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Andere Staaten wie England und die Schweiz haben auch kein Verfassungsgericht, werden aber als Rechtsstaaten respektiert – es sei denn, das Privateigentum wäre nicht genügend gesichert. In der Weimarer Republik hatten die Kommunisten und wohl nicht nur sie schlechte Erfahrungen mit dem Staatsgerichtshof genannten Verfassungsgericht gemacht, deswegen lehnten sie ein solches Gericht für die DDR ab. War das falsch? Es hatte jedenfalls Nachteile, die Macht konzentrierte sich zu stark. Letztlich entschied der Generalsekretär der SED alles. Doch es hatte auch Vorteile, alles ging schneller und niemand wurde getäuscht. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) genießt seine hohe Reputation auch, weil es vielfach der Regierung und sogar dem Parlament, wie die Medien sagen, »schallende Ohrfeigen« erteilt. Da sieht man seine Unabhängigkeit. So war es unlängst, als das Wahlgesetz erneut für verfassungswidrig erklärt wurde. Anders, ganz anders ist es, wenn politische Grundfragen zu entscheiden sind, wenn es ans »Eingemachte« geht. An konkreten Fällen läßt sich zeigen, wie das Bundesverfassungsgericht seine Rolle versteht. Als Adenauer 1951 das Verbot der KPD beantragte, war das Gericht dem Vernehmen nach nicht begeistert. Der Präsident ging zum Bundeskanzler – wohl in der Hoffnung, ihn umzustimmen. Das Ergebnis ist bekannt. Heute wird wohl nicht mehr angefragt, man weiß ohnehin Bescheid. Das hat sich eingespielt. Beispielhaft sind auch die Urteile über die Rechtsprobleme, die der Anschluß der DDR mit sich brachte. Das Bundesverfassungsgericht löste sie wie im Fall des KPD-Verbots letztlich im Sinne von CDU und SPD. Sicher, es beseitigte einige der gröbsten Ungerechtigkeiten, man mußte das Gesicht wahren, aber insgesamt setzte es nur die Politik der herrschenden Parteien mit den Mitteln des Rechts fort. Allerdings sprach es nie von der »ehemaligen DDR«, sondern benannte sie bei ihrem vollständigen Namen. Da war man genau, das war doch schon etwas. Sonst aber machte das höchste deutsche Gericht juristische Kapriolen besonderer Art. So etwa, wenn es bei der Strafverfolgung der DDR-Amtsträger ausführte, daß der Verfassungs- und Völkerrechtsgrundsatz des Rückwirkungsverbots in diesem Fall nicht gelten könne. Zuerst sagte es klipp und klar: »Dieses Rückwirkungsverbot des Strafrechts ist absolut.« Ja, »absolut« sagte das Hohe Gericht, um danach im selben Urteil in gedrechselter Sprache das Gegenteil zu begründen: »Das strikte Rückwirkungsverbot des Art 103 Abs. 2 GG findet – wie dargelegt – seine rechtsstaatliche Rechtfertigung in der besonderen Vertrauensgrundlage, welche die Strafgesetze tragen, wenn sie von einem an die Grundrechte gebundenen demokratischen Gesetzgeber erlassen werden. Diese besondere Vertrauensgrundlage entfällt, wenn der andere Staat für den Bereich schwersten kriminellen Unrechts zwar Straftatbestände normiert, aber die Strafbarkeit gleichwohl durch Rechtfertigungsgründe für Teilbereiche ausgeschlossen hatte, indem er über die geschriebenen Normen hinaus zu solchem Unrecht aufforderte, es begünstigte und so die in der Völkergemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise mißachtete. Hierdurch setzte der Träger der Staatsmacht extremes staatliches Unrecht, das sich nur so lange behaupten kann, wie die dafür verantwortliche Staatsmacht faktisch besteht. In dieser ganz besonderen Situation untersagt das Gebot materieller Gerechtigkeit, das auch die Achtung der völkerrechtlich anerkannten Menschenrechte aufnimmt, die Anwendung eines solchen Rechtfertigungsgrundes. Der strikte Schutz von Vertrauen durch Art. 103 Abs. 2 GG muß dann zurücktreten.« (Entscheidung vom 24.10.1996) Der langen Rede kurzer Sinn: Das strikte, das absolute Rückwirkungsverbot gilt absolut nicht, wenn Sozialisten verfolgt werden sollen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) konnte dieser Argumentation nicht folgen: Er machte eine andere Kapriole, um zum selben Ziel zu gelangen. Den unabhängigen Richtern ist offenbar das Ziel alles, der Weg nichts. Der Straßburger Gerichtshof erklärte schlicht, die Schüsse an der Mauer seien schon nach DDR-Recht strafbar gewesen. Auf diese ebenso einfache wie unrichtige Lösung war bis dahin kein Gericht der Bundesrepublik gekommen, kein Landgericht, nicht der Bundesgerichtshof und auch nicht das Bundesverfassungsgericht. Das ist unabhängige Justiz. Der EGMR – auch ein ganz unpolitisches Gericht – empfahl anderen ehemals sozialistischen Staaten, diesem Vorbild der Bundesrepublik zu folgen. Die Abhängigkeit des Hohen Gerichts in Fragen von schwerwiegender politischer Bedeutung wird verständlich, wenn die Wahl seiner Richter betrachtet wird. Die jeweils acht Richter seiner beiden Senate sind von der CDU/CSU, der SPD und manchmal auch von der FDP ausgesucht. Mal haben die einen, mal die anderen das Vorschlagsrecht. Man darf annehmen, daß die Auswahl sorgfältig und unter vorrangiger Berücksichtigung des Parteiinteresses erfolgt und daß die Gewählten wissen, was von ihnen erwartet wird. Dieses Wahl-Prozedere ist in der herrschenden Politik unumstritten. Unvoreingenommene sachkundige Beobachter sehen das allerdings kritisch. Zu diesen Beobachtern gehört Rolf Lamprecht, der von 1968 bis 1998 für den Spiegel Korrespondent bei den obersten Gerichtshöfen des Bundes in Karlsruhe war. Er schrieb 1995 zu dem Problem: »Die Parteien, die den Staat ungeniert als Selbstbedienungsladen behandeln, haben diese Mentalität mittlerweile auf die Dritte Gewalt ausgedehnt. Sie besetzen namentlich die 16 Planstellen der höchsten Instanz, des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe, nach den Riten eines orientalischen Basars. Für die fünf obersten Gerichtshöfe gilt Vergleichbares – die Vorauslese der Richter erfolgt in den Parteizentralen, die Richterwahlausschüsse sind nur Vollzugsorgane. (...) Laudationes auf die Verfassungsrichterwahlen wird der interessierte Zeitgenosse in der Literatur vergeblich suchen. Es gibt keine.« Vielmehr stoße das »praktizierte Verfahren«, so Wilhelm Karl Geck, Vorsitzender des beratenden Fachausschusses des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, »bei fast allen Beurteilern, vor allem in der herrschenden Verfassungslehre, auf begründete Ablehnung«, sie reiche »manchmal bis zur Verachtung«. Und an anderer Stelle zitiert Lamprecht noch einmal Geck mit den Worten: Auf Dauer müsse daher die Rechtsprechung als »Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln erscheinen« (Rolf Lamprecht: »Vom Mythos der Unabhängigkeit«). Auch Professor Hans Heinrich Rupp meint in einer von Gerhard Lüke herausgegebenen Schrift, die den bezeichnenden Titel »Die Krise des Rechtsstaats« trägt, nachdem er die Ämterpatronage unter anderem bei der Besetzung von Richterstellen beklagt hat: »All dies läßt den demokratischen Rechtsstaat verkommen und trägt zur Verbitterung all derer bei, die noch an das verfassungsrechtliche Leistungsprinzip und den Gleichstellungsgrundsatz glauben.« Professor Ernst Wolf gibt in derselben, ihm gewidmeten Festschrift, die prinzipielle Einstellung des Bundesverfassungsgerichts wie folgt wieder: »Die traditionelle Bindung des Richters an das Gesetz, ein tragender Bestandteil des Gewaltentrennungsgrundsatzes und der Rechtsstaatlichkeit, ist im Grundgesetz abgewandelt (...) Der Richter ist nach dem Grundgesetz nicht darauf verwiesen, gesetzgeberische Weisungen in den Grenzen des möglichen Wortsinns auf den Einzelfall anzuwenden.« Wolf zieht danach die Schlußfolgerung: »Vom Rechtsstaat ist nach dem Bundesverfassungsgericht nichts mehr übrig.« Geht man mit Lamprecht davon aus, daß die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts »Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln« ist, so konnte man wissen, wie das Urteil des höchsten Gerichts in Sachen Fiskalpakt und Europäischer Stabilitätsmechanismus ausfällt. Merkel hat es mit Sicherheit gewußt, Realisten, zu denen sich der Verfasser zählt, auch.
Erschienen in Ossietzky 20/2012 |
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