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Da kann uns der heilige westliche Zorn überkommen – ähnlich wie vorher schon im Fall des russischen Milliardärs Michail Chodorkowskij, der eine mehrjährige Haftstrafe verbüßen muß. Solch hartherziger Umgang mit Milliardären wäre bei uns undenkbar. Die Völker dort im Osten sind eben keine zivilisierten Europäer wie wir, sondern bedürfen dringend unserer robusten Unterweisung im Fach Menschenrechte. Als Chodorkowskij verurteilt wurde, empörten sich die westlichen Medien fast unisono. Über die Vorwürfe gegen ihn und über den Prozeßverlauf hatten sie von Anfang an kaum ein Wort verloren. Die erbosten Kommentare, auch von Politikern verschiedener Parteien, erschienen dann zu einem Zeitpunkt, als die ausführliche Urteilsbegründung in Deutschland noch gar nicht bekannt war. Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning (FDP), kritisierte den Schuldspruch als »Beispiel für politische Willkürjustiz«; er forderte: »Die EU sollte prüfen, ob sie Staatsanwälte und Richter, die das Recht dermaßen beugen, mit einem Einreiseverbot belegt.« Die Vorsitzende der Grünen, Claudia Roth, fand das Urteil »inakzeptabel und ein Zeichen für eine politisch gelenkte russische Justiz«. Die Zeit erklärte, was von dem Verurteilten wirklich zu halten sei: »Er symbolisiert das Gute, Geläuterte im Kampf gegen das Böse.« Und Die Welt beschloß, nun sei »die Illusion zerstört, Rußland könne für die Europäische Union und vor allem für Deutschland ein Partner auf gleicher zivilgesellschaftlicher und politischer Augenhöhe sein«. Eben dieses Unisono der Urteilsschelte ohne jeden Beleg war für Viktor Timtschenko, einen ehemaligen Redakteur der Deutschen Welle, eine Herausforderung, dem Fall nachzugehen. Das Ergebnis seiner Recherche liegt jetzt vor, eingeleitet von der langjährigen ARD-Korrespondentin in Moskau, Gabriele Krone-Schmalz, die das Buch besonders all denen zur Lektüre empfiehlt, »die immer schon wußten, daß Chodorkowskij ein Opfer russischer Willkürjustiz ist, und die nicht müde werden, ihre Wertungen mit der in solchen Fällen üblichen Mischung aus Abscheu und Empörung in die bereitstehenden Kameras zu schleudern, ohne die geringste Hemmung oder den leisesten Zweifel, vielleicht doch nicht so genau zu wissen, geschweige denn zu begreifen, was da vor sich geht«. Gleich als Chodorkowskij im Herbst 2003 verhaftet wurde, ernannte ihn die Moskauer »Helsinki-Gruppe« forsch zum »politischen Häftling«, und acht Jahre später meinte Amnesty International (AI), ihn als »Gewissenshäftling« anerkennen zu müssen. Timtschenko fragte bei AI nach und bat um Mitteilung von Fakten und Kriterien für diese Entscheidung. Doch die renommierte Gefangenenhilfsorganisation antwortete nicht (wie sie auch in den letzten Wochen mit einseitigen Berichten über Syrien ihr Renommee aufs Spiel setzte) und störte sich offenbar auch nicht daran, daß der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einstimmig einen Antrag Chodorkowskijs auf Anerkennung als politischer Häftling abgelehnt hat. Von Chodorkowskij selber liegen, nebenbei bemerkt, unterschiedliche Äußerungen vor. In einem Interview sagte er: »Ich bin sicher, ich wurde nicht wegen der Politik ins Gefängnis gesteckt, sondern um mir Jukos wegzunehmen« – Jukos, den riesigen Konzern mit viel, viel russischem Öl. Chodorkowskijs unternehmerische Geschichte begann in den Jahren der »Perestrojka«. Der Organisationssekretär einer Moskauer Untergliederung der sowjetischen Jugendorganisation Komsomol, verantwortlich für ein Technologiezentrum, hatte dort die Möglichkeit, Ideen junger Konstrukteure zu vermarkten, und begann dann, auch mit Computern, Jeans und Spirituosen zu handeln sowie – einem US-amerikanischen Zeitungsbericht zufolge – außerdem mit jungen hübschen Russinnen, die er in die USA exportierte. Im Mai 1989 gründete er eine Bank, was bekanntlich mehr bringt als der Einbruch in eine Bank. Damals und in den folgenden Monaten entstanden in Rußland viele Banken, aber Chodorkowskijs Bank Menatep war nicht einfach eine von vielen, sondern von vornherein üppig privilegiert. Auf Anordnung ihres Gönners Michail Gorbatschow, so erfährt man bei Timtschenko, durfte diese Bank den Fonds für die Beseitigung der Folgen der Tschernobyl-Katastrophe verwalten – das Geld ist, wie der Autor lakonisch anmerkt, bis heute spurlos verschwunden. Ein anderer lukrativer Auftrag folgte 1990: Menatep sollte die Rubel der KPdSU in US-Dollar umtauschen. Gemeinsam mit drei anderen Banken wurde Menatep auch bevollmächtigt, die Finanzgeschäfte eines Staatsunternehmens zu betreuen, das 1993 das Monopol für Im- und Export von Militärtechnik erlangte. Und exklusiv erhielt Chodorkowskijs Bank vom Finanzministerium das Recht, mit Gold-Zertifikaten zu handeln, einer besonders sicheren Geldanlage in Zeiten der Inflation. Tim-tschenko: »eine wahre Goldgrube«. Chodorkowskij, der im Weißen Haus, dem zentralen Regierungsgebäude in Moskau, ein Büro beziehen durfte, erhielt die Zuständigkeit für die Finanzierung vieler öffentlicher Aufgaben (von der Lebensmittelversorgung in Moskau bis zum Hochschulwesen) und gründete gleichsam im Handumdrehen Dutzende, wenn nicht Hunderte, später sogar Tausende Firmen, die sich an der Privatisierung beteiligten. Schlußverkauf. Ein ganzes großes Hotel in Moskau war damals für den Preis des Kronleuchters im Foyer zu haben. Derweil wurde der Staatshaushalt zum ersten Mal nach dem Krieg mit einem Defizit verabschiedet. Von den Geldreserven der Vor-Perestrojka-Zeit blieb ein Zehntel, die Außenschulden stiegen ums Mehrfache, und in den Läden mangelte es am Lebensnotwendigen. Armut breitete sich aus. Der vielseitig tätige Bankier, am Beginn seiner Karriere gerade 25 Jahre alt, finanzierte festliche Empfänge im Haus der Film- und dem der Theaterschaffenden, wo sich bei frisch aus Frankreich eingeflogenen Austern und anderen Köstlichkeiten Politiker, Publizisten und Wissenschaftler trafen, die bei der Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft behilflich waren; auch das Ehepaar Gorbatschow war gern dabei. Oder man kam einfach zum Tee bei Menatep zusammen, um sich mit Einflußreichen auszutauschen, etwa mit Gri-gorij Arbatow, dem Leiter des Arbatow-Instituts, von dem sich seit Jahrzehnten alle sowjetischen Machthaber hatten beraten lassen. Besonders nützlich für das Ansehen des Menatep- und später des Jukos-Konzerns waren Berühmtheiten aus dem Ausland. So lud Seine Königliche Hoheit Prinz Michael von Kent im ungenannten Namen eines russischen Milliardärs renommierte angelsächsische Journalisten zu einer Rußland-Tour ein; Gastgeber Michail Chodorkowskij konnte sich nachher über zahlreiche lobende Artikel in westlichen Medien freuen. Den ehemaligen britischen Außenminister Lord David Owen machte er zum Mitglied des Menatep-Direktoriums. Um Freunde in den USA zu gewinnen, wandte Chodorkowskij laut International Herald Tribune zwischen 2001 und 2003 jährlich 50 Millionen US-Dollar auf. Eine Million spendete er zum Beispiel für die Bibliothek des US-Kongresses und 100.000 für das National Book Festival, ein Lieblingsprojekt der Präsidentengattin Laura Bush. Und er gewann Henry Kissinger für die Mitarbeit am Fonds »Offenes Rußland«, während umgekehrt das Investment-Unternehmen Carlyle Group, an Investitionen in Rußland durchaus interessiert, ihn neben Ex-Präsident George Bush I. und dem britischen Premier John Major als Berater berief und die um die geopolitischen Perspektiven des US-Imperialismus bemühte International Crisis Group ihn neben Zbigniew Brzeziñski, George Soros und Wesley Clarke in ihren Vorstand berief. Daß er, der Freund solcher Freunde, wegen Steuerhinterziehung und Bestechung für Jahre ins Gefängnis gesperrt werden könnte, hielt er wohl für unwahrscheinlich. Ähnlich dachte vermutlich ein solcher Freund wie Otto Graf Lambsdorff, Ehrenvorsitzender der FDP und Mitglied des Menatep-Beirats, selber einmal rechtskräftig wegen Steuerhinterziehung verurteilt. Tief entrüstet reagierte er auf den Urteilsspruch gegen Chodorkowskij: »Das Verfahren war ein Schauprozeß unter Verletzung aller rechtsstaatlichen Grundsätze, russischer wie internationaler.« Lambsdorff behauptete: »Der Kreml hat das Urteil diktiert« – als wüßte er darüber Bescheid. Die ARD sprach von einem »gnadenlosen« Urteil, und das war insofern verständlich, als die BRD ihren Milliardären erfahrungsgemäß größeren Respekt erweist, jedenfalls solange sie Erfolg haben. Bis heute haben sich hierzulande noch selten Politiker und Juristen für die Gefahren interessiert, die von Milliardären wie Flick oder Springer für Demokratie, Rechts- und Sozialstaatlichkeit ausgingen. Viktor Timtschenko hingegen fragt am Ende seines Buches, ob das überhaupt eine Demokratie sei, wenn »Chodorkowskij mit seinen Milliarden alle Gewalten im Staate privatisierte: die Legislative, die Exekutive und Judikative – samt der sie kontrollierenden Presse«. Der schnelle Verkauf Rußlands an US-Konzerne und vielleicht auch an einige deutsche und britische wurde verhindert – nicht allein durch die Inhaftierung Chodorkowskijs bald nach seiner Rückkehr von einem Treffen mit dem damaligen US-Vizepräsidenten Dick Cheney und durch seine Verurteilung in zwei Verfahren, sondern offenkundig durch die Politik Wladimir Putins. Darum die bitterbösen Behauptungen über Putins Eingreifen in dieses Verfahren, wofür es keinerlei Belege gibt. Uns für das Geflecht politischer Interessen rund um den Kriminalfall Chodorkowskij, an dessen gerichtlicher Aufklärung allem Anschein nach wenig auszusetzen ist, die Augen zu öffnen, ist Timtschenkos wichtigstes Verdienst. Schade nur, daß der Autor darauf verzichtet hat, zentrale Dokumente aus dem Verfahren zu zitieren. Seine sarkastische Erzählweise wirkt zwar meistens erfrischend, aber mehr Faktenstrenge und Quellenbezug – die er bei anderen vermißt – täten seiner eigenen Glaubwürdigkeit gut. Viktor Timtschenko: »Chodorkowskij – Legenden, Mythen und andere Wahrheiten«, Herbig Verlag, 335 Seiten, 19,99 €
Erschienen in Ossietzky 14/2012 |
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