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Mürrisch waltete ein Arzt seines Amtes, um schnell wieder zu verschwinden. Der Vertreter des in Urlaub befindlichen Regierungspräsidenten von Frankfurt an der Oder war für den Sonntag nach Berlin gefahren und lehnte ab, zurückzukommen, obgleich er von dem Vorgefallenen unterrichtet worden war. Der Amtsvorsteher weigerte sich, eine Untersuchung anzustellen; alles, was Behörde war, verschanzte sich hinter Sonntagsruhe und mangelnder Kompetenz. Es war auch nur ein Republikaner erschlagen worden. Mehr nicht, mehr nicht. Jetzt, wo ministerielle Autorität treibt und stößt, wird sich das Bild gewiß geändert haben. Aber das scheint uns auch das Deprimierende zu sein, daß ein Mord an einem links-gerichteten Mitbürger von dem amtlichen Apparat zunächst als Privatsache der Beteiligten behandelt wird. Die höchste Spitze muß erst drohend zur Erscheinung kommen, ehe sich ein paar Gendarmenbeine in Bewegung setzen. Die Beamtenhierarchie, die vor einem kleinen Flurschaden oder einem zerbrochenen Lattenzaun automatisch in Funktion tritt, bleibt vor einem erschlagenen Republikaner regungslos. Dabei ist die Art, wie Reichsbannerleute behandelt werden, wahrscheinlich noch recht honorig zu nennen neben dem Vorgehen gegen Kommunisten. Da wird wohl gleich scharf geschossen. Die Weltbühne, 5.7.1927 * Am 12. September, dem jüdischen Neujahrstag, ist es in den Abendstunden auf dem Kurfürstendamm zu einem regelrechten Pogrom gekommen. Die Nationalsozialisten hatten den Überfall ausgezeichnet organisiert; auf ein gegebenes Signal sperrten sie den Kurfürstendamm von der Gedächtnis-Kirche bis zur Leibniz-Straße ab. Eine Rotte von ein paar hundert Mann tyrannisierte eine halbe Stunde lang die Straße und mißhandelte Fußgänger, die sie für Juden hielten (sic). Die liberale Presse hat zunächst ihre Berichterstatterpflicht nicht erfüllt. Sie versuchte, die skandalösen Vorgänge zu bagatellisieren. Denn diese Presse fühlt bei unpassendstem Anlaß immer eine höhere Verantwortung, die sie nötigt, nicht mit der vollen Wahrheit herauszurücken. In diesem Fall galt es, auf das »Ansehen Berlins« Rücksicht zu nehmen. Sie hat also die Tatsache, daß die Krawalle am jüdischen Neujahrstage vor sich gingen, so bescheiden wie möglich oder überhaupt nicht gebracht. (...) Erst als die Zeitungen von ihren Lesern mit Zuschriften bombardiert wurden, bequemten sie sich, Beschwerden gegen die Polizei zu erheben. Denn jetzt stellte es sich heraus, daß auch die Polizei zunächst zu gut davongekommen war. Jetzt war nicht mehr daran zu zweifeln, daß die Polizei weder die ihr zugegangenen Warnungen beachtet hatte noch rechtzeitig zur Stelle gewesen war. Jedenfalls war das Versagen der Polizei bald wieder offenkundig, und ihre Häupter ergingen sich in lahmen Ausreden. Man vergleiche die Laschheit der Polizei am Kurfürstendamm mit der Schärfe und Pünktlichkeit bei Zusammenstößen mit Linksradikalen. (...) Der glatte Ablauf dieses Pogroms kann die S.A.-Stürme nur zu baldiger Fortsetzung ermutigen. Die Weltbühne, 22.9.1931 Frühzeitig registrierte Carl von Ossietzky in der Weimarer Republik die Gewalttaten der Nazis. Auf Adolf Hitler, den Münchner Polizeispitzel (neben der Polizei gab es damals noch keinen Geheimdienst mit dem perversen Namen Verfassungsschutz), wies Ossietzky schon hin, als andere den »Führer« noch nicht wahrnahmen oder sich über ihn lustig machten. Immer deutlicher wurde für Ossietzky, daß die braune Schlägertruppe einflußreiche Förderer nicht nur in Kapitalkreisen, sondern im Staatsapparat hatte und daß die Nazis gerade wegen der hinter ihnen stehenden Kräfte brandgefährlich waren. Angesichts all der Vertuschungsversuche, die wir in der NSU-Affäre staunend erleben, empfiehlt sich wohl eine Rückbesinnung auf die Weimarer Erfahrungen. Es ließe sich lernen, daß hinter vermeintlichem Versagen oft entschiedenes Interesse wirkt. Erfahrungsgemäß können wir nicht darauf vertrauen, von oben her vor Faschisten geschützt zu werden – auch und gerade im heutigen Deutschland nicht, wo Innenminister in den »Verfassungsschutzberichten gegen den Antifaschismus polemisieren lassen. E. S.
Erschienen in Ossietzky 20/2012 |
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