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Gut gemerkt hat sich die Biobäuerin Monika Tietke aus dem Landkreis Lüchow-Dannenberg, Mitglied der »Bäuerlichen Notgemeinschaft gegen Atomanlagen«, Merkels Sentenzen. Gabriele Goettle, die schon durch ihr erstes Buch »Deutsche Sitten« in der »Anderen Bibliothek« 1991 berühmt wurde, hat sie aufgenommen in ihren neuen Band: »Der Augenblick« – Reisen durch den unbekannten Alltag. 26 Gespräche mit Frauen, die sie zusammen mit Elisabeth Kmölninger zwischen 2007 und 2009 führte und die in der taz erschienen. Gisela Köthke, eine als »Fischersfrau« Vorgestellte, zwölf Jahre Vorsitzende der BUND-Kreisgruppe Lüchow-Dannenberg und ebenfalls im Widerstand gegen das Endlager aktiv. Einst ihr Ehemann und nun ihr Sohn züchten und räuchern Aale, Forellen und Saiblinge. Auf die Frage nach ihrer Familiengeschichte weicht sie aus. Gabriele Goettle hätte die Geschichte der Familie Gans, edle Herren zu Putlitz, gern erfahren. Das Gut war 1.800 Morgen groß. Alles mußten sie zurücklassen. Nur ihre »Heldenmutter« ist im Schloß geblieben. Waren ja noch Fremdarbeiter da. Goettle verbessert: »Zwangsarbeiter«. Die junge Gisela war in der Hitlerjugend und »sehr gerne im Arbeitsdienst«. Heute dürfe man das ja nicht sagen. Der strenge Herr auf dem Gemälde auf der Wand – ein Vorfahr, General von Winterfeld. 1730 habe er – als Freundschaftsdienst – die Kosten für eine Enthauptung übernommen, auch die Beerdigungskosten. Ja, es hat sich um Hans Hermann von Katte gehandelt. Aber »viel interessanter ist die Biographie der Aale«, meint die Nachkommin. Ein roter Faden zieht sich durch die Gespräche. Die Frauen sind selbständig und selbstbewußt. Viele Akademikerinnen, aber auch eine Kioskbetreiberin. Die Nachkriegszeit wird lebendig. Nicht nur durch Süßigkeiten. Ich kenne die Gegend: Berlin-Lichterfelde. Der Kiosk durfte sogar eine Weile im Vorgarten von Heinz Stücklen (SPD-Bezirksbürgermeister in Berlin) stehen, weil sie da einen Stromanschluß mitbenutzen konnten, sie und ihr Opa. Lange Jahre schlief sie auf der Luftmatratze im Kiosk, ihre beiden Kinder beim Opa. Gabriele Goettle gelingt es, eine Gesprächsatmosphäre zu schaffen, die Unbefangenheit ermöglicht. Ingrid Reinke, die Kioskbesitzerin, verrät, daß sie seit 1978 ein offenes Bein hat, durch ein Verbrühen, und daß sie keine Tabletten nimmt. Sie träumt davon, zur Musikschule zu gehen, um singen zu lernen. Marina Schubarth, Tänzerin, Choreographin, Regisseurin. Arbeitslos – so stellt sie sich selbst vor. Obwohl sie viel arbeitet – für andere, für ehemalige Zwangsarbeiter, um die sie sich kümmert, um Entschädigungen für ihre Arbeit im KZ. Sie wurde in Kiew in der Ukraine geboren. Dreharbeiten für einen Film brachten sie wieder in die Heimat. Dort lernte sie eine Überlebende aus dem KZ Ravensbrück kennen, die um Hilfe bat. Sie konnte nicht beweisen, daß sie dort inhaftiert gewesen war. Das gab den Anstoß, das Schicksal dieser Frauen ließ sie nicht mehr los. Zufälle spielten eine große Rolle, daß sie tatsächlich helfen konnte. Wenn auch nur geringe Summen zusammenkamen. Sie fuhr immer wieder in die Ukraine, um das Geld persönlich zu überreichen. Erschütternd zu erfahren, daß Zwangsarbeiterinnen oft nicht einmal dem Ehemann von ihrer Verschleppung nach Deutschland etwas sagten. Wie kann man dem Rotarmisten, mit dem man verheiratet ist, beibringen, daß man die Granaten drehen mußte, die ihn treffen sollten. Das Kapitel heißt: »Ballerina«. Das war sie. Eine Operation, über die sie nichts verrät, machte ihr das Tanzen zur Qual. Ein Stück über Zwangsarbeiter erarbeitete sie, es wurde im Bunker am Gesundbrunnen in Berlin gezeigt. Sie erhielt zwar kaum Geld, aber viele Auszeichnungen, auch die Carl-von-Ossietzky-Medaille. Das Spektrum der Frauen reicht von der Buchhändlerin aus Passion Bettina Wassmann, die mit dem Professor und Marxisten Alfred Sohn-Rethel verheiratet war und in deren Laden sich viele bekannte Schriftsteller trafen. Bis zu einer Bienenforscherin am Schluß. Dazwischen viele Frauen, die sich in ihrem Beruf sozial engagieren als Schulleiterin, als Beraterin für die Opfer von Menschenhandel, als Aktive im »Umsonstladen-Kollektiv«, als Altenpflegerin in einer Demenz-WG, als Hausmeisterin, als alternative Bestatterin, als Anwältin in Frankfurt/Oder, die gegen Rechtsradikale kämpft. Auch skurrile Berufe wie Bodybuilderin und Tätowiererin kommen vor, den Zeitgeist spiegelnd, und eine Präparatorin an der Berliner Charité. Eine entschiedene Gegnerin der Transplantationsmedizin, für die Todgeweihte zu Menschenmaterial gemacht werden – sie studierte die Rassenhygiene der Nazis – kommt zu Wort, noch vor den Skandalen, die jetzt bekannt werden. Erst in der Mitte des Buches, der wichtigste Beitrag: »Produktion von Parias« – eine Beamtin in der Arbeitsagentur. Die über Sechzigjährige will ihren Namen nicht genannt haben. Was der Leser hier erfährt, erinnert an Kafka-Strukturen. Die Beamtin spricht von »Würdelosigkeit«, mit der Arbeitsuchende behandelt werden, drei Minuten für ein Gespräch, Zumutbarkeit jeder Arbeit, bis an die Grenze zur Sittenwidrigkeit. Sie habe »Wut im Bauch«. Es gehe nur um die Statistik. Die Probleme mit der Software sind immer noch nicht behoben. Der Charakter eines Mitarbeiters entscheide oft über Leben und Tod, sagt sie. Denn er kann einen Suizid auslösen oder einen Gewalttäter zu einer »tickenden Zeitbombe« machen. Der ungeheure Druck, der auf allen lastet, auch der Druck, die Wahrheit verheimlichen zu müssen, landet zuletzt beim »Kunden«. Zu dem wird der Arbeitslose hier – obwohl ihm ja nichts verkauft wird. Jeder, der fähig ist, am Tag drei Stunden zu arbeiten, ist »erwerbsfähig«. Der Rückgang der Zahl an Sozialhilfeempfängern um 90 Prozent, ein Wunder? Mit statistischen Tricks jeder Art wird gearbeitet. Die Beamtin spricht vom »Ein-Euro-Arbeitsdienst«. Alles sind plötzlich »Zusatzjobs«. Aus der Arbeitslosen-Armee wird so unter der Hand eine Billiglohn-Reservearmee, ein Heer von Dienstleistungssklaven. ALG-II-Empfänger, das sei »staatlich verordnetes Vegetieren«. Sie wundert die Ruhe im Lande. Sie hat gelernt, daß man zu Unrecht nicht schweigen darf, so wie die Generation der Eltern. Seit 30 Jahren gebe es keine Demokratie mehr. Das fing unter Schmidt schon an. Gleichzeitig gibt der Staat durch Privatisierung viele seiner ureigenen Aufgaben auf, ohne sich legitimieren zu müssen. Das eigentliche Ziel sei der »Selbsterhalt der Behörde«. Der Auftrag: eine positive Statistik zu produzieren. So wird sie zu einer Maschinerie des Betrugs und Selbstbetrugs mit einem Apparat an Personal, Material, Fragebögen, Akten. Und mit Millionen von Arbeitslosen. »Solche Zahlen hatten wir das letzte Mal 1933«, aber darüber dürfe nicht gesprochen werden, auch nicht intern, sagt sie. Das Thema ist tabu. Gabriele Goettle: »Der Augenblick. Reisen durch den unbekannten Alltag«, Verlag Antje Kunstmann, 396 Seiten, 22,95 €
Erschienen in Ossietzky 19/2012 |
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