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Warum erscheint einem trotzdem der Tod der Hauptdarstellerin so unendlich viel trauriger und entsetzlicher als die gleichfalls realistische Gestaltung des Todes in Milan Perschels »Halt auf freier Strecke«? Die weit verbreitete Ansicht, im Alter zu sterben, sei höchst normal und weniger schmerzvoll als das Leid von jenen, die »mitten aus dem Leben gerissen« werden, wird in diesem Film eindrücklich widerlegt. Ob das Leid im Sterben groß oder klein ist, bestimmen die Umstände: Wie anstrengend ist die vorausgehende Krankheit; wie viel oder wie wenig Kommunikationsmöglichkeit besteht noch, wie viele Menschen kennt der Sterbende noch, die bei ihm sein können. Die zwei alten Menschen leben ein sich schon in kleineren Kreisen drehendes Leben, lange vor dem Sterben der Frau – jedoch sorgenfrei und materiell abge-sichert. Beide sind Intellektuelle, Musikprofessoren, ihre Bücher bedecken die Wände ihrer Zimmer. Freundliche Menschen, keinesfalls arrogant. Etwas aber lauert über ihnen, schon in der ersten Szene. Die Frau hat plötzliche Absencen, der Mann bekommt Angst, faßt sie um das Gesicht: »Was hast Du?«, sie weiß es nicht. Nachts sitzt sie aufrecht im Bett. Ein langes Leben verbindet das Paar miteinander, aber Mann und Frau sprechen nicht über das, was sie bewegt. Das Gefühl, daß beide bald sterben, trennt sie, denn jeder muß seinen Tod allein sterben. Die Angst steht schon im Raum, lange bevor die Frau die ersten Krankheitssymptome zeigt. Man kann lange zusammenbleiben, aber eben nicht für immer, selbst wenn es so angelegt war. Der Todeszeitpunkt wird bei jedem anders liegen. Einer wird gehen, der andere bleibt zurück – das steht zwischen den Protagonisten des Films, wenn sie an ihrem kleinen Küchentisch in ihrer großen Wohnung sitzen und winzige Portionen Essen zu sich nehmen. Mann und Frau sind sich wohlgesonnen, lächeln einander zu. Und wenn der Mann der Frau später vom Rollstuhl ins Bett hilft, dann sieht das aus wie eine Umarmung, ist aber eine Pflegehandlung. Verzweiflung, Umarmung, Sinnlichkeit – all das läßt der Film weg und doch wird es sichtbar. In wenigen Sequenzen, wenn der Mann sich weigert, seine Frau ins Krankenhaus zu bringen, oder wenn er die kaltherzige Pflegerin entläßt. Der Zuschauer füllt den Film durch seine weitere gedankliche Arbeit. Haneke gibt nur Anregungen. Bilder wie Gemälde, wenige Sätze. Der Film »Liebe« ist ein Beispiel für unspektakuläre Menschlichkeit, aber auch für Sprachlosigkeit. Die Mauern, die jeden von uns trotz allen Bemühens um Zuneigung und Verständnis vom anderen trennen, sind dicker und höher als alle Mauern der Welt. Wie sie durchbrochen werden können, zeigt im Ansatz dieser Film. Wie hat man sich selbst auf seinen eigenen Tod vorbereitet? Wie vermeidet man Einsamkeit im Sterben? Unmöglich? Vielleicht nicht. * »Berg Fidel« ist das Porträt einer Schule in Münster, an der alle Schüler zusammen lernen und nicht in verschiedene Klassenstufen aufgeteilt sind. Die Schüler lernen voneinander, miteinander, zusammen mit den Lehrern. Der Frontalunterricht wird durch kurze Inputphasen ersetzt, die vorn auf drei Bänken stattfinden, im Kreis um die Lehrerin gruppiert. Nach den Inputphasen zerstreuen sich die Schüler wieder in die Arbeitsbereiche. Für jeden Schüler gibt es einen eigenen Plan, den er dann an seinem Schreibtisch erfüllen kann. Damit dieses Konzept aufgeht, muß es anregendes und gut handhabbares Lehrmaterial geben, aus dem auch die Lösungen hervorgehen. Viele gemeinsame Erlebnisse müssen ermöglicht werden, die das gegenseitige Verstehen fördern. Nicht Angst darf herrschen, sondern Anregung und Ermutigung müssen die Atmosphäre bestimmen. Es gibt Klassenräte und Klassenregeln und vieles mehr. Ob man dies dann Integration oder Inklusion nennt ist weniger wichtig als die Tatsache, daß man hier aus Prinzip niemanden ausschließt, obwohl in unserer Gesellschaft stets und ständig Menschen ausgeschlossen werden: die Asylsuchenden von der Arbeit, die »Hartz IV«-Empfänger vom Recht auf Arbeit ... Der Dokumentarfilm »Berg Fidel« brilliert durch seine Kinderporträts. Da ist ein Schulanfänger, der sich Gedanken über die Endlichkeit des Weltalls macht und der sich in der Schule bei Rechenaufgaben vor allem nicht langweilen will. Er hat einen Bruder, Vincent, mit der Trisomie-21-Besonderheit, um den sich viele in der altersgemischten Klasse kümmern, er kann wunderbar rhythmisch tanzen. Ein anderer Junge macht den Mund beim Sprechen nur einen Spalt weit auf, schaut dabei immer nach unten, und jeden Nachmittag übt er mit seiner Großmutter buchstabieren – später kann er fließend lesen. Erst nach der Hälfte des Films wird man Gewahr, daß das erste Kind, der Super-Intelligenzler mit äußerst differenziertem Sprachduktus, ein Hörgerät trägt. So unterschiedlich können Kinder eines Jahrgangs sein. Drei Jahre wurden ihre Gespräche und Unterhaltungen in langen Interview-Sequenzen aufgezeichnet, ein Extrakt eindrucksvoller Kindergedanken ist dabei herausgekommen. Daß der Blick konsequent auf den Kindern ruht, ist das Verdienst dieses Films. Nichts wird allerdings dazu gesagt, daß im Namen der Inklusion neuerdings die bestausgestatteten Sonderschulen mitsamt ihren Schwimmbädern und Therapieeinrichtungen, ihrer Ebenerdigkeit und ihrem variantenreichen Personal geschlossen und die Kinder auf die Hinterbänke der schlecht ausgestatteten Grundschulklassen verschoben werden, um mittels umständlicher Schlüsselberechnungen den sinkenden Personalschlüssel zu heben. Nicht in allem, was Reform heißt, ist auch Reform drin. Dieser Film aber, über eine inklusive Schule, zeigt, wie es gehen könnte.
Erschienen in Ossietzky 21/2012 |
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