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Die französischen Wähler, vor allem jene, die unter der Dauerkrise am meisten leiden, blieben am Wahltag nicht zu Hause. Die dumpfe Ahnung, daß sich die etablierten Parteien immer ähnlicher werden, bewirkte, daß im ersten Wahlgang fast 30 Prozent für Kandidaten stimmten, die das herrschende System in Frage stellen. Die Wahlbeteiligung von fast 80 Prozent war für heutige Verhältnisse extrem hoch. Resignation sieht anders aus. Hier manifestieren sich eher Wut und Empörung über einen scheinbar alternativlosen Wirtschaftskurs der klassischen Parteien, aber auch über eine Politik, die immer mehr Franzosen zur abgeschriebenen Konkursmasse des Weltmarktes werden läßt. Daß es in den anderen EU-Ländern nicht viel besser aussieht, ist kein Trostpflaster. In Deutschland bekommt eine Partei bar jeder Programmatik so viel Zulauf, daß sie Mühe hat, genügend Kandidaten aufzustellen. In den Niederlanden wiederum scheitert das von der EU beschlossene Sparprogramm der Regierung am Widerstand der rechtsradikalen Wilders-Partei. In England verhindert lediglich ein extremes Mehrheitswahlrecht, daß sich Protestpartien etablieren können. Die Le Pen-Wähler sind nur zum kleinen Teil rechtsextrem. Die meisten haben den front national gewählt, weil die eloquente Marine Le Pen es besser als ihr Vater versteht, die Partei als tapferen Outsider darzustellen, der nicht ins korrupte Parteiensystem eingebunden ist und weder von Kapitalinteressen noch EU-Bürokraten beeinflußt wird. Der größte Erfolg dieser Partei besteht jedoch darin, daß sich Nicolas Sarkozy im Laufe der Wahlkampagne die Forderungen des front national immer mehr zu eigen machte. Das hat ihm zwar nicht geholfen, aber die Le Pen-Partei salonfähig gemacht. Man durfte sozusagen auch gleich das Original wählen. Auch der front de gauche des Jean-Luc Mélenchon konnte eine beträchtliche Zahl von Franzosen auf sich vereinigen, die den etablierten Parteien die rote Karte zeigen wollten. Über elf Prozent stimmten für den Kandidaten der vereinigten Linken, der sich durch seinen geschickten und humorvollen Wahlkampf als überzeugende Alternative zum Sozialisten François Hollande in Stellung bringen konnte. Das war weit mehr als das traditionelle Wählerpotential der Linken, zumal auch noch zwei trotzkistische Kandidaten knapp zwei Prozent der Stimmen gewinnen konnten. Die wachsende Angst des Mittelstands vor dem sozialen Abstieg manifestiert sich selten in einer Hinwendung zu linken Parteien. Es gilt, den Besitzstand zu wahren, den man sich in den Jahren vor der Bankenkrise erworben hat. In dieser Hinsicht ist man der Linken gegenüber traditionell mißtrauisch. Die neue Rechte hingegen verspricht die Rückkehr zu einer gerechten Gesellschaft, die freilich eine radikale Präferenz des Nationalen beinhaltet. Aber auch die 20- bis 30jährigen, die die goldenen Zeiten von Wohlstand und Vollbeschäftigung nicht mehr erlebt haben, stimmten auffallend häufig für den front national. Diese »génération précaire« fühlt sich abgehängt und überflüssig. Hier ist vermutlich das Gros der Protestwähler zu finden. Wie in anderen Ländern ist auch in Frankreich ein krasser Gegensatz zwischen Stadt und Land festzustellen. Hätten nur die Pariser abstimmen dürfen, dann wäre Marine Le Pen gerade mal bei 6,2 Prozent gelandet, Hollande hätte 34,8 Prozent der Stimmen bekommen. Aber Wahlen werden allemal auf dem Land entschieden: Im Département Gard in der Provence lag die Frontfrau mit 25,5 Prozent auf dem ersten Platz, gefolgt von Sarkozy und Hollande. Im Süden bekam Le Pen fast überall über 20 Prozent, ebenso an der Nordküste und im Elsaß. In der zweiten Runde blieb der Wutwähler außen vor: Er mußte sich für das kleinere Übel entscheiden oder einen leeren Stimmzettel abgeben. Dieser »vote blanc« ist die Protestform derjenigen, die am Wahlsonntag nicht einfach zu Hause bleiben, sondern ihr Mißfallen sichtbar machen wollen, wie es Marine Le Pen ihren Wählern ausdrücklich empfohlen hatte. Andere Kandidaten, die im ersten Wahlgang hinter den zwei Erstplazierten lagen, hatten sich mehr oder weniger klar für Hollande ausgesprochen. Gewonnen hat das kleinere Übel, der Anti-Sarkozy François Hollande. Mit fast 82 Prozent lag die Wahlbeteiligung noch etwas höher als im ersten Wahlgang. Über eine Million Wähler gaben einen leeren Stimmzettel ab. Hollande profitierte letzten Endes von dem latenten Wunsch: Bloß nicht wieder Sarkozy. Inhaltlich hatte er nicht viel zu bieten. Wer Angst vor großen Veränderungen hatte, den konnte Hollande beruhigen. Seine parti socialiste steckt längst im marktkonformen Korsett, das höchstens einige kosmetische Reformen erlaubt. Immerhin blieb Frankreich der fatale ursprüngliche Favorit Strauss-Kahn erspart. Im Juni sind Parlamentswahlen. Traditionell profitiert dann die Partei des neuen Präsidenten. Unzufriedene Wähler können sich bei dieser Wahl besser artikulieren, denn es geht weniger um Personen als um Programme. Das Parteienbündnis des gescheiterten Präsidenten könnte schnell zerfallen. Darauf spekuliert auch Madame Le Pen, die auf ein neues Rechtsbündnis hofft, in dem der front national endlich ein honoriger Partner ist. Die neue Regierung unter François Hollande wird unter kritischer Beobachtung der allmächtigen Finanzmärkte stehen, die Rating-Agenturen zeigen schon mal die Instrumente ...
Erschienen in Ossietzky 10/2012 |
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