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Aber auch diejenigen, die im Verdacht stehen, die Staatsknete für Tabakwaren oder alkoholische Getränke auszugeben. Die Gutscheine schließen nämlich den Kauf dieser Produkte aus. Da handelt es sich also um eine Maßnahme, die der persönlichen Fürsorge und zugleich der Volksgesundheit dient. Sie sei deswegen zur Nachahmung und Ausbreitung empfohlen. Nehmen wir eine Personengruppe heraus, die mit der gesetzlichen Regulierung des eben erwähnten Leistungsbezugs zu tun hat: die Abgeordneten des Deutschen Bundestags. Bei nicht wenigen dieser VolksvertreterInnen wird angenommen (und teilnehmende Beobachtung gibt Anhaltspunkte dafür), daß sie dem Nikotin und mehr noch dem Alkohol verfallen sind. Angesichts dessen wäre es doch im Interesse dieser Personen selbst und der Arbeitsfähigkeit des Parlaments, folgendermaßen zu verfahren: Die Bundestagsmitglieder bekommen den Teil ihrer Diäten, der Ausgaben für Miete, Fahrzeug, Versicherungen und ähnliches nachzuweisendermaßen dient, auf ihr Konto überwiesen; den Teil aber, der unter »Lebensmittel« zu verbuchen ist, bekommen sie in Form der besagten Gutscheine – mit einem Sperrvermerk für den Erwerb von Tabak- und Alkoholprodukten. Da die staatlichen Leistungen an MdBs ja bekanntlich um einiges höher liegen als die »Hartz IV«-Bezüge, ist hier auch das Risiko gesundheitlicher Selbstbeschädigung größer und andererseits die gesellschaftlich heilende Wirkung des Umstiegs auf Gutscheine stärker als bei Klienten der Jobcenter. M. W. Grüner ist plötzlich weiß»Wir sind – als weiße Mehrheitsgesellschaft – irritiert über die Geste von Mario Balotelli.« Gemeint ist die etwas trotzig wirkende Selbstinszenierung des italienischen Stürmers nach dem zweiten Tor, das er gegen die deutsche Mannschaft im Halbfinale der Fußball-Europameisterschaft schoß. Aber von welchem Politiker stammt dieses Zitat? Wer bezieht sich hier auf eine »weiße« Volksgemeinschaft (unter Ausschluß aller Minderheiten), um seinen Frust über die erlittene Fußballniederlage auszudrücken? Die üblichen Verdächtigen scheiden diesmal aus: Kein Anhänger der NPD hat hier lauthals rumgepoltert, nein – ausgerechnet Sebastian Striegel, der für die Grünen im Landtag Sachsen-Anhalts sitzt, hat sich zu dieser Wortmeldung im sozialen Netzwerk Facebook hinreißen lassen. Ausgerechnet Striegel, der noch im Mai in seinem Merseburger Wahlkreis ein Bündnis gegen Rechts mitgründete, der im Juni in Insel bei Stendal für die Akzeptanz freigelassener Häftlinge eintrat – und überhaupt als Parteigänger des Multikulti plötzlich im Namen einer »weißen Mehrheitsgesellschaft« spricht. Striegel ist bekannt als unbequemer Kopf, der sich trotz seiner gerade erhöhten Diäten nicht davor scheut, für seine politischen Überzeugungen auch mal zum Megafon zu greifen. Als parlamentarischer Geschäftsführer seiner Fraktion meldet er sich auch über Twitter und Facebook zum tagespolitischen Geschehen zu Wort, in diesem Fall aber wohl mehr als unglücklich. Aber was wollte er überhaupt mitteilen? Striegel selbst ist sich keiner Schuld bewußt: »Was bitte ist denn der Osten Deutschlands anderes als eine weiße Mehrheitsgesellschaft?«, postet er im semiöffentlichen Facebook auf Nachfrage. Warum ihn aber das Verhalten eines schwarzen Fußballers überhaupt dazu veranlaßte, aus der Rolle einer »weißen Mehrheitsgesellschaft« gegen den Spieler zu polemisieren, ließ Striegel offen. Und, um im Facebook-Jargon zu bleiben: Zwei Freunden von Striegel gefällt das. Bernhard Spring Geleugnete VerbrechenNoch immer werden die Verbrechen, die die kaiserlich japanische Armee in China und Korea beging, in Japan geleugnet. Der koreanische Fotograf Ahn Se Hong wollte seine Schwarzweißfotos, die alte Frauen beim Kochen, in ihrem Garten oder einfach als Porträt zeigen, in der Fotogalerie des Kameraherstellers Nikon in Tokio ausstellen. Vor einem Monat wurde die Ausstellung von Nikon ohne Erklärung überraschend abgesagt. Der Fotograf klagte gegen die Absage und bekam Recht. Seine Fotos zeigen Frauen, die von der kaiserlichen japanischen Armee bei ihren imperialistischen Raubzügen zum Sex mit Soldaten gezwungen wurden. Wer Hongs Bilder anschaut, kann sich schwer vorstellen, daß es einen Gerichtsentscheid brauchte, damit die Fotos ausgestellt werden können, und daß Sicherheitsleute den Ausstellungsort im Tokioter Stadtteil Shinjuku bewachen müssen. Nun hofft Nikon, daß das Widerspruchsverfahren für den Kamerahersteller ausfällt und die geöffnete Ausstellung wieder geschlossen werden kann. Dieser Fall zeigt, wie wenig die imperialistische Vergangenheit Japans aufgearbeitet ist. Wohl weist das japanische Außenministerium auf seiner Website darauf hin, daß die Regierung das Leid der Sexsklavinnen anerkenne und sich dafür entschuldige. Aber im Lande gibt es eine große Anzahl nationalistischer Hetzer, die wegen der Ausstellung Drohungen aussprechen. Und ein Weltkonzern läßt sich davon einschüchtern. Karl-H. Walloch Weder unabhängig noch neutralAnhand von drei Buchstaben heben oder senken die drei mächtigsten Ratingagenturen Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch ihre Daumen über Unternehmen, Banken bis hin zu ganzen Staatswesen und beeinflussen damit weltweit maßgeblich das Wirtschaftsgeschehen. Darüber aber, warum diese Ratingagenturen überhaupt so viel Macht besitzen, wer deren Eigentümer sind und ob ihre Ratings nicht doch von Interessen geleitet sein könnten, wird in der Öffentlichkeit wenig debattiert. In diesen blinden Fleck stößt Werner Rügemer nun mit seinem Werk über die Ratingagenturen (s. auch S. 546). Nach seinen Recherchen sind zum Beispiel die beiden größten Agenturen Standard & Poor’s und Moody’s keineswegs neutrale und unabhängige Akteure im Finanzgeschehen, sondern gehören mehreren Hedgefonds, die wiederum Miteigentümer der wichtigsten Banken beziehunsweise Investmentbanken und wichtiger Konzerne sind. Rügemer führt den Hedgefonds Blackrock als Beispiel an: Der Miteigentümer von Standard & Poor’s ist Hauptaktionär der Deutschen Bank, hält Aktien der größten 30 DAX-Unternehmen und ist selbstverständlich auch in die einflußreichsten Konzerne der USA involviert. Ratingagenturen sind somit Werkzeuge der mächtigsten Teile der Finanzindustrie. Dies ist möglich, weil – wie Rügemer herausarbeitet – die Funktion und der Finanzierungsmodus der Ratingagenturen sich seit den 1970er Jahren radikal verändert haben. Waren bis dahin Ratingagenturen meist kleine Verlage und Familienunternehmen, die potentiellen Anlegern Informationen über anlageträchtige Aktiengesellschaften verkauften, stellten diese dann ihre Bezahlungsweise dergestalt um, daß sie fortan von den Aktiengesellschaften selber bezahlt wurden, wenn diese neue Anlageprodukte feilbieten wollten. Heutzutage kosten diese Ratings zwischen 50.000 und einer Million Euro und haben vor allem das Ziel, die Sicherheit der Kredite für den Kreditgeber – nicht für den Anleger – einzustufen. Zudem richten sich, da die Bewertungen der Agenturen global bindend sind, die Kreditkonditionen der Banken nach den Ratings und sind zum Beispiel für die Höhe der Zinsen entscheidend. Daher können die Bewertungen als politisches Druckmittel eingesetzt werden. Doch dabei können die Agenturen – die ihrerseits von keinerlei Kontrollinstanz behelligt werden – nicht immer mit Fachwissen glänzen. Bei der Bonität von Enron und den Lehman Brothers haben sie sich beachtliche Fehleinschätzungen geleistet. Da jedoch die Agenturen für ihre Bewertungen, die juristisch als »freie Meinungsäußerung« gelten, nicht haften müssen, können sie sich wie eh und je für ihre Eigentümer in die Belange ganzer Volkswirtschaften mischen. Deren Interessen liegen momentan in einer möglichst weitreichenden und dauerhaften Verschuldung der Staaten, denen man somit als Zwangsmaßnahme Sozialabbau und Privatisierung der Infrastruktur verordnen kann. Rügemer nennt diesen Vorgang der schleichenden Entdemokratisierung zugunsten der Finanzelite »Debtocracy«, und es steht zu befürchten, daß der Begriff auch außerhalb der Universitäten noch Karriere machen wird. Reinhard Jellen Werner Rügemer: »Ratingagenturen. Einblicke in die Kapitalmacht der Gegenwart«, transcript-Verlag, 200 Seiten, 18,80 €Ein Geschenk zum 70.hat Karl Heinz Roth sich selbst geschrieben. Stets will der am Tag des Attentats auf Reinhard Heydrich geborene Mediziner und Historiker uns mit der historischen Kenntnis ausstatten, die uns motiviert und befähigt, Leben zerstörende Politik im nächsten Anlauf rechtzeitig und erfolgreich abzuwehren. Seine jüngste »flugschrift« hat der Hamburger VSA-Verlag unter dem Titel »griechenland: was tun?« herausgebracht. Die auf 96 Seiten konzentrierte Fallstudie beginnt mit der politischen Vorgeschichte der Verschuldungskrise Griechenlands und reicht vom Beitritt des Landes zur Europäischen Gemeinschaft 1981, seinem Anschluß an das Europäische Währungssystem 1993 und dem Ersatz der eigenen Währung durch den Euro 2001 bis zur De-Facto-Zwangsverwaltung ab Mai 2010 durch die Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds. Die von diesen Institutionen ent-sandten Verwaltungsstäbe zwangen im Verein mit korrumpierten sozialdemokratischen und konservativen Regierungspolitikern dem von ausländischen Gläubigern in die Verschuldungszange genommenen Land inzwischen vier rigide Einsparprogramme zu Lasten der Bevölkerungsmehrheit auf. Stets sachlich und verständlich präsentiert Roth die Ergebnisse der Krisenpolitik, die Griechenland auf den Stand eines Entwicklungslandes hinabführen. Zur Schonung der ausländischen Gläubiger, die in Infrastruktur und Rüstung fehlinvestiert haben, verweigern die Experten der Troika-Institutionen früher übliche Schuldenerlasse und Umschuldungen und erzwingen stattdessen Strukturanpassungsprogramme – Horrorkataloge, um den Staat und die Bevölkerungsmehrheit arm zu machen: Privatisierung öffentlichen Vermögens durch eine Nationale Treuhandbehörde, Verbrauchssteuererhöhungen, Lohn- und Gehaltssenkungen, Massenentlassungen, Erhöhung der Sozialabgaben bei gleichzeitiger Leistungsminderung der Versicherungssysteme. Die Krisenpolitik verschärft die Krise. Etwas Besonderes an Roths Studie ist, daß er die alternativen Handlungsoptionen aller Beteiligten erkundet, der griechischen Regierungen ebenso wie der Troika-Experten, und die Interessen benennt, deretwegen sie jeweils der Option auf Massenverelendung den Vorzug gaben. Im Anschluß an diese Analyse zeigt Roth in komprimierter Form, wie es Deutschland als dem größten Schuldensünder des 20. Jahrhunderts zuletzt unter dem Vorzeichen des Kalten Kriegs gelang, sich der Begleichung von wenigstens 90 Prozent seiner externen Schulden aus zwei Weltkriegen zu entziehen – auch gegenüber Griechenland. Auf der Suche nach Wegen aus der Krise durchleuchtet Roth die systemimmanente Programmatik der Partei Syriza und die der Kommunistischen Partei für den diktatorisch-kommunistischen Machtwechsel. Er schließt seine Flugschrift mit einem Plädoyer für den Aufbau einer anti-etatistisch, basisdemokratisch orientierten Gegenmacht, die emanzipatorische Kräfte wiederbelebt und in internationaler Assoziation die antikapitalistischen sozialen Bewegungen vernetzt. Phantastisch? Nein: Notwendig. Roth hält – nach dem Anschluß der DDR durch die BRD – die Krisenpolitik gegen Griechenland für ein Experiment mit globalen Auswirkungen: An einer vergleichsweise kleinen Nationalökonomie werde getestet, wie weit sich die in die Staatshaushalte verschobenen Krisenkosten abwälzen lassen, ein Experiment von Verelendung, das durch eine glaubwürdige Alternative blockiert werden muß – auch im Interesse jenes alten Griechen, der Karl Heinz Roth im April 2011 in einem Kaphenion mit seiner der Studie vorangestellten Äußerung motiviert haben mag: »Vor 70 Jahren haben wir tapfer gegen die deutschen Panzer und Flugzeuge gekämpft. Jetzt kommen die Deutschen mit Schlips und Kragen – und wir sind ratlos.« Susanne Willems Karl Heinz Roth: »griechenland: was tun? eine flugschrift«, VSA-Verlag, 96 Seiten, 8,80 € Militärhilfe und SchmiergelderSyrien habe »als Drahtzieher von Intrigen, Sabotageakten und Gewaltmaßnahmen gegen die Regierungen der Nachbarländer« zu erscheinen, heißt es laut Tim Weiner in einem Text, der sich 2003 unter den Papieren von Duncan Sandys fand. Sandys war unter Premier MacMillan von 1957 bis 1959 britischer »Verteidigungsminister« gewesen. Weiner ist der Autor der Geschichte der CIA, veröffentlicht 2007, auf Deutsch 2008. Nach seiner Darstellung war der berüchtigte US-Geheimdienst damals, im Verein mit britischen Kollegen, über Jahre hinweg damit befaßt, »Verschwörungen zum Sturz der syrischen Regierung« anzuzetteln. Schon 1949 hatte die CIA mit dem Polizeioberst Adib Shishakli einen US-Günstling an die Macht gebracht, der sich aber trotz offizieller US-Militärhilfe und Schmiergeldern nur vier Jahre lang halten konnte. Hinter- oder Untergrund dieser Aktivitäten waren die Ölreserven im arabischen Boden und die Moskauer Konkurrenz. Chefagent Kim Roosevelt sah nach dem Machtantritt der Baath-Partei »in Abdul Hamid Serraj, dem langjährigen Chef des syrischen Geheimdienstes, den mächtigsten Mann des Landes. Serraj sollte zusammen mit dem Chef des syrischen Generalstabs und dem Vorsitzenden der Kommunistischen Partei ermordet« werden. Dieses Vorhaben schlug fehl, weil die Syrer gewitzt genug waren, um Roosevelts Mann in Damaskus, den Botschaftssekretär Rocky Stone, an der Nase herumzuführen. Sie enthüllten die Machenschaften im Fernsehen, nahmen Stone fest und verwiesen ihn des Landes. Könnte es vielleicht unterhaltsam und aufschlußreich sein, sich die Filme von damals heute anzuschauen und auch die Protokolle der Verhöre Stones wieder zu lesen, der, so Weiner, vollständig »ausgepackt« hatte? Aus diesen Wirren erhob sich 1958 die Vereinigte Arabische Republik (VAR), die freilich auch nur drei Jahre hielt. Weiners dickes Buch, inzwischen mehrfach preisgekrönt, strotzt von Belegen. Wer es studiert, verliert den Glauben an Außenpolitiker, die den Völkern der Ölländer Demokratie beibringen wollen. Moritz Keder Tim Weiner: »CIA. Die ganze Geschichte«, übersetzt von Monika Noll, Elke Enderwitz, Ulrich Enderwitz und Rolf Schubert, S. Fischer Verlag, 864 Seiten, 22,90 €Walter Kaufmanns LektüreEs hieße Eulen nach Athen tragen, wollte man einem Landolf Scherzer bestätigen, daß er seine Erkundungen gut lesbar aufzubereiten weiß, mit sprachlicher Genauigkeit und einem Stil sehr eigener Prägung, oft auch humorvoll, sich selbst ironisierend. Nach nur wenigen Wochen im Riesenreich der Mitte ist Scherzer etwas all seinen vorherigen Büchern Ebenbürtiges gelungen, womöglich übertrifft »Madame Zhou und der Fahrradfriseur« die anderen sogar. With the help of his friends, wie es so schön im Englischen heißt, ist er auf den Spuren des chinesischen Wunders (so der Untertitel des neuen Buches) zielsicher geblieben, was bei der Überfülle von Möglichkeiten und Eindrücken nicht einfach gewesen sein kann. Ohne Klaus Schmuck, einen Leser von Scherzers Büchern, den es höchst abenteuerlich nach China verschlagen hatte – wie auch zwei andere dem Autor nützliche Deutsche – wäre es zweifellos weit schwieriger gewesen, sich mit den chinesischen Gegebenheiten vertraut zu machen. Es war, als hätte Schmuck dem Autor einen Wanderstab in die Hand gegeben, der ihn leiten sollte: zu einer deutschen Schule, einem taoistischen Priester, einem Koch, einem Heiler, einem Industriellen, der sich, wie die anderen, als auskunftsfreudig erwies, großzügig und den Künsten zugetan, ein rechtschaffener Mann, der die bei ihm beschäftigten Wanderarbeiter nicht schlechter bezahlt als seine Festangestellten. Gerade auf das Schicksal der Wanderarbeiter, welche die Werte und Wunder Chinas schaffen, hat Scherzer sein Augenmerk gerichtet und dabei Schlimmes erfahren – Hungerlöhne, Obdachlosigkeit, Ausbeutung. Er lernte die Kehrseite des Aufschwungs kennen. Was er darüber zu schreiben weiß (wie auch über die Auswirkungen von Maos sogenannter Kulturrevolution), gehört zu den kritischsten Passagen im Buch. Und seine Beobachtungen in den engen Gassen im Schatten der modernsten Hochhäuser ergeben ein Mosaik chinesischen Lebens. Stand Scherzer auch nur für begrenzte Zeit die Dolmetscherhilfe der sympathischen Chinesin Kuni zur Verfügung, fast überall gelang es ihm, vier einfache Fragen anzubringen: Was ist für Sie ein guter Tag? Was ein schlechter? Was wünschen Sie sich für Ihre Zukunft? Was für die Zukunft Ihres Landes? Die Antworten gereichten Scherzer zu weitreichenden Schlußfolgerungen, und wenn er, auf sich gestellt, die Große Mauer erkundete, die Verbotene Stadt oder den Platz des himmlischen Friedens, entdeckte er stets mehr, als die Fremdenführer zu zeigen gewillt waren. Wohin immer es ihn in den Hutongs von Peking verschlug, offenbarten sich ihm markante Einzelheiten: »Wenn ein Chinese die grauen Baumwollappen der Tür zur Seite schiebt und mich beäugt, bleibe ich stehen und grüße freundlich nickend. Das müßte ich nicht. Ich könnte auch schnell vorbeilaufen ...« Er verweilte, um den Wandschmuck »grellbunter Bilder« zu betrachten. Weiterziehend beobachtete er, wie »ein Kind und eine Polizistin einem Großvater über die Straße helfen, ein Mann sich prügelnde Halbwüchsige trennt, eine Frau im bunten Kleid unter dem Schein einer über ihr baumelnden Glühlampe vor einem Stapel Bücher sitzt, zwei glückliche Eltern ihr Einzelkind strahlend in die Höhe heben ...« Immer erspähte sein Auge mehr, als er mit der Kamera festzuhalten vermochte, seine sinnlichen Wahrnehmungen führten ihn zu den Überlegungen und Einsichten in soziale Verhältnisse, die sein Chinabuch so wertvoll machen. W. K. Landolf Scherzer: »Madame Zhou und der Fahrradfriseur. Auf den Spuren des chinesischen Wunders«, Aufbau Verlag, 359 Seiten, 19,99 € Kalter Abriß Teil IIDaß in Guben ein von der Künstlerin Sigrid Noack geschaffener Brunnen einem Parkplatz weichen mußte, wurde an dieser Stelle schon berichtet. Daß die Künstlerin abwesend war und erst, als sie aus Brüssel von ihrer Ausstellung in der Brandenburgischen Landesvertretung zurückkam, das Fehlen ihres Brunnens entdeckte, daß sie nachfragte und der amtierende Bürgermeister ihr mailte, der Brunnen sei »entsorgt«, daß sie wenigstens außerhalb Gubens geschätzt und mit ihren Arbeiten in über 80 Museen und Sammlungen des In- und Auslandes vertreten ist – das alles war hier schon zu lesen (s. Ossietzky 12/12). Nachzutragen bleibt aber der kreative Umgang der Stadt Guben mit dem Urheberrecht. In einem Interview in der Lausitzer Rundschau wies ein Kulturwissenschaftler auf das Recht des Eigentümers hin, ein künstlerisches Werk zu zerstören. Ohne allerdings zu erwähnen, daß auch dies nicht ohne Einschränkung gilt. Was er außerdem nicht wissen konnte, ist: Die bronzenen Wasserspeier des Brunnens sind nicht entsorgt. In deren Restaurierung waren vor rund zehn Jahren Fördermittel geflossen. Um diese nicht zurückzahlen zu müssen, gedenkt die Stadt, die Wasserspeier erneut zu verwenden. Und zwar in einem »Ersatz«, wie Fred Mahro, der amtierende Bürgermeister es nennt. Unbekümmert darum, daß es in der Kunst keinen Ersatz für ein zerstörtes Werk gibt, unbekümmert auch darum, daß das Urheberrecht die von Sigrid Noack entworfenen Wasserspeier nur in einem von Sigrid Noack stammenden Konzept zu verwenden erlaubt, schrieb die Stadt unter »künstlerisch versierten Mitbürgern« (Fred Mahro) einen Wettbewerb aus. Das »Ersatzkunstwerk«, in anderen Artikeln auf der Gubener Lokalseite der Lausitzer Rundschau auch »alternatives Kunstwerk« oder »adäquates Kunstwerk« genannt, »muß nicht zwingend wieder ein Brunnen sein«. Aber »wenn möglich«, so der amtierende Bürgermeister, »sollen die Drachenköpfe, die vom Brunnen erhalten blieben, integriert werden«. Wasserspeier in etwas, das kein Brunnen sein muß und »künstlerisch versierte Mitbürger«, die das Werk eines professionellen Künstlers »ersetzen« – darauf muß man erst einmal kommen! Ingeborg Arlt Gemeinsam – nicht vereintLetzteres ist auch nicht möglich nach der unterschiedlichen Entwicklung der Künste in Deutschland nach 1945. Unter Schmerzen, oft widerwillig abweisend, »wächst da zusammen, was zusammen gehört«. Nun läuft unter dem Thema »geteilt/ungeteilt« eine Sonderausstellung, die im Albertinum in Dresden bis zum 23. Januar 2013 zu sehen ist. Präsentiert wird Kunst in Deutschland von 1945 bis 2010. Es werden Werke aus dem Bestand der Galerie Neue Meister, Leihgaben aus der Sammlung Zeitgenössische Kunst der Bundesrepublik Deutschland, der Gesellschaft für Moderne Kunst in Dresden, der Sammlung Rheingold, der Commerzbank sowie aus Privatbesitz gezeigt. Die Präsentation ist gegliedert in Kunst von 1945 bis 1965, Kunst von den 1960er Jahren bis 1989 und Kunst der Gegenwart. Die Ausstellung der Kunst nach 2000 wird mehrmals aktualisiert. »Das Museum etabliert sich somit nicht nur durch seine Tradition, sondern auch durch seine Lebendigkeit ...«, ist in einer kleinen Begleitbroschüre zu lesen; ein Katalog existiert leider nicht. Man ist erstaunt und kann diese Präsentation durchaus als einen Schritt nach vorn bezeichnen. Ist uns doch die Werkschau »60 Jahre – 60 Werke« unter der Schirmherrschaft von Angela Merkel noch im Gedächtnis, in der Kunst aus der DDR einfach ausgeklammert wurde, als hätte es sie nicht gegeben. Lediglich ein Gemälde von Mattheuer war gezeigt worden, das aber nach der Wende entstanden war. Nun ist man erfreut: Es geht doch! Zum ersten Mal sind endlich wieder Bilder aus der großartigen Kollektion der Kunstwerke der DDR, die im Depot verschwunden waren, zu sehen. »Der Tod von Dresden« (1945) von Wilhelm Lachnit zeigt erschütternd das ganze Ausmaß der sinnlosen Zerstörung. Wir begegnen Harald Hakenbecks »Peter im Tierpark«, Hans Grundigs großartigem Bild »Den Opfern des Faschismus«, Walter Womackas »Paar am Strand« und anderen Werken, die wohl jedem ehemaligen DDR-Bürger bekannt sind. Der Sammlungsschwerpunkt liegt auf der Kunst aus Dresden, so gibt es Arbeiten von Hermann Glöckner, Hans Heinrich Palitzsch, Wilhelm Rudolph, Theodor Rosenhauer, Willy Wolff, Siegfried Klotz, Peter Graf, A. R. Penck, Ralf Kerbach, Cornelia Schleime und anderen damals jungen Künstlern zu sehen. Zwischen Ost und West traten nach 1945 zunehmend Unterschiede auf. Die Künstler im Westen wandten sich in ihren Werken vor allem der Abstraktion zu, wollten unbedingt »modern« sein. So umschritt zum Beispiel Karl Götz sein am Boden liegendes Bild »Tulva II« und bearbeitete es von allen Seiten. Rupprecht Geiger bekennt: »Uns war damals die abstrakte Malerei am geeignetsten, um die zerstörte deutsche Kultur wieder aufzubauen.« Der Bruch zwischen Ost und West, entstanden durch den Kalten Krieg, wird deutlich. Die Kunst aus der DDR zeigt Handwerk und Können. Sie wurde von einem breiten Publikum angenommen; das bewiesen die zehn Kunstausstellungen in Dresden. Das ist eine Kunst, die sich nicht totschweigen läßt, die unbedingt zur deutschen Nationalkultur gehört. Während im Albertinum Raum ist, die Exponate in Ruhe zu betrachten, drängelt sich vorwiegend internationales Publikum im Zwinger in der Galerie Alte Meister vor der aufwendig gestalteten interessanten Schau zum 500. Geburtstag des berühmten Meisterwerkes von Raffael »Sixtinische Madonna« (bis 26. August 2012). Dresden ist auf alle Fälle einen Besuch wert. Maria Michel Zuschriften an die LokalpresseDas Fußballfieber der EM hatte nicht nur die Bundesnormalbürger erfaßt. Auch vor unseren vierbeinigen und gefiederten Freunden machte die Begeisterung nicht halt. Sie stellten sich als Orakeltiere zur Verfügung, traten jedoch wie die Sau Paula, die vor dem Spiel gegen Dänemark »zaghaft vom Napf der Verlierer kostete«, leicht mal ins falsche Fettnäppchen. Das brachte ihr selbstverständlich, wie die Märkische Allgemeine Zeitung zu berichten wußte, die Androhung der möglichen vorzeitigen Schlachtung durch ihren Schweinehalter Bernd Schulz ein. Recht so! Wer die Zeichen der Zeit so mißversteht, wird verwurstet! Da lagen Papagei Lorenzo aus Hannover, die Mopsdame Joyce und die Bundesheuschrecke Kassandra besser im Trend. Kuh Yvonne dagegen orakelte in allen Vorrundenspielen falsch. Wahrscheinlich wollte sie sich dafür rächen, daß ihr Abtauchen in die deutschen Wälder bereits nach drei Monaten behördlich beendet worden war. Wenn der Verfassungsschutz bei der jahrelangen vergeblichen Naziverfolgung von Anfang an Orakeltiere eingesetzt hätte, wäre ihm die Blamage vielleicht erspart geblieben. Folgende, sowieso vom Aussterben bedrohte Tierarten hätten ihm dabei gute Dienste leisten können: der Granatbarsch, die Hufeisennase, die Rotbauchunke, der Nasenaffe und das Breitmaulnashorn. – Dagobert Delphi (62), Analytiker, 56291 Maisenbach * In den Wutbürger-Streit um den künftigen Flugplatzlärm (Berliner Kurier berichtete) hat sich SPD-Funktionär und Ex-Verteidigungsminister Peter Struck in nachahmenswerter Weise eingebracht. Wie das Blatt berichtete, hat er seine Absicht aufgegeben, das Klavierspiel zu erlernen. Der Presse gegenüber erklärte der Pensionär und Motorrad-Freak schelmisch, er wolle nicht noch zusätzlichen Lärm verursachen. Dieses Beispiel eines Parteisoldaten sollte Schule machen! – Wanda Lauthals (57), Repassiererin, 01766 Kurort Kipsdorf Wolfgang Helfritsch
Erschienen in Ossietzky 14/2012 |
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