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Als Grund für Konflikte nennen westliche Medien und Politiker gern kulturelle Besonderheiten in Ländern des globalen Südens. Angebliche Experten portraitieren Geschichte und Politik dieser Gesellschaften bis in die Alltagskultur hinein als geprägt von Korruption und Bürgerkriegen. Soziokulturelle Vielfalt soll für Konflikte verantwortlich sein, während Pluralität anscheinend als Privileg entwickelter Gesellschaften gilt. Doch Einheit und Vielfalt sind generell keine Gegensätze, sondern dialektisch verbunden. Dies soll am Beispiel Eritreas erläutert werden, einem Land mit nur knapp vier Millionen Einwohnern, aber neun ethnolinguistischen Gruppen und etwa gleich großen Religionsgemeinschaften der Christen und Muslime. Ihre Angehörigen koexistieren seit dem 8. Jahrhundert ohne lange nachwirkende Konflikte und gestalten das kommunale Leben zum gemeinsamen Vorteil. Innerhalb der ethnischen Gruppen sind, wie generell in afrikanischen Gesellschaften, die Familienverbände identitätsbildend, ergänzt durch nachbarschaftliche und kommunale Beziehungen, die reziproke Verpflichtungen begründen und den Individuen Rückhalt geben. Das Teilen auch knapper Ressourcen ist in den tradierten Kulturen ein höchster Wert, der in Krisen und Kriegen auch über ethnische Grenzen hinaus das Überleben erleichtert hat. »Was für einen reicht, reicht auch für zwei«, ist ein gängiges Sprichwort. Das am geostrategischen Brennpunkt des Roten Meeres sich erstreckende Eritrea war seit dem 15. Jahrhundert von Militärinvasionen betroffen und leidet bis in die Gegenwart unter Kriegsfolgen (1961 bis 1991 Kampf um die Unabhängigkeit; 1998 bis 2000 Grenzkrieg mit Äthiopien). Kulturelle Verrohung und Kriegskultur haben sich in der Bevouml;lkerung dennoch nicht ausgebreitet. Doch die Gemeinden konnten sich unter den vielen Eroberern eine gewisse Eigenständigkeit erhalten, in der sie zum Teil sehr differenzierte Regeln für den Interessenausgleich und den Erhalt des friedlichen Zusammenlebens schufen. Diese Regeln, die der italienische Soziologe Rossi zu Kolonialzeiten als »guardia senza armi« (Wächter ohne Waffen) bezeichnete, sind tief in der Bevölkerung verwurzelt. MediatorInnen und kommunalen Gerichtshöfen wenden das traditionelle Recht noch heute an. Den meisten Menschen ist bewußt, was Krieg und Frieden bedeuten. Mit dem Begriff »Salem« (Frieden) verbinden EritreerInnen ungestörtes Zusammenleben, Angstfreiheit, innere Ausgeglichenheit, Chancen auf eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. Salem ist nicht nur ein beliebter Name, sondern auch allgegenwärtig als Gruß und Wunsch zu besonderen Anlässen wie etwa der Geburt eines Kindes, als Name für Kindergärten und Sportvereine. Sogar Firmen bedienen sich des Begriffs, weil er so positiv besetzt ist. Gegenwärtig wirken starke globale Trends den genannten Werten entgegen: ökonomische Krisen, neoliberale Offensiven, Migration, die Familien zerreißt, Kommunikationsmedien, die zum Teil Mißtrauen und Feindbilder transportieren. Die Verletzlichkeit der nationalen Sicherheit Eritreas wurde in den letzten Monaten durch die äthiopische Bombardierung einiger Grenzdörfer und das Auftauchen britischer Söldner an der Küste erschreckend deutlich. Andererseits sind gegenwärtig Bemühungen erkennbar, in solidarischen Netzwerken, bei der Kindererziehung oder auch in öffentlichen Debatten die friedensfördernden kulturellen Ressourcen bewußtzumachen und weiterzugeben. Tradierte Werte können in schwierigen Zeiten ein Rückhalt für Menschen sein, wenn sie das Gemeinsame betonen: die Achtung vor der Natur, die es als Existenzgrundlage zu erhalten und behutsam zu entwickeln gilt, und die Verbundenheit von Menschen, die einander respektieren und in Notlagen beistehen. Es sind verschiedene, einander ergänzende Ansätze notwendig, um Frieden zu erhalten und zu sichern, auf internationaler und nationaler, soziokultureller und interpersonaler Ebene. In Zeiten, in denen militärische Konfliktlösungen als alternativlos vertreten und ethnische Gruppen durch Feindbilder gegeneinander in Stellung gebracht werden, ist es wichtig, traditionelle Ressourcen der Friedenssicherung zu beleben, aus denen die Bevölkerung ihre Stärke bezieht. Hochrangige Politiker bringen kaum nachhaltige Konfliktlösungen zustande. Der »westlichen Wertegemeinschaft« hat sich Eritrea nicht angeschlossen, üblicherweise wird es in unseren Medien als »afrikanisches Nordkorea« abgekanzelt. Der Bericht, den uns Gebremeskel Fesseha schickte, regt an zu einem anderen Blick auf dieses von außen bedrängte und von inneren Problemen geplagte Land. Der Autor ist Sozialpädagoge und Sozialforscher und lebte etwa zehn Jahre lang mit Hunderten von Waisen in einem Kriegsgebiet Eritreas.
Erschienen in Ossietzky 21/2012 |
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