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"Solidarische Ökonomie und Selbstverwaltungsgesellschaft"

Ein Bericht zur 22. Jahrestagung der Loccumer Initiative Kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom 30.03 bis 1.04.2012 in Bremen

von Wilfried Gaum

Mit dieser Tagung sollte ein Beitrag zu den aktuellen Diskussionen über mögliche Alternativen zu einer "immer kurzatmigeren Politik einer Stabilisierung der globalen Ökonomie" geleistet werden, wie es in der Einladung hieß. Sie sollte sich auf die beiden Debattenstränge beziehen, in denen sich Gewerkschaften und ihr Umfeld einerseits und die ökologische bzw. globalisierungskritische Bewegung andererseits an der Entwicklung von Antworten auf die bislang einzigartige Zusammenballung ökonomischer, sozialer und ökologischer Krisen versuchen. Das eigenständige Profil der Loccumer Initiative als fraktions- und strömungsübergreifendem Ort der Selbstverständigung kritischer Theorie zeigte sich in einer Reihe ambitionierter Problemstellungen, die an diesem Wochenende bearbeitet werden sollten. Die Aufarbeitung der gescheiterten Sozialismuskonzeptionen gehörte dazu ebenso wie die Suche nach verallgemeinerungsfähigen Konzepten einer Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Dabei sollte auch das schon lange diskutierte Spannungsverhältnis von betrieblicher Autonomie und gesamtwirtschaftlicher Planung beleuchtet werden. Von hohem Interesse und für eine alternative Produktionsweise essentielle Fragestellungen wie die Entstehung und Diskussion gesellschaftlicher Bedürfnisse und ihre Umsetzung in Produktion sollten ebenfalls thematisiert werden.

Die aktuelle Krise des Kapitalismus und seine demokratischen Alternativen

Michael Krätke leitete die Tagung mit einem Referat über die aktuelle Kritik des Kapitalismus und seine demokratischen Alternativen ein. Er beschrieb die derzeitige wirtschaftliche Situation als eine der großen Krisen, deren ökonomische und politische Bedeutung weit über die üblichen, etwa alle 7 bis 8 Jahre auftretenden kapitalistischen zyklischen Krisen hinausgehe. Seiner Ansicht nach befinden wir uns in einer Großen Depression, die zusammenfällt mit einer ökologischen und einer Hungerkrise. Aus Krisen dieses Typus kam der Kapitalismus immer anders heraus als er hineingegangen ist. In der aktuellen Situation erweise sich einmal mehr, dass Kapitalismus und Demokratie ein schwieriges Paar seien: die Wahlen in Irland 2010, Portugal und Spanien 2011 hätten nicht dazu geführt, dass die von der faktisch regierenden international agierenden Troika den nationalen politischen Eliten aufgenötigten Sparprogramme auch nur kritisch hinterfragt wurden. Die Ankündigung Papandreos in Griechenland, das Spardiktat einer demokratischen Volksabstimmung auszusetzen, führte nach massivsten Pressionen durch Merkel, Sarkozy et.al. Zur Etablierung einer Notstandregierung, die mit der Beteiligung von griechischen Neofaschisten aufscheinen lässt, was mittlerweile von europäischen Leitmächten für gesellschaftsfähig gehalten wird. Das Regime eines demokratischen Kapitalismus sei schwer beschädigt, zumal bis jetzt der Finanzsektor alle Runden im Kampf um seine Regulierung gewonnen habe. Die Tendenz zu einem weiteren Abbau des Staatssektors, zu mehr Privatisierung, mehr Staatsschulden, weniger öffentlichem vermögen und höherem Massensteuerdruck sei ungebrochen. Krätke beschrieb vier Szenarien als denkbar, die aus der Krise führen könnten: ein neokonservativ-autoritäres, ein "Neoliberalismus light", ein sozialdemokratisches und ein öko-sozialistisches. Dabei arbeitete er neue Elemente in der Entwicklung der Weltwirtschaft heraus, die dabei in Betracht zu ziehen seien. Zunächst sei der Aufstieg einer "G 20"-Konstellation zu beachten, die die alte Vormachtstellung der "G 8" ablösen könnten. Hinzu träten neue lokale Bündnisse in Asien und Lateinamerika sowie transregionale und -kontinentale Allianzen in Afrika, Zentralasien und dem Mittleren Osten. Dazu zählt auch die Koordination nationaler Interessen Brasiliens, Russlands, Indiens, Chinas und Südafrikas seit Juni 2010 (BRICS). Bemerkenswert fand er, dass die konservative US-amerikanische Gewerkschaftsföderation AFL/CIO offen über die Vorzüge einer genossenschaftlicher Produktionsweise wie im baskischen Mondragon diskutiere. Als wichtigen internationalen Akteur machte Krätke die Occupy-Bewegung aus, die als organisierter Ausdruck der immer noch lebendigen moralischen Ökonomie der Unterklassen gelten könne und nicht nur eine andere Demokratie, sondern auch eine andere Wirtschaft einfordere. Zum Abschluss seiner Ausführungen beschrieb er Wirtschaftsdemokratie, betriebliche Demokratie und einen Marktsozialismus als mögliche Ausdrucksformen für eine solche andere Wirtschaftsweise.

Erfolgsbedingungen selbstverwalteter Ökonomien

Im nächsten Block sollten die "Erfolgsbedingungen selbstverwalteter Ökonomien" diskutiert werden. Einstiegsstatements dazu hielten Gisela Notz ("Erfahrungen mit alternativen Betrieben in Deutschland"), Clarita Müller-Plantenberg ("Selbstverwaltete Produktions- und Verbrauchsketten und universitäre Unterstützungsstukturen") sowie Dagmar Embshoff ("Aktuelle Entwicklung solidarischer Ökonomien und ihre Vernetzung"). Notz benannte einige Kriterien für eine der solidarischen Ökonomie verpflichteten Betriebsweise: Selbstverwaltung, Herstellung sinnvoller Produkte, Aufhebung von Hand- und Kopfarbeit. Zwischen 100.000 und 450.000 Menschen arbeiteten in Deutschland zur Zeit in solchen Betrieben. Trotz der immer drohenden Gefahr, dass sich innerbetriebliche Hierarchien durchsetzen und sich hinter dem Rücken der Genossen kapitalistische Leistungsnormen durchsetzten, sich Fremd- und Selbstausbeutung etabliere, meinte Notz mit diesen Betrieben ein "Fenster in eine andere Welt" aufgetan. Clarita Müller-Plantenberg stellte in ihrem Beitrag ganz praktisch eine Reihe von Beispielen solidarischer Ökonomie in Europa vor, die sich zum Teil zu komplexen Ketten von der Urproduktion, Verarbeitung bis zum Vertrieb ordnen. Als eines von vielen Beispielen, die Müller-Plantenberg vorstellte, mag stellvertretend die solidarische, genossenschaftliche Wollspinnerei in Ardelaire (Frankreich) gelten, in der die vor Ort gewonnene Wolle versponnen und zu Kleidung verarbeitet wird und neben der Direktvermarktung in einem Museum die Geschichte der Schäferei und Wollindustrie gezeigt wird. Neben einer Gastwirtschaft ist ein kleiner Verlag "mouton rebelde" im Aufbau. Dagmar Embshof schließlich stellte aktuelle Trends in der langsam wachsenden solidarischen Ökonomie vor, die von einer zarten Bewegung zur Neugründung solcher Betriebe über die aufkommende gewerkschaftliche Debatte um Wirtschaftsdemokratie zum Aufbau eines internationalen Netzwerkes in Italien, Frankreich und den USA führten. Immer mehr Menschen wollten nicht mehr im Widerspruch zwischen unseren eigenen Theorien und Überzeugungen und unserem Leben stehen. Die eigentliche Fragestellung nach den Erfolgsbedingungen solidarischer Ökonomie wurde durch die eher deskriptiv orientierten Einleitungsbeiträge nicht getroffen. Dafür wurden in der Diskussion kritische Fragen aufgeworfen:

Interessant auch der Hinweis, dass Betriebe wie die von Longo Mai mit ihrem Ansatz, ein "gutes Leben" ("buen vivir") aus dem alten Paradigma der Arbeiterbewegung der politischen Machtübernahme durch Reform oder Revolution ausbrechen.

Workshop "Ökonomie": Genossenschaften und Wirtschaftsdemokratie – Konzepte und aktuelle Diskussion

Gabriele Herbert, deren Thema eigentlich die Organisation einer selbstverwalteten Gesellschaft zwischen Markt und demokratischer Planung sein sollte, brachte Kritisches in die Diskussion ein. Die Genossenschaften sollten nicht mit Ansprüchen und Idealisierungen überfrachtet werden, so zum Beispiel dem Anspruch, diese sollten die Trennung von Hand- und Kopfarbeit aufheben etc. Sie seien als Selbsthilfeorganisationen mit regionalem Bezug zu verstehen werden, nicht mehr und nicht weniger. Ein Effekt sei dabei, dass damit Kapital gebunden werde, das nicht vagabundieren könne.

Dieser Tagungsblock war mitsamt den Diskussionsbeiträgen informativ, was den gegenwärtigen Stand der faktischen Entwicklung einer solidarischen Ökonomie betrifft. Über die Erfolgsbedingungen selbstverwalteter Ökonomie klärten die Beiträge nur bedingt auf. Der Zusammenhang zwischen der Krise des neoliberalen Stadiums des Kapitalismus und der Entwicklung einer Postdemokratie und dem wachsenden Interesse an Formen der Selbstorganisation, der Selbstverwaltung, des praktischen Tuns, dem Auftauchen und Wachstum eines libertären Geistes und einer Praxis jenseits tradierter Formen von Parteien und Gewerkschaften, konnte nicht aufgeklärt werden.

Wohl aber gelang es Alex Demirovic in seinem bescheiden unter dem Titel "Wirtschaftsdemokratie – Konzepte und aktuelle Diskussion" angekündigten Referat die besonders von der IG Metall betriebene politische Diskussion über eine Alternative zuzuspitzen. Demirovics Ausgangsüberlegung war, dass allen Menschen ein vollständiges Beteiligungsrecht am gesellschaftlichen Leben zukommt. Die bereits von Marx kritisierte kritisierte Trennung von Politik und Ökonomie ist und bleibt unplausibel, denn entweder ist Demokratie ein gesellschaftliches Prinzip, das für alle Sphären Gültigkeit hat oder sie ist keine. Die Debatte in der IG Metall nähert sich diesem Ansatz über die Tradition der Betriebsrätebewegung. Sie versteht Wirtschaftsdemokratie als Kontrolle oligopolistischer Unternehmensstrukturen und fragt daher danach, ob investiert wird, in was investiert wird, ggfls. in welche Produkte und wann. Demirovic betonte aber, dass Wirtschaftsdemokratie eben keine Gewerkschaftsangelegenheit sei. Eine solche Verengung würde sofort die Frage nach der Legitimität der Repräsentation der Beschäftigten durch eine Gewerkschaft aufwerfen und Interessenkollisionen zwischen Produzenten und Konsumenten systematisch vernachlässigen. Wirtschaftsdemokratie sei demgegenüber eine gesellschaftliche Fragestellung, von der lediglich eine Teilmenge durch die gewerkschaftliche Debatte thematisiert werde. Zur Demokratisierung der industriellen Produktion müsse die Sozialisierung der Kredit- und Sparfunktionen hinzutreten sowie ihre Abstimmung auf ökologische und transnationale Bedürfnisse.

In der sich anschließenden Diskussion wies Krätke auf das Trauma des Bankrotts der gewerkschaftseigenen "Neuen Heimat" und der "Bank für Gemeinwirtschaft" hin, das über der von den Gewerkschaften betriebenen Debatte hänge. Demirovic betonte, es komme ganz entscheidend darauf an, dass mit einer Wirtschaftsdemokratie eine "Demokratisierung der Demokratie" angestrebt werde, also eine Selbstverstärkung der Demokratie. Anzustreben sei eine indikative Rahmenplanung und gesellschaftlich vermittelte Rückkopplungsschleifen zur Überprüfung der Planungsziele und -auswirkungen. Dem Argument, dass dies in einer globalisierten Ökonomie kaum möglich sei, hielt er entgegen, dass nach neueren Untersuchungen selbst in Städten wie Hamburg lediglich 10 Prozent der Ökonomie globalisiert seien. Michael Buckmiller wies auf die historischen Wurzeln der Wirtschaftsdemokratie hin. Der Begriff sei nämlich zunächst als Abwehrprogramm gegen die von den radikaleren Teilen der Arbeiterbewegung angestrebte Sozialisierung der Produktion ins Spiel gebracht worden und sei durch den ADGB 1928 wiederum als Abwehrstrategie gegen den wachsenden kommunistischen Einfluss wieder aufgegriffen worden. Der IG Metall-Vorsitzende Huber habe sich 2008 und 2011 über die Wirtschaftsdemokratie lustig gemacht. Dagegen gelte es, den Begriff der Wirtschaftsdemokratie offensiv als Fundament einer selbstverwalteten Gesellschaft zu vertreten.

Bedürfnisse jenseits von Askese und Ausbeutung

Im dritten Workshop der Tagung, in dem es um "Bedürfnisse" gehen sollte, sprach zunächst Friederike Habermann unter dem Titel "...will nicht so, wie ich wohl will" zu Bedürfnissen jenseits von Askese, Ausbeutung und autoritärem Staat. Ziel einer Neuausrichtung der mentalen Infrastrukturen sei eine "common based peer production", die nach den Prinzipien "Teile, was Du kannst", "Besitz statt Eigentum" und "Beitragen statt tauschen" funktioniere. Anschließend diskutierte Stefan Meretz Bedürfnisse in der gesellschaftlichen Produktion. Bedürfnisse drückten historisch spezifische Verhältnisse aus. Deshalb gebe es keine festen Bedürfnisse, woraus sich für eine Planökonomie ein handfestes Problem ergebe. Eine Planwirtschaft ermittele Bedürfnisse, um dann zu produzieren – Meretz nannte das eine statische Indirektion. Dem stehe die Marktwirtschaft als dynamische Indirektion gegenüber, bei der erst produziert und dann Waren an den Konsumenten vermittelt würden. Markt und Plan seien aber keine Gegensätze, sondern Varianten des Gleichen. Sie seien in einem Kontinuum der Warenproduktion eingespannt: Bedürfnisse werden lediglich ermittelt, dann Waren produziert und schließlich vermittelt. Ausgangspunkt für eine neue Produktion müsse aber sein, dass die Menschen ihre Bedürfnisse selbst ermitteln, produzieren und vermitteln. Anknüpfend an Arbeiten von Elinor Ostrom sei dies in "commons" möglich: Bedürfnisse werden ex ante ermittelt, Zielkonflikte intern ausgehandelt, Ziele bilden eine "multidimensionale Pluralität", die Zeitverausgabung wird als Lebensqualität verstanden und insgesamt eine Logik der Inklusion erzeugt. Eine neue Produktion setze sich nur durch, wenn sie sich als neue Produktionsweise durchsetze. Dazu biete das System der "commons" hinreichende Ansätze: die Selbststeuerung in diesen ersetze potenziell den Staat durch "meta commons", Restrukturierung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, zunehmende Ersetzung des Geldes als Tauschmittel und damit den Abbau des Finanzsystems und der Nationalstaaten durch den Aufbau problemzentrierter "global commons". Das entscheidende an diesem Ansatz ist wohl, dass durch die neuen technologischen Entwicklungen eine demokratische Kommunikation über die Produktion der Produktionsmittel möglich werde.

Wie zu erwarten, wurden die Ansätze von Habermann und Meretz kritisch diskutiert. So wurde von Krätke gegen den "commons"-Ansatz eingewandt, dass diese nur bei sehr strengen Regeln funktionierten. Zudem sei nach den Grenzen der Inklusion zu fragen, und ihr Funktionieren setze bereits eine Gesellschaft der Freien und Gleichen voraus. Er hielt diesen Ansatz für nicht univeralisierbar und nicht generalisierbar, da die Bildung von "commons" sehr spezifischen Voraussetzungen unterliege. Von der Vring fragte nach dem Umgang mit objektiven Knappheiten. Margareta Steinrücke meinte, das Konzept sei lediglich für Hochqualifizierte denkbar sowie nur bei lokal begrenzten Bedürfnissen und müsse die ganze Macht des bestehenden Systems zurückdrängen.

Dagegen ließe sich sagen, dass derzeit alle Formen eines alternativen Wirtschaftens gegen die Macht und die Mächtigen des Bestehenden anzutreten hätte. Auch dürften Konzepte von Wirtschaftsdemokratie und auch nur erweiterter betrieblicher Mitbestimmung voraussetzen, dass sich die Individuen selbst ermächtigen, selbst in die Lange versetzen, die Produktionsabläufe zu erfassen und zu verändern. Die sehr an marxistische Utopie- und Bilderverbotes erinnernde Einwände gegen Habermann und Meretz sind angesichts der sich zuspitzenden Krisenszenarien und der stupenden Einfallslosigkeit der traditionellen Linken (die selten mehr als Keynesianismus oder Zusammenbruchsszenarien vorbringen) zu vernachlässigen. Sie taugen nicht mehr als systematisch durchgreifende Argumente, nachdem die traditionelle Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung in mehr als 150 Jahren ihrer Existenz in keiner ihrer Ausprägungen überzeugende Argumente dafür liefern könnte, nicht mit großer Offenheit und soziologischer Phantasie neue Pfade in Utopia zu betreten.

Zum Verhältnis von parlamentarischer und Rätedemokratie

Der letzte Tag der Tagung sollte der Diskussion von Fragestellungen um Recht und Politik vorbehalten bleiben. Michael Buckmiller referierte in seinem Vortrag zum Verhältnis von parlamentarischer und Rätedemokratie. Dabei bezog er sich zunächst auf die historische Konstellation bei Etablierung der ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland. Die Sozialdemokratie nahm 1918 von ihrer Programmatik einer Strukturierung der Wirtschaft durch den Staat Abstand und eine Position des "Plakatsozialismus" ein ("Die Sozialisierung marschiert" - es marschierten dann aber nur die Freikorps). Dagegen entwickelten kritische Sozialisten Alternativmodelle. Karl Korsch beispielsweise vereinte Momente einer Sozialreform und der Rätedemokratie zu einem Modell, das weder reine Verstaatlichung noch eine rein syndikalistische Lösung darstellte. Vielmehr wurde die Widersprüchlichkeit der Interessen von Produzenten und Konsumenten gesehen und synthetisiert, indem industrielle Autonomie und die Feststellung öffentlicher Bedarfe zusammengebracht werden sollten. Dabei war zudem an die Herausbildung einer sozialistischen Moral auf der Grundlage einer intensiven Aufklärungs- und Bildungsarbeit als Vorbedingung einer rationalen Gestaltung der Gesellschaft gedacht. Korsch stellte schon bald fest, dass die Rätebewegung auf Grund mangelnder Bewusstheit und Klarheit über die nächsten politischen Schritte zum Scheitern verurteilt war, ja eigentlich schon mit der im Dezember 1918 vom Rätekongress getroffenen Entscheidung über seine Selbstentmachtung zu Gunsten einer verfassungsgebenden Versammlung in Weimar fernab der großen Klassenkämpfe im Reich ohne Substanz war. Immerhin zeigen diese intensiv geführten Debatten, dass die Möglichkeitsbedingungen für eine Rätedemokratie gegeben sind, wenn sie als humane und effektive Alternative zur Bürokratisierung erscheint. Die entscheidende historische strukturelle Schranke für die Realisierung der sozialistischen Modelle lag aber darin, dass mit den damals vorhandenen technischen Möglichkeiten eine zeitlich und sachliche Abstimmung der Produzenten und Konsumenten untereinander und in ihren jeweiligen Rollen nicht möglich war, ohne eine Planbürokratie in Kauf nehmen zu müssen. Das die verfassungsrechtlichen Möglichkeiten für die Etablierung von Demokratie als Prinzip in Gesellschaft und Ökonomie auch heute gegeben sind, wies Buckmiller kurz unter Bezugnahme auf eine Arbeit Peter von Oertzens über die Vereinbarkeit von freiheitlicher Demokratie und Rätedemokratie auf. Danach ist es durch einfache Verfassungsänderung möglich, den repräsentativen Parlamentarismus durch direkte Formen der Demokratie zu erweitern.

Aktuelle Erscheinungsformen der europäischen Postdemokratie

Das letzte Referat der Tagung bestritt Andreas Fisahn, der mit einem Vortrag zu den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen einer selbstverwalteten Gesellschaft angekündigt war, jedoch zu den aktuellen Erscheinungsformen der europäischen Postdemokratie sprach. Er geht davon aus, dass das Projekt des europäischen Binnenmarktes eine passive Revolution gegen den in den nationalen Nachkriegsverfassungen festgeschriebenen Klassenkompromissen handelt. Durch die Gestaltung des Binnenmarktes werden die fortschrittlichen Positionen im Grundgesetz Beschränkungen ausgesetzt. Es handelt sich um eine Verschiebung der Kompromisslinie des Grundgesetzes zwischen Kapital und Arbeit hin zu einem Kompromiss zwischen Finanzkapital und exportorientiertem Industriekapital nach der EU-Wettbewerbs- und Finanzmarktordnung. Im Ergebnis scheinen die Konturen eines autoritäre EU-Wettbewerbsstaates auf. Die aktuell verfügbaren Alternativen bewegen sich zwischen dem Eingeständnis, dass der Vertrag von Lissabon gescheitert ist und der Herstellung eines neuen Gesellschaftsvertrages, einem "New New Deal", mit dem die Finanzmärkte rereguliert werden, die Einkommenssteuern für die Begüterte auf 75% erhöht werden und ein ökologischer Umbau anvisiert wird. Dies betonte Fisahn mit kritischem Blick auf die rasant ablaufenden, realen Entdemokratisierungsprozesse im Verhältnis zu der Debatte um Alternativen, auch auf dieser Tagung.

In die Abschlussdiskussion brachte Buckmiller die Überlegung ein, dass gegen ein neoliberales Europa der Nationalstaaten ein Föderalismus der Regionen und Großräume gedacht werden könne. Wolfgang Nitsch plädierte für ein alternatives Europa der lokalen Initiativen. Europa soll weiterhin im Fokus der nächsten Diskussionen der Loccumer Initiative stehen. Den Entdemokratisierungsprozessen stellen sich soziale Bewegungen besonders in Südeuropa entgegen, die einer näheren Betrachtung wert sind und Gegenstand der nächsten Jahrestagung sein sollen.

Fazit: Hohe Erwartungen und rege Diskussionen

Die hohen Erwartungen, die sich aus dem Versuch der Veranstalter ergeben, nicht lediglich ein alternatives neues Produktionsregime, sondern auch die mit diesem zu erfüllenden gesellschaftlichen Bedürfnisse kritisch zu beleuchten, zugleich auch verschiedene Generationen von Kämpfen um die soziale Emanzipation des Menschen zu vermitteln, konnten nüchtern betrachtet nur enttäuscht werden. Der Ansatz, alte soziale Bewegungen wie die Gewerkschaften mit neuen Akteuren produktiv zusammen bringen zu können, ist im Grundsatz immer noch interessant. Dies besonders, wenn dissidente und häufig unterschätzte Theorie- und Praxiselemente aus der Geschichte der Arbeiterbewegung fruchtbar gemacht werden. Ob er aber noch ertragreich ist, Antworten auf die drängenden Fragen der aktuellen Krisensituation zu geben, ob die Fragestellungen dieser historischen sozialen Bewegung angesichts der multiplen Unsicherheiten und Krisen noch kritisch genug sind, das blieb offen. Es stellt sich auch vor diesem Hintergrund die Frage, ob die an einer menschlichen Emanzipation Interessierten nicht selbst die Arbeiterbewegung der kapitalistischen und europäischen Zentren zu historisieren haben, um überhaupt kritische Theorie weiterentwickeln zu können Zudem stand die Tagung häufig in einem Spannungsverhältnis zwischen Vortragenden und dem Auditorium, dessen Diskussionsbedürfnisse zeitlich nicht immer befriedigt werden konnten. Hinzu kam, dass von einzelnen Moderatoren gelegentlich nur Nachfragen zugelassen wurden, eine kritische Diskussion, die sich aufeinander bezog, nicht durchgängig gelang. Auch muss kritisch vermerkt werden, dass die Vorträge und Debatten in den einzelnen Tagungsblöcken sich nicht recht aufeinander bezogen. Fazit: weniger wäre mehr gewesen.

Das Interesse an dieser Tagung war relativ groß, sehr erfreulich ist auch zu notieren, dass ein erheblicher Teil der ca. 50 Teilnehmer zur jüngeren Generation gehörte und ein gutes Dutzend von ihnen ihr Interesse an einer Mitarbeit an und in der Loccumer Initiative zum Ausdruck brachte.

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sopos 6/2012