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An der inneren Wand längliche Halbreliefs aus Kalkstein, jeweils in der Größe eines Couchtisches. Das erste von links zeigt ein Paar: den König Schild-Jaguar und seine Frau K´abal Xook, um 700 Herrscherpaar des Maya-Reiches. Er steht, sie kniet vor ihm und zieht sich in schmerzvoller Geste ein mit Dornen ausgelegtes Pflanzenseil durch die Zunge: In Trance wird sie die heilige Schlange visionär schauen, deren Maul der Gründer der königlichen Dynastie speerschwingend entspringt. Die Königin wird zu einem lebenden Orakel, dem kulturbildende Deutungshoheit zukommt, denn aus einer unterliegenden Existenzschicht fließt ihr die Gewißheit zu, daß die Dynastie einer zeitlosen Ordnung entspricht, und sie selbst spricht aus dieser Traumzeit, legitimiert erst dadurch den König und macht ihn sakrosankt. Die Königin wird selbst zum Grund der Traumzeit und entläßt aus sich ihren physischen Körper, die Vision, die Schlange, den Krieger, den König und die Welt, die er 60 Erdenjahre lang regierte. Sie entläßt uns, ihre Betrachter. Es ist daher auch eine Erzählung uralten Matriarchats in Mexiko, der wir lauschen, wenn wir uns in einem Saal für altmexikanische Kunst des British Museum in London bewegen. Das Relief gehört zu einem von hundert Objekten, die auswahlweise für die sieben Millionen stehen, die das British Museum seit seiner Gründung im Jahre 1753 gesammelt, katalogisiert, beschrieben und untersucht hat und jetzt für alle Besucher kostenlos ausgestellt, denn in allen großen staatlichen Museen Londons bezahlt man keinen Eintritt und darf weitgehend in museumspädagogisch hervorragend aufgearbeiteten Ausstellungen fotografieren. Neil Mac Gregor, seit 2002 hier Direktor, stellte diese Objekte, zeitlich und thematisch gegliedert, zunächst 2010 in einer Radioserie der BBC London, später in einem reich bebilderten Buch vor, das im Erdgeschoß des British Museum neben Abbildungen dieser und anderer Stücke (auf Postkarten, Tüchern, Keramiken, Teetabletts, Schlüsselanhängern, Windspielen und Wandteppichen) angeboten wird. Neben solidem Kunsthandwerk und teuren Unikaten wird hier auch massendemokratische Verkitschung bekundet, womit die Museumsshops des British Museum an Unterhaltungswert gewinnen. Es liegt der Radiosendung, dem Buch und dem Museum die Auffassung zu Grunde, daß Geschichte sowohl als Prozeß, als Wissenschaft wie auch als in Objekten erzählte Alltagsgeschichte eine in allen Phasen ihrer Gestaltung kollektive, andauernde und je nach Betrachterstandpunkt relative Angelegenheit sei. Mag man auch einwenden, daß die bekundete Absicht, nicht allein die Geschichte der Sieger zu erzählen, sondern auch die all jener, welche keine Schriftkultur kannten und kennen und Objekte schufen, durch eine Radiosendung und einen Text – eine erneute Verschriftlichung – konterkariert werde, so erzählen die beigefügten vielschichtigen Erzählungen, wissenschaftlichen Deutungen, Anekdoten, Zeichnungen und Aufforderungen zum Weiterdenken doch etwas, das mehr meint als Antagonismen von Herrschern und Beherrschten und in ihnen gestaltete, unterbliebene und variierend entfaltete Geschichte. Neil Mac Gregor nennt zahlreiche Personen, die an der Erarbeitung der Sammlung und ihrer immer erneuerten Erforschung mitarbeiten. Er widmet das Buch allen Kollegen des British Museum und lädt ausdrücklich Kommentatoren zum Diskurs ein – Laien, Kunsthandwerker, Historiker, Kenner der Alltagskultur, Besucher, Benutzer. Neil Mac Gregor spricht von moderner Einzelwissenschaft und historischer Forschung, doch auch von Intuition, von Ästhetik und Poetik in der Betrachtung und bekundet die Auffassung, daß durch eine Vervielfältigung der Rezeption von Objekten sich diese »zur Zeit rasch verändern«. Es ist hierin die philosophische sensualistische Tradition von Locke, Berkeley und Hume erkennbar, die die Welt letztlich als Ergebnis von Wahrnehmung begriffen – Bastion erkenntnistheoretischer Logik, die innerhalb ihrer Prämissen weder zu verifizieren noch zu falsifizieren und von der aus der Stellenwert schöpferischer Hervorbringung problemlos abzuleiten ist. Spätere englische Aufklärung war damit verbunden, aus deren Positionen die Entscheidung des britischen Parlaments zu verstehen ist, die Sammlung Hans Sloane zu kaufen und als erstes Nationalmuseum der Welt öffentlich zu machen. In der Optik, die Neil Mac Gregor vorschlägt, wird Ästhetik wieder zur alten aisthesis, der umfassenden Wahrnehmung, und Poetik zur poiesis, dem Hervorbringen, und Intuition meint ein letztlich mystisches Erkennen, das einen Gedächtniszustand aufruft, der unter und vor dem Gedächtnis selbst liegt: Es geht um eine communitas der Schöpfung, eine Traumzeit und um uns Betrachter, die wir darin zu Schöpfern der betrachteten Objekte aus einem flüssigen Urzustand heraus werden, zu Kulturdeutern, Orakeln, Zusprechern und um die Vision, daß in einem komplexen, hoch reflexiven Prozeß all diese Schöpfer und Geschöpfe in ein fortwährendes Gespräch eintauchen, in dem sie sich betrachten, verändern und immer erneut hervorbringen. Es ist eine große, optimistische Geste der Versöhnung, um die sich Schöpfertum, Produktion und Kommunikation in dieser Darstellung drehen, und es ist ein Gefühl von Bewegung, Trunkenheit und von einem Flug nach innen, außen, oben und unten zugleich, das der Betrachter mitnimmt, wenn er die Eingangshalle des British Museum verlässt. Neil Mac Gregor: »Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten«, aus dem Englischen von Waltraud Götting, Andreas Wirthenson und Annabel Zettel, Verlag C.H. Beck, 816 Seiten, 39,95 €
Erschienen in Ossietzky 11/2012 |
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