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Die Inszenierung des Büchner-Textes beantwortet sie nicht. Die Aufführung überwältigt zunächst. Das Bühnenbild bietet ungeahnte Möglichkeiten, die Schauspieler müssen trommeln und angeseilt am Weltgerüst balancieren, die Musik (Matthias Grübel, Jonas Landerschier) treibt mal an, mal flüstert sie sanft. Aber: Wo ist die Revolution geblieben? Robespierre (Daniel Lommatzsch) vor allem hält ein Wort wie eine Fahne in den Wind: Freiheit. Er, der sich in seiner Tugend spiegelt, sieht im Lasterhaften den »politischen Feind der Freiheit«. Der »gefährlichste Bürger« trägt rote Mützen, aber vollbringt keine »guten Handlungen«. Zwei jener Bürger, ein Er und eine Sie, tauchen auf, streiten sich um Brot und – Blick ins Publikum: »Wir arbeiten« und die tun nichts. »Wir sind doch das Volk«-Rufe und: »Man muß Euch totschlagen.« Büchner meint »sie«, die nichts tun. Büchner läßt die hungernden Bürger einen Satz sagen, den ich vielleicht wegen des Spektakels überhörte: »Unser Leben ist der Mord durch Arbeit – wir hängen sechzig Jahre lang am Strick und zappeln, aber wir werden uns losschneiden.« Keine Solidarität, keine Brüderlichkeit hier, sondern ein Aufeinanderlosgehen der Bürger. Plötzlich hat die Bürgerin eine Motorsäge in der Hand und schneidet dem Bürger den Arm ab. Gemeinsamkeit gibt es merkwürdigerweise eher bei Danton (Jörg Pohl) und Robespierre. Der wird von Danton wegen seiner auftrumpfenden Rechtschaffenheit angegangen: »Ist denn nichts in dir, was dir nicht manchmal ganz leise sagt: du lügst, du lügst?« Büchner läßt Robespierre antworten: »Mein Gewissen ist rein.« In Hamburg bekennt er kleinlaut: »Doch, ich lüge«. Danton nennt ihn »Polizeisoldat des Himmels«. Später, als Danton angeklagt wird und hingerichtet werden soll, geht seine Verteidigungsrede fast unter im wilden Trommeln von Robespierre. Aber Danton wehrt sich mit dem gleichen Instrument: Schlagzeug. Das soll – vielleicht – ein Duell sein, doch Musik verbindet, es klingt gut. Harmonisch. Vorher hatte Danton alle Mittel seiner Popularität eingesetzt und mit weit ausgreifenden Gesten behauptet: »Männer meines Schlages sind in Revolutionen unschätzbar, auf ihrer Stirne schwebt das Genie der Freiheit.« Ein letztes Aufflackern, im Grunde ist er ein müder Held, der zu sehen glaubt, wohin die Revolution führt. Einer, der sich gar nicht verteidigen will, der lieber guillotiniert werden will, als das selber tun zu müssen. Aber »sie werden‘s nicht wagen«, diesen Satz wiederholt er für sich immer wieder. Hoffnung? Er sieht sich nur noch als eine Reliquie, die man »auf die Gasse wirft«. Dantons Gefährte Camille (Mirco Kreibich) kommt im weißen Anzug, steht an einem Katheder, doch nur seine Frau Lucile (Lisa Hagmeister) hört ihm zu. Er beginnt einen Vortrag: Die Landwirtschaft des Jahres 2012, sie könnte leicht die ganze Welt versorgen – das wußte Büchner noch nicht. Ein Kind, was heute an Hunger stirbt, »wurde ermordet«. Camille beschreibt, wie es langsam stattfindet, das Verhungern. Die Gesichter gleichen Greisen. »Die Umstände jedoch, die zu dieser tausendfachen Agonie führten ...« Er unterbricht sich, so, als hätte er den Text vergessen, der nicht von Büchner ist, geht weg. Kehrt zurück und beginnt übers Theater zu sprechen: »Ach, die Kunst! Setzt die Leute aus dem Theater auf die Gasse: die erbärmliche Wirklichkeit!« Die bricht über ihn mit Dantons Nachricht seiner bevorstehenden Verhaftung herein, die auch Camille betrifft. Der Wohlfahrtsausschuß hat es beschlossen. Lucile ahnt, was geschehen wird. Die Aufschrift am Weltgerüst: »Es lebe die Freiheit« wird hinter Gitter gesetzt, Lucile malt Kreidestriche darüber. Ein Traum martert Danton: »War’s nicht im September, als wir Tausende mordeten?« fragt er Julie, seine Frau (Maja Schöne). Sie: »Du hast das Vaterland gerettet.« Er: »Das war kein Mord, das war Krieg nach innen, wir mußten ...« Dieses Muß quält ihn nun: »Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet?« Der Traum – das zurückkehrende Bewußtsein – in beklemmende Bilder verwandelt. Danton steigt auf den Rippen des Globus herab, waagerecht am Seil hängend, »das Haupt abwärts gewandt, die Haare flatternd über dem Abgrund, so ward ich geschleift«. Büchner kannte die Situation. Die Schlinge zieht sich zu. Verhaftungen. Die Angeklagten stecken nun in Handschellen. Darin läßt es sich schlecht ans Volk appellieren. St. Just (Karin Neuhäuser) betritt die Bühne, ganz in grau – der Intellektuelle? Spricht leise, wie dozierend: »Es scheint in dieser Versammlung einige empfindliche Ohren zu geben, die das Wort ›Blut‹ nicht wohl vertragen können.« St. Just, der mit ein paar Worten ein paar hundert Leichen wegwischt, dieser verkniffene, böse Revolutionär – er hatte sich in einer Szene vorher in die Grisette Marion verwandelt. Danton wollte sie verführen. Sie aber erzählte ihm ihre Geschichte. Freimütig gestand sie, daß sie – ganz Gefühl, ganz körperlich – ihre Freude an Leibern findet, an Christusbildern, Blumen oder Kinderspielzeug. Die Regie setzt auf den Globusrand eine überlebensgroße Puppe, nackt, nur Fleisch. Oben sieht ihr winziger Kopf heraus. Danton ruht sich auf ihren Massen aus. Später gibt es kein Ruhen mehr, darf es nicht geben. Auch Camille träumte schrecklich: »Ich mag nicht mehr schlafen, ich mag nicht verrückt werden.« Julie hat sich am Weltgerüst erhängt. Lucile kann nicht verstehen, daß die Welt so weitergeht wie bisher. Will nur noch schreien, daß »alles stockt«. Es gibt ein Gedicht von Paul Celan über Karl und Rosa. Es endet mit der Voraussage: »Der Landwehrkanal wird nicht rauschen./ Nichts / stockt.« * Noch einmal und schon im Titel: »Narziss und die Revolution«, ein Stück von und mit David Chotjewitz. Veranstalter: Kampnagel in Hamburg, Spielort: ein altes Schulgebäude. In jedem Raum ein anderes Programm und das gleichzeitig. Die Tanz-Performance von Silvana Suarez Cedeno konnte nur verstehen, wer schon Chotjewitz’ »Szenische Lesung« kannte, die aber erst später am Abend begann. Seine Erinnerungen aus der Kindheit klärten auf, daß es sich beim Kampf mit Wasser nicht um einen Schiffsuntergang, sondern um ein Ertränken von kleinen Katzen handelte. Ein Schock für den kleinen David. Revolution fand auch hier nur in der Musik statt: Lieder aus Kuba und – na ja – italienische Schlager. Zwei Kurzfilme: »Kinder der Revolution« ließen die antiautoritären Kinderläden wieder aufleben und zeigten Chotjewitz im Interview. Was er über seinen Vater erzählte, das geheime Archivzimmer mit Spinnweben und alten Schallplatten – es versöhnte den Sohn mit dem oft cholerischen Papa. David und sein Bruder wurden zur RAF-Zeit irgendwo in Italien bei einem fremden Paar abgegeben. Sie sehnten sich nach Normalität. Die revolutionäre Umgebung – zu anstrengend für die Kinder. Man fühlte mit und hetzte durch die Schulräume auf der Suche nach der Revolution.
Erschienen in Ossietzky 10/2012 |
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