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In den Gremien der HUB wie auch in der Tagespresse war zuvor schon heftige darüber debattiert worden, ob nach der »Wende« diese »indoktrinierende Losung« weiterhin an der Wand stehen dürfe. Nun aber fehlten das »s« von »sie« und das »x« von Marx, und einige andere Buchstaben hingen gelockert im Marmor. Bereits das vorhergehende Konzil hatte als demokratisch gewähltes höchstes Entscheidungsgremium eine Denkmalkommission gewählt, der nicht wenige Aufgaben gestellt waren; das Marx-Zitat war nicht die einzige Herausforderung. An vielen Universitätsgebäuden gab es Gedenktafeln. Auf einer stand zum Beispiel, daß Marx hier von 1836 bis 1840 studiert hat; eine andere erinnerte daran, daß hier Friedrich Engels und später Karl Liebknecht »Gasthörer« waren. Viele solcher Hinweise ließen sich problemlos bei Renovierungsarbeiten entsorgen ... Der ebenfalls heftig umstrittene Wandteppich des Hallenser Künstlers Werner Rataiczyk »Entwicklung der Wissenschaften« war noch im Senatssaal verblieben. Die Karl-Marx-Büste des Bildhauers Will Lammert hingegen, die am Saal-Eingang gestanden hatte, war längst auf einen Platz in der »Kustodie« genannten Kunstsammlung der Universität herabgestuft. Die Diskussion um das Marx-Zitat im Foyer war hingegen von so grundsätzlicher Art, daß sie unvermindert andauerte, obwohl lange bekannt war, daß der Denkmalschutz zur Eliminierung bereits »nein« gesagt hatte. Das neu gewählte Konzil beschloß trotzdem ein »Stufenprogramm«, nach dem die Marx-These zumindest mit künstlerischen Mitteln so zu relativieren sei, daß sie ihre Bedeutung als »Herrschaftssymbol« verliere. Es gab schon erste Überlegungen, einen Wettbewerb »zur Umgestaltung des Hauptfoyers« auszuschreiben. Schließlich wurde öffentlich dazu aufgerufen, daß sich »alle« mit Ideen beteiligen sollten. Besonders der Theologe Richard Schröder, durch die Übernahme der Evangelischen Kirchlichen Hochschule Ost-Berlin in die Theologische Fakultät der Humboldt-Universität eingegliedert, nutzte jede Gelegenheit, darauf hinzuweisen, daß das Marx-Zitat bleibender Beweis dafür sei, wie der Marxismus in der DDR Wissenschaft und Forschung dominiert habe. Die historisch bedeutsame Lehre sei in Dogmatismus und Intoleranz erstarrt. In diesem Sinne argumentierte auch die Sprecherin der Denkmalkommission, Ursula Werner. Im Tagesspiegel dagegen schlug Michael Karnetzki am 12. August 1992 unter der Überschrift: »Die Professoren haben Marx unterschiedlich kritisiert, es kommt darauf an, ihn zu verstehen« einen erfrischend anderen Ton an: »Über die Oberflächlichkeit in der intellektuellen Beschäftigung mit dem Marxschen Denken könnte man sich wundern, wenn dieses Niveau in der westdeutschen Geisteswissenschaft nicht leider schon immer verbreitet gewesen wäre, und wahrscheinlich ist das für Schröder der Maßstab für die wissenschaftliche ›Erneuerung‹ in der ehemaligen DDR. Wer aber nicht einfach nur eine politisch gewendete, sondern eine tatsächlich wissenschaftlich erneuerte Humboldt-Universität will, muß von ihr auch so viel akademische Würde verlangen, daß sie wissenschaftliche Leitsprüche wie die 11. Feuerbach-These, die Generationen von DDR-Wissenschaftlern und Studenten nur auswendig gelernt haben, (wenn überhaupt) erst dann aus den Hallen (und Köpfen?) verbannt, wenn eine seriöse wissenschaftliche Auseinandersetzung auch mit ihrem tatsächlichen Inhalt stattgefunden hat. Und dazu ist bei Richard Schröder: Fehlanzeige!« Inzwischen war Professorin Marlis Dürkop zur Präsidentin der Humboldt-Universität gewählt worden. Eines Tages wurde bekannt, daß das Kaiserpaar von Japan Berlin und hier speziell auch die Universität besuchen wolle. Der Berliner Senat ging selbstverständlich davon aus, daß der Tenno die Freie Universität meine. Die für das Protokoll verantwortlichen Japaner korrigierten aber rechtzeitig, daß die Humboldt-Universität gemeint sei: Zu ihr habe Japan seit hundert Jahren sehr gute Beziehungen, wie man zum Beispiel an der kleinen Mori-Ôgai-Gedenkstätte sehen könne, errichtet zu Ehren eines einstigen Medizinstudenten an der HUB, der Goethes »Faust« ins Japanische übertragen hat. Ich fürchtete, der hohe Besuch könne als günstige Gelegenheit mißverstanden werden, das Marx-Zitat entgegen den Denkmalschutz-Bestimmungen zu eliminieren. Aber die Präsidentin hatte spontan bereits eine sorgfältige Restaurierung angeordnet. So blieben der Humboldt-Universität die 11. Feuerbach-These und die Endlos-Diskussion darüber erhalten. Das Kaiserpaar konnte der Marmorwand mit ihren repräsentativen Buchstaben den handgreiflichen Angriff nicht mehr ansehen. Die fernöstlichen Besucher äußerten reiches Lob für die Bewahrung großer Traditionen. Professorin Karin Hirdina (Ästhetik/Kunstwissenschaft), auch Mitglied der Denkmalkommission, kommentierte die inzwischen schon über drei Jahre geführte Diskussion um das Marx-Zitat in der Zeitschrift Humboldt-Universität (11. November 1993): »Ein Wort von Marx wird zum Symbol für 40 Jahre, die Entfernung des Zitates soll wiederum Symbol sein – für Erneuerung und Freiheit der Wissenschaft. Ein merkwürdiger Einfall, Freiheit und Pluralismus gerade durch Ausschluß, Ausgrenzung dokumentieren zu wollen! Ich halte die Entfernung von Symbolen für ein untaugliches Mittel der Erneuerung. Was not tut, ist Auseinandersetzung mit der Geschichte, nicht ihre Verleumdung. Keiner, der an dieser Universität gearbeitet hat, gar berufen wurde, sollte meinen, er könne sich aus dieser Geschichte herausnehmen, seine Arbeit war nicht nur Widerstand. Das Marx-Wort könnte uns künftig an die Humboldt-Universität in der DDR erinnern und an die Notwendigkeit, deren Geschichte aufzuarbeiten. Das setzt allerdings voraus, daß da noch Leute sind, die Erinnerungen haben (wollen). Eine durch hundertprozentigen Austausch erneuerte Universität braucht so etwas nicht.« In einer Ringvorlesung zur 11. Feuerbach-These gab die Philosophische Fakultät die Möglichkeit zu sachlicher Diskussion und besserem Verständnis. Zum 200. Bestehen der Universität wurde dann wie geplant ein Wettbewerb zur »Umgestaltung« des Foyers ausgelobt. Eine junge Engländerin, Ceal Floyer, die international mit ihren Installationen bereits Aufsehen erregt hatte, gewann die Ausschreibung. In einem im Foyer ausgelegten Flugblatt der Universitätsleitung, in dem die 11. Feuerbach-These in zehn Sprachen (seltsamerweise nicht in Russisch) abgedruckt ist und dazu noch in den historischen Zusammenhang gestellt wird, heißt es: »Die Kunstinstallation trägt den Titel »Vorsicht Stufe«. Die Künstlerin hat eine Vielzahl von identischen Messingschildern mit dieser Aufschrift anfertigen lassen und montiert diese auf jeden einzelnen der 56 Stufenabsätze des Treppenantritts und der zwei Treppenarme. Es handelt sich um gewöhnliche Warnschilder aus Messing in reduzierter Form ... Das verborgene Potential liegt bei Ceal Floyers Installation nicht in dem einzelnen Warnschild, sondern in der Wahrnehmung der durch die Begriffsreihung erzeugten Situation. Vom Foyer aus betrachtet scheinen sich diese Bilder bis ins Unendliche fortzusetzen. Es entstehen seltsame Achsenbezüge im Raumgefüge des von rotem Marmor und DDR-Design dominierten denkmalgeschützten Foyers ... Am Ende steht ein freier Umgang mit der Intervention – ästhetisches Raumerlebnis, Provokation oder Warnung vor Raum und Zitat? Das muß jeder der Foyerpassanten selbst erfahren.« Übrigens: »Stuve« hieß die erste Studentenvertretung der Humboldt-Universität. Sie bereitete aktiv die Studentenparlamentswahlen vor und kandidierte auch selber: »Studentenvertretung«. Wer hörte das »v«? Ich finde – wenn auch in leichter »Abwandlung« der Schreibweise –, daß an der Treppe Geschichte festgeschrieben wurde: »Vorsicht, Stufe«. Ohne das kritische Engagement der Studenten hätte es die beiden Jahre intensiver Mitsprache und Entscheidungsfindung nicht gegeben. Ich jedenfalls steige die Treppe hoch und denke: Vorsicht Stuve! Ob Studenten unter den aktuellen Studienbedingungen noch einmal bereit wären, ihre Rechte zu erkämpfen und dann auch Gebrauch von ihnen zu machen? Aber: Wie anders läßt sich die Welt denn verändern? Vielleicht ist diese Installation doch nicht nur ein Treppenwitz. Und mit stillem Vergnügen denke ich daran, daß ich als Rektor dafür sorgen konnte, den Haupteingang der Humboldt-Universität mitsamt dem Marx-Zitat unter Denkmalschutz zu stellen.
Erschienen in Ossietzky 12/2012 |
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