seine Autoren und deren Bücher, die er ermöglicht hat, in Erinnerung bleiben. Leser kennen meist die Verleger nicht – doch auch diese sind Literatur und ihre Geschichte. Wandreys und mein Lieblingsspruch stammt von Heine: »Dort, wo man Bücher verbrennt,/ Verbrennt man auch am Ende Menschen.«. Dagegen muß man einiges tun! Horst Wandrey war ein Buchmensch. Und er tat!
Erschienen in Ossietzky 22/2012 |
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