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Das war hier besonders schwierig, denn es war März, keine Hochsaison, und alle wollten an den wenigen Besuchern ein paar Rupien verdienen. Varanasi, die Stadt des Hindugottes Shiva, wird als die heiligste Stadt verehrt. Frühere Bezeichnungen sind Benares und Kashi. Seit mehr als 2000 Jahren ist sie Zentrum von Bildung und Kultur und gehört zu den ältesten noch existierenden Städten der Welt. Das erste Mal soll sie 1400 vor unserer Zeitrechnung erwähnt worden sein, doch erst Ende des 8. Jahrhundert gewann sie durch Shankaracharga, einen Reformator des Hinduismus, an Bedeutung. Besetzung und Zerstörung von Tempeln durch Afghanen und Mogulherrscher fügten dem frühen Zentrum des Hinduismus große Narben zu, die heute noch sichtbar sind. Und nach terroristischen Anschlägen mit vielen Toten und Verletzten vor zwei Jahren sind Polizei und Militär noch immer allgegenwärtig. Nach wenigen Minuten Wegs durch die engen Gassen der Altstadt hatte ich die berühmten Ghats (Uferterrassen) von Varanasi vor mir und setzte mich gleich auf eine der oberen Stufen. Wie ich, so hatten sich viele hier niedergelassen. Nicht weit entfernt – wie überall in Indien – Kühe, auch auf den Stufen, und genauso selbstverständlich lagen da auch die frischen Kuhfladen. Ein großartiges Bild bot sich mir! Ich schaute auf den Ganges, der breit, glänzend und majestätisch vor mir vorbeiflutete, und beobachtete die vielen Menschen, die zum heiligen Bad oder auch nur zur Körperpflege eintauchten, sich nur wuschen, mit oder ohne Oberbekleidung. Die Inder vertrauen auf ihren Ganges, obwohl die Verschmutzung einen Grad erreicht hat, der die Gesundheit gefährdet. Es war schon ein überwältigender Anblick, aber später, von einem gemieteten Ruderboot aus, wurde er noch übertroffen, als ich die einzigartige Silhouette der heiligen Stadt mit den vielen Ghats und Tempeln vor mir hatte. Gläubige Hindus sehnen sich danach, einmal in ihrem Leben in Varanasi zu sein, vor allem wenn sie ihr Ende nahen fühlen; hier wollen sie die letzten Tage und Stunden ihres irdischen Daseins verbringen. Diesen Wunsch können sich allerdings nur wenige erfüllen. Nach dem Tode in einem der Ghats verbrannt und dann als Asche dem Ganges übereignet zu werden, ist nur Reichen möglich. Die beste Zeit, die Ghats zu besuchen, ist der frühe Morgen bei Sonnenaufgang. Der Ganges erscheint dann in einem weichen, samtenen, warmen Licht, das durch die sich leicht kräuselnden Wellen noch an Wirkung gewinnt. Ich hatte mit einem Fahrrad-Rikschafahrer vereinbart, daß er mich eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang am Hotel abholt. Die Straßen waren noch kaum befahren. Das änderte sich schnell, sobald wir uns dem heiligen Fluß näherten. Plötzlich waren die engen Straßen und Gassen mit Fahrrad-Rikschas und Fußgängern übervoll. Alle strömten in Richtung Ganges. Es herrschte eine eigenartige Stille, kaum einer sprach. Es war fast wie eine Prozession, nur durch das Bellen von Hunden und durch Hast und Eile der vielen Menschen beeinträchtigt. Alle hatten das Ziel, vor Sonnenaufgang den Ganges zu erreichen. Weil das Gedränge immer größer wurde, bezahlte ich den Rikschafahrer, stieg ab und wurde noch enger Teil der in Richtung Ganges strebenden Menschenmenge. Schließlich erreichten wir die Ghats. Einige liefen gleich die Stufen hinunter und bereiteten sich für ein Bad oder eine Waschung vor. Männer legten nicht nur den Umhang – meist eine Decke – ab, sondern auch alles andere, bis auf ein Stück Stoff, das ihre Blöße bedeckte. Die Frauen stiegen mit ihren Kleidern ins Wasser. Ein großer Teil verharrte geduldig auf den Stufen der Ghats, um den Sonnenaufgang zu erwarten. Jetzt wurde es auch lauter. Noch in der Dunkelheit des frühen Morgens waren Händler bemüht, ihre Waren zu verkaufen, dazu beleuchteten sie die Auslagen spärlich mit Kerzen oder kleinen Lämpchen. Dann wurden Dunkelheit und Stille durch die Rufe und sogar Schreie der Bootsleute zerrissen. Sie nutzten die günstige Gelegenheit, ihre Boote zu dieser frühen Stunde für das Erleben des Sonnenaufgangs auf dem Ganges anzubieten. Auf einem kleinen Ruderboot, das ich zu einem günstigen Preis mieten konnte, entfernten wir uns schnell vom Ufer. Das jenseitige Ufer ist unbebaut. Bei Tage sind nur Sandbänke zu sehen. Jetzt, noch vor Sonnenaufgang, ist es wie ein dunkles, etwas unheimliches Nichts, das sich hinter dem heiligen Fluß auftut und wie in ein Nirgendwo verläuft. Noch spiegeln sich wie tanzend die Sterne in der unruhigen Oberfläche des Ganges, und von den Tempeln und Palästen hinter uns blinzeln immer mehr Lichter in die dunkle Nacht. Ruhig brennen daneben die größeren Flammen aus der Glut der Ghats, in denen am Tage die Leichen verbrannt werden; diese Flammen dürfen nie verlöschen. Die Boote, mit oder ohne kleine Lämpchen, lösen sich mit ihrer Fracht neugieriger und wißbegieriger Pilger und Gäste vom Ufer und steuern zur Strommitte. Die Ghats im Hintergrund vor der Kulisse der Tempel und Paläste werden durch schemenhaft sich bewegende Schatten beherrscht. Es sind die Pilger, die das frühe Bad im heiligen Fluß nehmen oder auf den Stufen der Ghats ihre Yogaübungen vollführen. Dann endlich das Wunder am Firmament: Die Sonne zeigt sich! Hinter den Sanddünen wächst sie, wird in Sekundenschnelle zu einer leuchtenden Kugel und bringt rundherum Licht und Erwachen. Der neue Tag ist geboren. Mit geschlossenen Augen zur Sonne gerichtet und die Arme und Hände dem steigenden Glutball entgegenstreckend, empfangen die Gläubigen den Tag mit einem vielstimmigen »Ram-Ram«, »Ram-Ram« (Gott-Gott) zur Begrüßung der Gottheit. Tempelglocken ertönen mit unterschiedlichen Klängen und bestätigen auf ihre Weise, daß ein neuer Tag begonnen hat. Die Sonne spiegelt sich im heiligen Fluß, grüßt so die zeitig erschienenen Pilger und weckt mit ihrem jungfräulichen Glanz die noch Schlafenden, die das große Naturschauspiel versäumt haben. Von Manfred Uesseler erschien im Trafo-Verlag das Buch »Erlebtes Indien«, 300 Seiten, 24,80 €
Erschienen in Ossietzky 14/2012 |
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