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Es wird gekalauert, was das Zeug hält, und zeitweise ist es stille Pantomime. Manche halten das für Tiefsinn, ich für Blödsinn. Warum soll es nicht im Theater Blödsinn geben, der einem großen Teil des Publikums Spaß macht, aber so viel? Wenn das Wiener Burgtheater kommt – jüngst mit dem hochpolitischen Stoff »1979« von Christian Kracht – muß man hin. In dem Roman geht es um den Umbruch in Teheran vom Schah-Regime zum islamistischen Fundamentalismus. Manche nennen das eine Revolution. Ich denke, es war eher eine Konterrevolution, was auch nicht exakt ist. Das Schah-Regime war nicht progressiv, aber doch nicht so rückwärtsgerichtet wie diese Fundamentalisten. Auch die Regie von Matthias Hartmann in einer Ausstattung von Volker Hintermaier erklärte das Thema nicht angemessen, machte diese Bühnenfassung nicht besser, weder für die vier Spieler noch für die Zuschauer. Früher machte das Burgtheater Gastreisen nur mit höchstem Kunstanspruch und ersten Mimen. Heute ist ein politisches Großthema auch in mittelmäßiger Form ein Gastspiel wert. Welch ein Wandel! Überhaupt nimmt die Volksbühne – nach ihren hektischen Kunstrevolten der vergangenen zwei Jahrzehnte – nachgerade eine Lehrhaltung zu großen Themen ein, sozusagen als Gegenmittel zu solchen Späßlein wie »Murmel«: Fast wie eine Lektion zum Thema Freitod wirkt das Stück »Die Patriotin« von Thomas Martin nach Motiven einer Erzählung von Yukio Mishima, inszeniert und ausgestattet hat es Gero Troike – von Hause aus Szenograf und ein alter Volksbühnen-Kämpe aus der Besson-Zeit. Die Hauptrolle neben fünf weiteren Akteuren spielt Kathrin Wehlisch, außerdem tritt ein Chor auf, die Musik ist von Uwe Hilprecht. Das Stück fußt auf Vorgängen des japanischen Offiziersaufstandes von 1936. Nach dessen Scheitern tötet sich Leutnant Sakeyama, und die Witwe Yoko soll nach altem Brauch ihm folgen. Sie kämpft mit sich – ihr Bewußtsein ist schon weiter, ein Einfluß westlichen Denkens spürbar, der Konflikt ist erkennbar. Der Erzähler Mishima schrieb seine – offenbar auf eigenen Erlebnissen fußende – Erzählung 1961 und tötete sich selbst durch Seppuku, also rituellen Suizid, 1970. Diese Art japanischer Freitod bezog seine Tradition aus einem überaus nationalistischen Ehrbegriff: Bei der Frau, die obendrein schwanger ist, die faktisch zwei Leben tötet, wird es eine Tat aus Protest, Protest gegen unmenschliche und liebesfremde Normen. Das ist Stoff für große Tragiker. Thomas Martin hat Mut, er geht eine Zivilisationsfrage an. Doch ist hier alles eine Nummer zu klein. Der Spielcharakter macht das Stück möglich, der Chor stellt Bindungen zum Zuschauer her, bezieht ihn ein. Nichts ist falsch, und das Thema geht jeden an. Doch im Grunde bleibt man so verhalten, als ob man einen Zeitungsbericht liest. Ich vermute, daß eine Breiten-, Weiten- und gar Tiefenwirkung ausbleibt. Man wird den Weg dieses Stückes verfolgen müssen! Begleitet war diese Aufführung von Vorträgen und Filmabenden unter dem Titel »Freitod Selbstmord – Ein Fortbildungsprogramm«. Als Fortschritt betrachte ich, daß die Bezeichnung »Freitod« zugegeben worden ist, obwohl der Begriff »Selbstmord« auch zur Debatte steht. Ich finde ihn im Grunde unverzeihlich, denn ein Mord wird an anderen ausgeübt, gegen deren Willen. Der Freitod aus ethischen, medizinischen oder politisch-sozialen Gründen muß ein sittlich motivierter bleiben, auch ein freiheitlicher, wie der Name sagt. Sicher gibt es fließende, nicht ganz genau bestimmbare Grenzen: Ich denke an die zahlreichen Freitode von Häftlingen in den Konzentrationslagern (Sturz in die Hochspannungszäune) oder an Verfolgte, die keinen Ausweg mehr wußten – der organisierte Mord stand als Drohung hinter ihnen: Was ist das dann? Doch kein Selbstmord mehr. Ist man bei der Volksbühne, ist man gewissermaßen auch bei René Pollesch. Dessen Produktion ist so unverwüstlich wie oberflächlich, Agitprop hätte man früher dazu gesagt, nur nicht so rot. 140 Stücke etwa soll er geschrieben, besser zusammengestellt haben. Das rückt ihn schon fast in die Höhe, besser: Nähe der beiden Erhabenen, also der Auguste, welche die deutschen Bühnen in Mengenlehre so bereichert haben: August W. Iffland und August Kotzebue, beide mit circa 200 Stücken. Jetzt hat Pollesch uns mit »Kill your Darlings« und »Sounds of Berladelphia« beglückt. Etwas versöhnt mich mit diesen Stücklein: Sie sind antikapitalistisch – die Darlings machen jenes schreckliche Facebook zur Sau, und in »Berladelphia« alles und jenes, was beliebig gelesen werden kann. Das ist herrlich: Man haut auf alles, das sieht revolutionär aus, ist aber so unverbindlich-platt, so revoluzzisch wie möglich und tut keinem weh, selbst die Mächtigen lachen da mit, ein wenig süß-säuerlich freilich. Pollesch stellt »unsere Fragen«. Und die Antworten? Gar keine! Einmal zieht er eine große Karte im Spiel: den Wagen der »Mutter Courage«. Aber selbst den macht er zur kleinen Schubkarre (oder zum Handwägelchen), knarrend und quietschend, alles klein-klein, aber laut und lärmig. Was vor fast zwei Jahrzehnten mit großem politischen, wenn auch oft zu simplen Gestus Castorfs begann, versandet mit Gartenrechen oder Kinderschaufel. Merkwürdig: Der Name des Erfinders des politischen Theaters fing auch mit »P« an: Piscator; nun der seines Bestatters ebenfalls: Pollesch. Auch seine Musik führt ihn zur Banalität, und es wird eine fröhlich Beisetzung, die Hoffnung gibt: Ein politisches Theater wird wieder auferstehen, weil es gebraucht wird – und es muß dann nicht mit »P« anfangen. Dies war ein Abgesang, doch nicht auf die Volksbühne. Große Texte beziehungsweise Stücke brachten sie erneut in die vordere Linie, nun wieder mit der Hand des Chefs und Meisters selbst. Sonderbar: Während »kritische« Stimmen, die eher sogenannte Fans sind, auch im Jargon des Massensports, meinen, daß Meister Castorf an Potenz und Substanz verliere – nur der Krachmacher von dunnemals sei erheblich –, denke ich genau umgekehrt: Die Potenz von damals nie unterschätzend, aber die Ästhetik infragestellend, meine ich, der heutige Regisseur hat an Reife und Meisterschaft gewonnen. Das bewiesen mir seine jüngsten Kleist- und Molière-Inszenierungen, also »Die Marquise von O ...« und Molières »Der eingebildete Kranke« sowie »Der Geizige«, die Wuttke-Produktionen, über die man viel lesen konnte. An dieser Stelle will ich mich auf »Die Marquise von O ...« beschränken. Die allerstrengste, im Erstdruck 1808, im Band 1 der »Erzählungen« 1810 veröffentlichte Novelle »Die Marquise von O ...« war mit dem Titelzusatz versehen: »Nach einer wahren Begebenheit, deren Schauplatz von Norden nach Süden verlegt worden.« Die Begebenheit ereignete sich 1799 während des Suworow-Feldzugs in Italien, als die Titelheldin von einem Offizier, der sie vorher aus den Händen von Soldaten errettet hat, während ihrer Ohnmacht sexuell mißbraucht wird und in der Folge ein Kind erwartet. Den verqueren Moralvorstellungen gemäß wird die Schwangere aus der Gesellschaft ausgeschlossen, da sie angibt, nichts davon gemerkt oder gewußt zu haben. Man glaubt ihr nicht. Heinrich von Kleist erklärt deren Schicksal aus der »gebrechlichen Einrichtung der Welt«. Doch die Marquise behauptet sich »mit Stolz gegen die Anfälle der Welt« – es ist rousseauscher Stolz, den ihr der Autor, ein Rousseau-Anhänger, ein- und mitgegeben hat: Sie behauptet sich als Individuum und gewinnt ihre natürliche »Anmut« wieder, kehrt »in den Stand der Unschuld zurück«. Damit hatte Kleist, der rigorose, wieder ein großes Thema, einen großen Stoff, eine bewußte Gestalt für sein Hauptthema: die Selbstbehauptung des Individuums; eine Konfliktlage mit außerordentlicher Spannung. Doch während in seinen richtigen Dramen die Spannung oft zur Überspannung führt (»Das Käthchen von Heilbronn«, »Die Familie Schroffenstein«, »Penthesilea«), nimmt sie das epische Genre etwas zurück – der Atem des Lesers ist bewegt, doch er erstickt nicht. Just eben diese, immer noch hochgradige Spannung mag das Theater anzunehmen, ja anzuziehen. Und kann erklären, daß nicht immer die Dramen selbst, sondern diese Novellen vorgezogen und adaptiert werden. So nun wieder von Frank Castorf in bewährter Zusammenarbeit mit Szenograf Bert Neumann. Zusammengenommen: Es war eine Inszenierung, die diese Spannung über die Rampe brachte und wohl auch in die Annalen der Theatergeschichte eingehen wird. Nun auch mit einigen seiner besten Kräfte: Kathrin Angerer (die Marquise), Sylvester Groth (Kommandant Lorenzo), des weiteren Marc Hosemann, Hendrik Arnst, Joachim Tomaschewsky, Jeanette Spassova und schließlich – als großer Gewinn für das Haus oder wenigstens den Abend – Ilse Ritter als Obristin, die kleine, zarte und so große Spielerin, die Theatergeschichte an so vielen Bühnen zwischen Berlin, Hamburg, Bochum und auch Wien mitgestaltet hat. Das war Klasse für sich. Dennoch: Auf der einen Seite hohe Schauspielkunst und ein dramatischer Bogen, auf der anderen Seite wieder der Griff zur Klamotte: Was sollte das Pferd? Etwa die Bedeutung der Reitertruppen für die Kriegsführung jener Zeit herausstellen? Den Rang des Adels? Das weiß man, und wer es nicht weiß, versteht es damit auch nicht, es bleibt Firlefanzerei. So wie manches andere. Komik entsteht dadurch nicht, es macht die Sache lächerlich. Und wenn einzelnes lächerlich gemacht werden soll, wird das kaum begriffen und wirkt schädlich auf das Ganze. Und das durchaus vorhandene Aufklärerische (etwa die Satire auf die »unbefleckte Empfängnis«) versackt in Blödelei. Ausnahmsweise authentisch in der Inszenierung war die Voodoo-Anrufung, doch hatte sie weder im Stück einen Grund, noch überhaupt in der Inszenierung etwas zu suchen. Doch einiges an Komik blieb der tragikomischen Geschichte erhalten und die Anlage zum großen Wurf.
Erschienen in Ossietzky 19/2012 |
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