von Moshe Zuckermann mit einem Vorwort von Utz Anhalt
"Man benennt den erkorenen Feind und zeichnet sodann die Kreise der Zielscheibe um ihn herum. Dass es sich bei dieser Vorgehensweise um einen Circulus vitiosus handelt, stört den Zielenden nicht, denn der Erschießungsakt soll ja gerade die Legitimation für die Erklärung des Feindes zum Feind bieten."
Moshe Zuckermann
Nichtjüdische Deutsche erteilen israelischen Juden Leseverbot wegen "Antisemitismus". Was wie ein deutsches Drehbuch für "Life of Brian" von Monthy Python wirkt, geschah auf den "linken Buchtagen" im Juni 2012 im Mehringhof in Berlin. Ein "Antideutscher" begrüßte das Leseverbot für den linken Laika-Verlag wegen eines Buchs mit Aufsätzen von kritischen Staatsbürgern Israels wie Moshe Zuckermann und linken Juden wie Noam Chomsky: "Wer sich mit dem Laika Verlag solidarisiert und die Buchtage boykottiert - umso besser. Die Vorstellung, dass weitere Antisemiten sich nicht willkommen fühlen ist doch keine schlechte", so sein Kommentar auf Facebook. Zu den Unterzeichnern des Solidaritätsaufrufs mit dem Laika-Verlag gehört auch Hajo G. Meyer, ein jüdischer Überlebender von Auschwitz. Ein Antisemit?
Auslöser der Ausladung ist eine im LAIKA-Verlag erschienene Anthologie "Mitternacht auf der Mavi Marmara", in der sich fünfzig Autoren und Autorinnen mit dem Überfall der israelischen Armee auf eine Hilfsflottille für Gaza während des Kriegs gegen Gaza und dem Nahostkonflikt auseinandersetzen. Israelische Soldaten töteten bei diesem Überfall neun Menschen. Achtzehn der fünfzig Autoren sind Juden, die die Gaza-Flottille und den Konflikt zwischen Israel und Palästina aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten und zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Die Auslader sind nichtjüdische Deutsche.
Feindschaft gegen Juden und Araber, Antisemitismus im wörtlichen Sinn, kann bei dem Antisemitismusvorwurf an den Laika-Verlag nicht gemeint sein. Es handelt sich um Definitionsmacht und damit um Herrschaft innerhalb der Linken, oder derer, die streiten, wer links oder rechts ist. Den Ca Ira Verlag traf 2008 ebenfalls ein Leseverbot – auf der Nürnberger Linken Literaturmesse. Der "antideutsche Kampfverlag", laut AK, sah damals "Neostalinisten" am Werk. Die judäische Volksfront mag die Volksfront von Judäa nicht? Ist das jetzt antisemitisch? "Wer immer gegen Monster kämpft, sollte aufpassen, nicht selbst zum Monster zu werden", schrieb Nietzsche. "Wer immer gegen Lächerlichkeiten kämpft, sollte aufpassen, sich nicht selbst lächerlich zu machen", ließe sich ergänzen. Eine bittere Lächerlichkeit in diesem Fall.
Der israelisch-deutsche Historiker Moshe Zuckermann erörterte 2010 in "'Antisemit!' Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument", wie der Antisemitismusbegriff politisch instrumentalisiert wird. Er schrieb die Einleitung zu "Mitternacht auf der Marvi Mar", die sich zu lesen lohnt.
Moustafa Bayoumi (Hrg.): Mitternacht auf der Mavi Marmara. LAIKA-Verlag, Hamburg 2011, 369 Seiten, 19,90 Euro
Die im Epilog von Brechts Dreigroschenoper rigoros gestellte Frage, was schon der Einbruch in eine Bank sei, gemessen an der schieren Gründung der Bank, zeichnet sich durch ihren paradigmatischen Charakter aus. Aufgrund einer gewohnt instrumentellen Mentalität der »Problemlösung« – die dem amerikanischen Begriff »trouble shooting« innewohnende Aggression indiziert die vorbewußt-ohnmächtig gespeicherte Gewißheit, daß letztlich kein Problem wirklich gelöst werde – beschäftigt man sich, den verlorenen Groschen im Laternenlicht suchend, mit dem Offensichtlichen und Selbstverständlichen. Um herauszufinden, was das »Problem« – mehr noch: das gesellschaftliche beziehungsweise politische Problem – sei, muß man (zuweilen) bei »Adam und Eva« ansetzen. Ein Leichtes ist es freilich nicht. Wer hat schon die Lust, Kraft und Ausdauer, bis auf »Adam und Eva« zurückzugehen, wenn die Probleme »brandaktuell« sind? Die Tragikomik aktueller Praxis: Was ist schon das »Brandneue« am jeweiligen Problem, gemessen an der historisch-übergreifenden Brandstiftung?
Die Darstellung des Ereignisses, welches mittlerweile als »Gaza-Flottille« kodiert worden ist, sieht sich, seinem kontroversen Charakter entsprechend, vor das Problem der unterschiedlichen Rezeption des Geschehenen gestellt. Was war da im Mai 2010 passiert? Es kommt ganz darauf an, wem man sein Gehör schenken möchte. Den Initiatoren der Flottille zufolge wollte man die von Israel gegen den von der Hamas beherrschten Gazastreifen verhängte Blockade durchbrechen, die Aufmerksamkeit der Welt auf die humanitären Auswirkungen dieser Blockade ziehen und den Bewohnern Gazas humanitäre Hilfe zukommen lassen. Nach Angaben israelischer Politinstanzen unterhält die an der Flottille beteiligte türkische Organisation IHH, die sich der Free-Gaza-Bewegung und anderen propalästinensischen Aktivisten angeschlossen hatte, Verbindungen zu islamistischen Kräften in der Welt, mithin zu Al-Qaida und dem internationalen Dschihad, weswegen die Organisation von Israel (als terroristische) für illegal erklärt worden ist. Während die Flottille-Aktivisten die Schuld am Menschenleben fordernden Gewaltausbruch auf der »Mavi Marmara« dem Kommandounternehmen des israelischen Militärs und der Kaperung des Schiffes zuschrieb, hieß es von seiten des Sprechers der israelischen Armee, die Soldaten seien im Verlauf der Aktion auf »schwere physische Gewalt« seitens der an der Protestaktion beteiligten Aktivisten gestoßen, welche die Soldaten, nach ihrem eigenen Bekunden, mit Schußwaffen sowie mit Messern und Schlagstöcken attackiert hätten, weshalb man aus Notwehr auf sie schießen mußte. Von selbst versteht sich, daß die große Anzahl der bei der Aktion zu Tode gekommenen Aktivisten in vielen Medienberichten in der Welt ganz andersartige Reaktionen hervorrief als in den allermeisten israelischen Medien. Es ließen sich hier weitere perspektivisch jeweils vorbestimmte Wahrnehmungsunterschiede anführen, was aber als überflüssig erachtet werden mag; sie illustrierten nichts weiter als das längst Bekannte: Partikulare Interessen stabilisieren von vornherein das Normative fragmentarischer Sichtweisen, wobei dann die jeweilige Sichtweise ihre Bestätigung im prästabilisierten Normativen sucht.
Nun läßt sich aber fragen: Gibt es eine Wahrheit beziehungsweise – bescheidener gegriffen– keine Perspektive, die der wahrgenommenen Realität näher kommt oder doch zumindest stimmiger ist als konkurrierende Perspektiven? Ja, zweifellos gibt es sie. Aber auch sie kann einem Erörterungsparadigma unterworfen werden, das allzu leicht von einer umfassenderen Wahrheit ablenkt – dann nämlich, wenn die jeweilige Perspektive im Hinblick auf ihre rein zweckrational ausgerichtete innere Logik anvisiert wird. So läßt sich fragen, ob Israels Entscheidung, die »Mavi Marmara« überhaupt zu kapern, sonderlich klug war; und wenn eine solche Aktion stattfinden mußte, ob der Modus der Operation rein militärisch vertretbar war. Wenn es, wie im nachhinein behauptet, nicht darum ging, Aktivisten auf dem Schiff verletzen, geschweige denn töten zu wollen, zeugt nicht die Tatsache, daß es dennoch zu Toten und Verletzten kam, von defizitärer militärischer Planung im noch besten Fall und von gewaltbeseelter Verblendung im eher anzunehmenden Fall? Aber auch die Planer der Protestaktion müßten sich – unter solchen zweckrationalen Gesichtspunkten – fragen lassen, ob sie ernsthaft in Kauf genommen haben, daß es zwangsläufig zur brutalen Gewaltanwendung seitens des israelischen Militärs kommen werde, wenn sich Gewaltbereitschaft auf seiten eines Teils der Aktivisten zeigen würde. Haben die Aktivisten, die meinten, sich auf Gewalt einlassen zu sollen, in Betracht gezogen, daß das Militär – letztlich jedes Militär der Welt – sich mit nichts anderem würde zufriedengeben können als mit einer eindeutigen, mithin brutalen Niederschlagung des ihm entgegengebrachten Widerstands? Sollten sie aber das in ihren Aktionsplan miteinbezogen haben, was sind ihnen dann die Opfer der Aktion? In Kauf genommene Märtyrer? Ein weiterer Beweis für Israels Brutalität? Bedurfte es denn eines weiteren Beweises, und waren Menschenleben in der Tat der notwendig in Kauf zu nehmende Preis für die Erbringung dieses Beweises?
Jede dieser Fragen (und viele andere mit ihnen einhergehende) ließen sich aus der immanenten Logik des konkreten Ereignisses »Gaza-Flottille« diskutieren und klären. Dies ist bereits in der Tat in allen erdenklichen Foren geschehen. Dagegen ist an sich auch nichts einzuwenden: Jede Sensation zeitigt Reaktionen, erst recht, wenn das Sensationelle einen tragischen Ausgang nimmt (und aus eben diesem Grund kontrovers rezipiert wird). Politisch ist die Inszenierung der Sensation zuweilen sogar vertretbar, insbesondere dann, wenn sich sonst »nichts mehr bewegt«. Im Fall der Gaza-Flottille war die schiere Bestrebung, die Blockade durch die Schiffsaktion zu durchbrechen, dem Show-Effekt der militärischen Operation mutatis mutandis verschwistert. Das Pathos der Sensation lag beiden zugrunde. Freilich läuft das Sensationelle stets Gefahr, von der Sache, um derentwillen es inszeniert worden ist, so abzulenken, daß das ursprüngliche Ziel sich gänzlich dem Diskurs entschlägt. Das diesbezügliche Muster (teils bewußter Manipulation) ist wohlbekannt. Indem sie nämlich die Aufmerksamkeit der Medienkonsumenten auf »gegenwärtige« Relevanz lenkt, läßt die Nachrichtenaktualität des heute Getöteten den Getöteten des gestrigen Tages in Vergessenheit geraten und verleiht somit der Wahrnehmung des Grauens notwendig eine buchhalterische Dimension: Was von der Möglichkeit, das bestimmte Opfer, und seis durch die Erinnerung der spezifischen Details seines Schicksals, zu ehren, übrigbleibt, wird zugunsten des aktuellen Ereignisses geraubt, bevor auch dieses zu »old news« wird, um im medialen Mülleimer der Sensationsindustrie zu landen. Nach einiger Zeit erinnert man sich nur noch an die Statistik – manchmal als Bilanz zwischen »unseren« und »ihren« Toten; zumeist nicht einmal das, wenn die Ausmaße der Katastrophe so horrend sind, daß der statistische Blick sich der Wahrnehmung von selbst aufzwingt und das Schicksal der einzelnen in der An onymität des allgemeinen Chaos untergeht.
So wichtig die Klärung der Vorkommnisse auf der »Mavi Marmara« an sich sein mag, muß es vor allem darum gehen, das zu erörtern, was die Gaza-Flottille zum (realen oder vermeintlichen) Muß hat werden lassen. Nicht also die intendierte Durchbrechung der Blockade, sondern die Grundvoraussetzung der über den Gazastreifen verhängten Blockade (beziehungsweise dessen Einschnürung) muß in den Brennpunkt der kritischen Betrachtung rücken. Dabei muß freilich doch auf »Adam und Eva« zurückgegangen werden. Denn so sehr der Einbruch in eine Bank als solcher in dem ihn generierenden System entsprechend geahndet werden muß, darf doch das System, das diesen Einbruch zwangsläufig hervorgebracht hat, als das eigentliche Problem angesehen werden.
Es ist nun diese Grundannahme, die der Erörterung des Flottillenereignisses das Zurückgehen auf »Adam und Eva« – mithin auf »Kain und Abel« – aufzwingt. Dabei muß man nicht gleich die Urgründe von 1897 oder 1948 in Anschlag bringen, sehr wohl aber den 1967er Krieg und seine Folgen. Denn nahezu alles, was sich zwischen Israelis und Palästinensern seit nunmehr über vierzig Jahren politisch, wirtschaftlich, militärisch und ideologisch abgespielt hat und weiterhin abspielt, ordnet sich dem einen, das Verhältnis der beiden Kollektive zueinander unhintergehbar bestimmenden Faktor unter: der von Israel praktizierten Okkupation palästinensischer Territorien. Zu bedenken gilt es dabei vor allem, daß die im Krieg erfolgte Militärbesatzung der Gebiete mittlerweile in ein mit großem Elan angelegtes Siedlungswerk gigantischen Ausmaßes umgeschlagen ist. Nicht von ungefähr sind Beobachter auf beiden Seiten zur Überzeugung gelangt, daß der im Westjordanland über Jahrzehnte (durch die von Israel angelegte Infrastruktur) verfestigte Herrschaftszustand »irreversibel« geworden sei, mithin die Option einer Zwei-Staaten-Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts in eine objektive Sackgasse geritten habe.
Auf israelischer Seite sah sich diese Expansionspraxis, welche sich Sicherheitserwägungen verdankt haben mochte, sehr bald einer fundamentalreligiösen Ideologisierung des stetig anwachsenden Siedlungswerks verschwistert. Messianisch beseelte Nationalreligiöse deuteten die Kolonisierung der besetzten Gebiete als »Rückkehr in das Land der biblischen Urväter«, vor allem aber als »Befreiung von gottverheißendem Land«. Auf palästinensischer Seite schärfte sich das kollektive Bewußtsein und die mit diesem einhergehende Widerstandsemphase gerade an dieser israelischen Besatzungs- und Annexionsdynamik, die selbst zu Zeiten des Oslo-Prozesses in den neunziger Jahren nicht abriß. Eines muß gleichwohl im Hinblick auf den gesamten Okkupationszusammenhang festgestellt werden: Mochten die Palästinenser und die Israelis ihre je eigenen Fehler bei periodisch aufkommenden Versuchen, den blutigen Konflikt politisch beizulegen, begehen, so stand auch stets fest, daß die realen Mittel zu seiner Lösung durchgehend in israelischer Hand lagen.
Es war und ist nun einmal Israel, das die Territorien unter gewaltsamer Herrschaft hält; entsprechend sind die Machtverhältnisse alles andere als symmetrisch verteilt. Man drehe und wende es, wie man will, es ist Israel, das die Unterdrückung praktiziert, deren Opfer die Palästinenser sind. Es ist in erster Linie auch Israel, das die Unterdrückung real aufzuheben vermag.
Die Leiderfahrung der Palästinenser hat das staatsoffizielle Israel indes kaum je berührt. Man nahm den selbstbewirkten Zustand perpetuierter Repression hin und erging sich in ideologischen Rationalisierungen, daß die Palästinenser sich ihre Lage selbst zuzuschreiben hätten; daß sie demokratieunfähig seien, daher auch keinen ernstzunehmenden Partner für wirkliche Friedensgespräche abgeben könnten. Nicht von ungefähr wurde gerade der israelische Staatsmann, der es mit dem Frieden zwischen beiden Kollektiven ernst zu meinen schien, ermordet. Denn zu keiner Zeit in den vergangenen Dekaden, in denen sich eine lippenbekennende Friedenssehnsucht in Israel selbst zelebrierte, wurde die vorgebliche Friedensbereitschaft der Israelis zum Gegenstand ernstgemeinter Erörterung erhoben, geschweige denn real auf die Probe gestellt. Daß man den Frieden wollte, war klar, nicht aber, ob man auch bereit war, den dafür zu zahlenden Preis einer realen Beendigung der Okkupation (also Rückgabe der besetzten Gebiete) zu entrichten.
Was man dabei aber übersah (beziehungsweise bewußt ignorierte), war die mit der Umgehung des Friedens zwangsläufig entstehende Sackgasse, in welche sich der zionistische Staat nolens volens hineinmanövrierte und von dieser nunmehr in der Stagnation fortwährender Perspektivlosigkeit gehalten wird: Gerade das monströs angewachsene Siedlungswerk im Westjordanland und die Staat-im-Staat-Funktion, welche die Siedler im heutigen Israel mittlerweile innehaben, dürften klargemacht haben, daß ein im Rahmen der finalen israelisch-palästinensischen Friedensregelung staatsoffiziell getroffener Beschluß, sich aus den besetzten Gebieten der Westbank zurückzuziehen, die Gefahr birgt, einen innerjüdisch-israelischen Bürgerkrieg zu entfachen. Gibt man aber die okkupierten Territorien nicht zurück und behält somit die staatliche Oberhoheit Israels über diese bei, bewirkt man zwangsläufig die objektive Entstehung einer binationalen Struktur, bei der die Juden früher oder später zur Minorität im eigenen Land werden müssen.
Die zweite dieser beiden Möglichkeiten gilt wohl den allermeisten jüdischen Israelis als die größere Bedrohung – sie würde ja nicht weniger als das Ende des historischen zionistischen Projekts bedeuten. Es will gar scheinen, daß die »demographische Zeitbombe«, als welche sie im gängigen israelischen Diskurs mittlerweile apostrophiert wird, inzwischen selbst ins ideologische Bewußtsein der israelischen Politprominenz (etwa bei Schimon Peres, Tzipi Livni, Ehud Olmert und Ehud Barak) vorgedrungen ist. Auszugehen wäre davon, daß sogar ein Ariel Scharon diesen Faktor im Sinn hatte, als er im Jahre 2005 den – im Hinblick auf Scharons Lebenswerk, der massiven Besiedlung der besetzten Gebiete, in der Tat eklatanten – unilateralen Rückzug aus dem Gazastreifen initiierte und vollzog. Daß er damit die Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen mitbewirkte, dürfte ihn kaum gestört haben, wenn er sie noch mitbekommen hätte. Denn das Divide-et-impera-Prinzip, welches man aus israelischer Sicht der Verfeindung zwischen der Hamas und der PLO zuschreiben konnte, war ja schließlich ein Erbteil israelischer Politik bereits in den siebziger Jahren: Schon damals unterstützte die israelische Politik religiöse Elemente im palästinensischen Lager gegen die säkulare PLO, die man unter Yassir Arafat für den gefährlichen Feind Israels erachtete. Nicht daß Scharon sich die Hamas als eine auf Israel Raketen abfeuernde Machtinstanz direkt gewünscht hätte; vielmehr war es ihm darum zu tun, die anderthalb Millionen palästinensischen Bewohner des Gazastreifens der israelischen Oberhoheit zu entziehen, um längerfristige »Ruhe« im Westjordanland zu erlangen, vor allem aber auch das »demographische Problem« zu verringern.
Daß die an die Macht gelangte Hamas dann als das auftrat, was sie nun einmal ist – eine fundamentalreligiöse Bewegung, die jegliche Friedensabkommen mit Israel kategorisch ablehnt–‚ war der hohen israelischen Politik zwar lästig, zugleich aber auch mitnichten unwillkommen: Nichts Günstigeres hätte man sich wünschen können als die Schwächung der PLO durch die rigoros auftretende, gar zum Bürgerkrieg bereite Gegnerschaft der Hamas. Auch den durch diese Organisation proklamierten bewaffneten Kampf gegen Israel konnte man dazu benutzen, um auf Gaza immer wieder brutal einzuschlagen, vor allem aber, um die ökonomische Einschnürung des Gazastreifens und dessen militärisch-territoriale Blockade zu legitimieren. Die dem Islamismus verschriebene Hamas durfte (spätestens nach dem September 2001) auf keine politische Beliebtheit, geschweige denn Solidarität im Westen hoffen. Und so konnte auch im Westen kaschiert beziehungsweise ignorierend hingenommen werden, daß es in erster Linie die palästinensische Bevölkerung Gazas war, die an ihrer eigenen Regierung (welche sie freilich selbst gewählt hatte), vor allem aber an der israelischen Politik gnadenloser Absperrung des dichtbesiedelten, armseligen Landstrichs lebensweltlich, wirtschaftlich und eben auch immer wieder militärisch zu leiden hatte.
Was immer die Initiatoren der Gaza-Flottille zu ihrer waghalsigen Unternehmung bewogen haben mag (und unabhängig davon, ob es von vornherein ratsam war, sich mit dem israelischen Militär anlegen zu wollen), eines dürfte klar sein: Die Flottille wäre nicht zustande gekommen, wenn es nicht die Blockade gegeben hätte; die Blockade hätte es ohne die Heraufkunft der Hamas-Regierung nicht gegeben; die Hamas-Regierung ist aber das Erzeugnis des unilateralen Rückzugs der Israelis aus dem Gazastreifen unter dezidiert würgender Einschnürung des vorgeblich befreiten Territoriums; diese repressive Maßnahme liegt nun aber ihrerseits ganz in der Logik dessen, was die Hamas-Regierung, die Blockade und den kläglichen Versuch ihrer Durchbrechung zeitigte: der Okkupation. Wer aber von der Okkupation nicht reden will, sollte auch von Freiheit, Demokratie und Frieden schweigen.
Der Soziologe Moshe Zuckermann lehrt seit 1990 am Cohn Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas (Universität Tel Aviv) und war von 2000 bis 2005 Direktor des Instituts für Deutsche Geschichte in Tel Aviv. Zuletzt erschien von ihm: »Antisemit!« Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument. Wien, Promedia Verlag 2010, 208 Seiten, 15,90 Euro. Auch im jW-Shop erhältlich
https://sopos.org/aufsaetze/4fe087355e8fc/1.phtml
sopos 6/2012