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Auch in diesem Jahr erlebten wir wieder eine tiefe Verunsicherung der Deutschen im Umgang mit dem 8. Mai 1945. Nach wie vor besteht nicht einmal begriffliche Klarheit über das Ende des Nazi-Regimes. »Zusammenbruch« oder »die Stunde Null«? »Befreiung vom Faschismus« oder »bedingungslose Kapitulation«? Kamen die alliierten Truppen als Sieger oder als Befreier? Fühlten sich die Deutschen tatsächlich 1945 von der Hitler-Diktatur befreit? Und sehen sie jetzt in der militärischen Niederlage nicht eher den Beginn der Vertreibung und den Verlust von Territorien im Osten oder den Anfang der Unterdrückung in der SBZ/DDR? »Dreigeteilt niemals!« lautete eine Plakat-Parole, die in den frühen Jahren der BRD Städte und Landschaften optisch beherrschte. Es ist keinesfalls ausgemacht, daß die Vertriebenenverbände nach der Aufhebung der Zweiteilung Deutschlands Besitzansprüche auf einen dritten Teil gegenüber Polen und Tschechien gänzlich aufgeben werden. Erleben wir doch seit Jahren eine erneute Umcodierung des Vergangenheitsdiskurses: die Deutschen als Opfer des Bombenkrieges, der Flucht und der Vertreibung. Allein schon der strukturelle Antikommunismus erlaubte lange Zeit keine Entschädigungszahlungen an die im Zweiten Weltkrieg nach Deutschland verschleppten Ostarbeiter, davon 2.8 Millionen aus der Sowjetunion und 1,7 Millionen aus Polen. Erst 1999 fielen einige »Brosamen vom Herrentisch« (Thomas Kuczynski). An eine Wiedergutmachung für die über 20 Millionen getöteten Russen, davon 13,6 Millionen Soldaten und sieben Millionen Zivilisten, die an der untersten Stufe der NS-Wertskala standen, wird bislang überhaupt nicht gedacht. Das grauenvolle Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen im Stalag Gudendorf in Dithmarschen steht exemplarisch für dieses Kapitel einer verdrängten Opfergeschichte. Die Namen Auschwitz, Buchenwald, Bergen-Belsen, Neuengamme, Dachau haben sich langsam, gegen viele Widerstände, in das kollektive Gedächtnis der Deutschen eingeprägt. Für die großen und kleinen Friedhöfe der russischen Kriegsgefangenen in Deutschland liegt die Aufarbeitung immer noch im Argen. Aber die Initiativen »Blumen für Stukenbrock« und »Blumen für Gudendorf« lassen hoffen, daß in Zukunft nicht nur an die KZ, nicht nur an die Mordopfer der SS in erinnert wird, sondern verstärkt auch an die Verantwortung der deutschen Wehrmacht erinnert wird – vor allem der Wehrmachtsführung, die viele Hunderttausende von Kriegsgefangenen in den Lagern verhungern und verscharren ließ. Nicht einmal abgesichert durch einen Führerbefehl wurde die Ausrottung der Kriegsgefangen durch Kälte, Hunger und Krankheit praktiziert. So ersparte man sich »unnütze Esser«. Ab Januar 1942 erprobte das Oberkommando des Heeres diese Praxis schon bei der Belagerung von Leningrad: Der Versuch, eine Stadt von vier Millionen Einwohnern auszuhungern, hatte nicht deren Kapitulation zur Folge, sondern ein Genozid mit 1,2 Millionen Toten. Das heutige St. Petersburg war damals – wie die Stalags – ein Zwischenreich von Toten und noch Lebenden, die zu schwach waren, um die Gestorbenen im gefrorenen Boden zu betten. Der Handel mit Menschenfleisch, insbesondere gewonnen aus Kindern, dokumentiert den grausamen Überlebenswillen von zu Kannibalen gewordenen Menschen. Das Abschlachten von wehrlosen Frauen und Kindern, die sich durch Flucht retten wollten, gehörte zum Tagesgeschäft des deutschen Soldaten. Leningrad zählte neben Auschwitz die meisten Getöteten der Kriegszeit. Kein Schuldeingeständnis war dem verantwortlichen Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nord, Generalfeldmarschall Wilhelm Ritter von Leeb, im Nürnberger US-Tribunal gegen das Oberkommando der Wehrmacht zu entlocken. Er kam 1948 mit drei Jahren Zuchthaus davon, die durch seine Verhaftung ab 1945 als verbüßt galten. Die in Nürnberg verurteilten Eliten aus dem Bereich der Verwaltung, der Industrie, der Justiz, der Medizin, der SS und des Militärs prägten bald eine BRD, die auf Westbindung und Wiederaufrüstung orientiert wurde. Den Weststaat mit zu gründen halfen ehemalige Repräsentanten der NS-Eliten. Sie bauten die neuen Geheimdienste auf, unterwanderten die Parteien, eroberten Staatssekretärs- und Ministerposten. Der frühe Kontakt des US-amerikanischen Geheimdienstes zu ehemaligen leitenden Angehörigen von SS, SD und Gestapo um Walter Schellenberg und Reinhard Gehlen erleichterte deren Nachkriegskarrieren. Verläßliche Nazis wie der »Schlächter von Lyon«, Klaus Barbie, wurden vom CIC/CIA und später vom Bundesnachrichtendienst rekrutiert, um erneut Kommunisten aufzuspüren. Und seit 1990 erleben wir nun, wie die Nachkriegsparole »Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus« in »Nie wieder Krieg ohne uns« verdreht wird. Vor allem diese Anmaßung einer neuen Großmacht ist es, die die Deutschen im Umgang mit dem 8. Mai 1945 tief verunsichert.
Erschienen in Ossietzky 13/2012 |
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