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Das legt den Gedanken nahe: Da muß doch volksaufklärerisch etwas getan werden, damit die Leute endlich begreifen, wie freiheitsfeindlich so ein Sozialstaat ist und wie gut es jene Politiker meinen, die ihn demontieren. Armut, das dürfte doch jeder verstehen, macht frei. M. W. Was zählt»Freiheit, Freiheit, ist das einzige was zählt«, so endet ein Song von Marius Müller-Westernhagen aus dem Jahre 1987. Das Publikum singt bei Konzerten verzückt mit. Die Suche nach dem Glück, der ewigen Liebe, aber vor allem nach der persönlichen Freiheit treibt den Menschen an. Doch, welche Freiheit ist die Freiheit, die zählt? Die Werbeindustrie nutzt die Sehnsucht nach Freiheit für ihre Zwecke: der Zigaretten-Cowboy, die PS-starken Autos, die kalorienfreien Verführungen, Urlaubsabenteuer – jede Menge Freiheitsversprechen. Ist Freiheit im Spiel, setzt beim Menschen der Pawlowsche Reflex ein, und er hechelt los. Das nutzen auch Politiker gern. Doch meist ist in der schönen Verpackung wenig Freiheit enthalten. K. K. Ehrlichere AußenpolitikNach Informationen des Spiegel hat die deutsche Regierung eine ehrlichere Darlegung ihrer Außenpolitik angedacht. Nachdem sie sich schon im Inland nicht immer sinn- und buchstabengetreu ans Grundgesetz halten mag, erklärt ein von »Verteidigungs-«, »Entwicklungs-« und Außenministerium erarbeiteter Leitlinienentwurf freiheitlichdemokratische Gepflogenheiten nun auch im Hinblick auf das Ausland für hinfällig. Nach bisherigen Erfahrungen könne »ein zu Beginn robustes Profil als Erfolgsfaktor gelten« – mit anderen Worten: Man setzt unter Mißachtung des Grundgesetzes weiterhin auf militärische Gewalteinsätze in fremden Ländern. Solange deren Bewohnern die Segnungen des demokratischen Kapitalismus noch unvertraut sind, verspricht man sich nachhaltigeren außenpolitischen Erfolg durch folgende Vorgehensweise: Deutsche Friedens- und Freiheitsbringer sollen nun nach dem Einmarsch mit korrupten und/oder gewalttätigen einheimischen »Eliten« zusammenarbeiten – in »Einzelfällen«, also nach Bedarf. War bisher auch schon so, doch nach Verabschiedung des Entwurfs würde daraus ehrlicherweise Teil einer offiziellen außenpolitischen Leitlinie. I. D. WurstwahlJetzt kann die SPD sicher sein, daß sie in Nordrhein-Westfalen weiter regieren darf, mit einem Wahlplakat hat sie alle Konkurrenten aus dem Rennen geworfen. Zu lesen ist darauf, daß die Currywurst sich für die Sozialdemokratie entschieden hat, und wer könnte da noch mithalten. Genial nennen Werbefachleute diesen Werbeauftritt, weil er jede politische Botschaft vermeide. Tüftler können freilich in das Plakatmotiv doch so etwas hineindenken: Wollen die Sozialdemokraten an ihren Kanzler Gerhard Schröder erinnern, dessen öffentliche Lieblingsspeise dieses Fleischfabrikat ist? Soll bewußt gemacht werden, daß auch dem »Hartz IV«-Empfänger ein preiswertes Grundnahrungsmittel zur Verfügung steht? »Kraft-Brühe ist SPD« wäre ja zu dürftig gewesen. Außerdem gibt die Currywurst den Grünen zu verstehen: Wir Sozialdemokraten können es deftiger als Ihr Reformkostschwächlinge. Und die Distanz zur Linkspartei ist betont, denn die bevorzugt bekanntlich Hummer. Vernachlässigt sind durch das Plakat nur diejenigen, denen die Politik der Parteien so zum Halse heraushängt, daß auch eine Currywurst ihnen keinen Appetit auf die SPD macht. P. S. Tyrannisierter ParteigeneralDer gut genährte, aber trotzdem dünnhäutige FDP-General Patrick Döring fühlt sich tyrannisiert. Nicht von den Finanzmärkten, die ganze Nationalökonomien in den Abgrund treiben. Tyrannei übt nach Döring die Masse der bloggenden und twitternden Internetnutzer aus, denen die »Piraten« parteipolitischen Ausdruck verleihen und die sich den Mund nicht länger verbieten lassen wollen. In Dörings Generalangriff auf die gar nicht mehr so neue Netzkultur mischt sich zu allem Überfluß noch Larmoyanz: Es sei doch auch bei der FDP üblich, daß diese ihre Wahlprogramme ins Internet stelle – offenbar zur geneigten Kenntnisnahme durch die verbliebenen Parteimitglieder. Warum nur wollen die Medien darüber nicht berichten? Dörings Schmähworte in Richtung der liberalen Konkurrenzpartei könnte man als Ungeschicklichkeiten eines überforderten Parteisoldaten abtun, wären sie nicht mit einer argen Geschichtsklitterung verbunden. Denn seine Kritik spielt auf eine begriffliche Wendung des gemäßigt konservativen, gleichwohl bürgerrechtsliberalen Politikers und Verfassungstheoretikers Alexis de Tocqueville (1805–59) an. Der Analytiker der amerikanischen Regierungsform hatte von einer »Tyrannei der Mehrheit« gesprochen, die immer dann drohe, wenn eine demokratische Verfassung ihren Bürgern die Möglichkeiten zu freier Mitsprache und Partizipation vorenthalte und sie zu »unmündigen Privatleuten« degradiere. Tocquevilles eindringliche Kritik galt der zentralistischen »Allgewalt der Regierung« in Frankreich. Allerdings muß kritisch angemerkt werden, daß Tocqueville die Masse der »Unfreien«, Sklaven, Indianer und »Wilde« in den Kolonien, bei seinen Partizipationsüberlegungen explizit ausnahm – ausführlich nachzulesen bei Domenico Losurdo: »Freiheit als Privileg«, übersetzt von Hermann Kopp, Papy-Rossa 2010. Wie hätte sich der bedeutende Politikwissenschaftler, dessen Lektüre Döring einmal zu empfehlen wäre, wohl zum Zustand der Berliner Regierungselite geäußert, die sich nur noch als Erfüllungsgehilfin der hemmungslosen Wünsche der Finanzmärkte und der großen Privatvermögen begreift? Carsten Schmitt GG und kein EndeDer Werbespezialist Grass trommelt und der Blätterwald rauscht. Schade ums Papier! Wer die Nase noch nicht voll hat von GG, dem sei empfohlen: Wolfgang Beutin, »Der Fall Grass. Ein deutsches Debakel«, Verlag Peter Lang. Hans Heinrich ERER hat es gewagt ER hat es gewagt ER hat es gewagt ER hat es gewagt SIE fielen dann rudelweise daß ein Verteufler er wär’. WER maßt sich an zu verteilen, die Sorge um diese Welt. Gernot Wolff Wachstum gefährdet?Auch der US-amerikanische Staat muß sparen – aber nur an der richtigen Stelle, sagt der Chef des Konzerns Lockheed Martin. Nicht bei den Rüstungsaufträgen, sonst seien »zerstörerische Folgen« unausweichlich. Sein Unternehmen ist der weltweit größte Produzent von Hightechwaffen. Der 11. September 2001 war ein kräftiger Wachstumsimpuls, mitsamt den dann folgenden Feldzügen; seitdem sind global die staatlichen Ausgaben für militärische »Güter« um 40 Prozent gestiegen, auf jetzt circa 1,8 Billionen Dollar. Die USA stehen dabei mit weitem Abstand an der Spitze, im vergangenen Jahr lag ihr Anteil an den weltweiten Rüstungsaufträgen bei 41 Prozent (Rußland: vier Prozent). Die Bundesrepublik nimmt hier im internationalen Vergleich den neunten Rang ein. Aber die Waffenbranche ist nicht in Not, sie lebt ja nicht nur von den Verkäufen an ihre Standort-Staaten. Der Export boomt. Auch bei der Ausfuhr von Militärprodukten liegen die USA ganz vorn, hier jedoch folgt die Bundesrepublik bereits an dritter Stelle. »Deutsche Waffen für die Welt« hat sich als höchst erfolgreiche Geschäftsidee erwiesen, mit Unterstützung der Bundesregierung. Käufer sind vor allem Staaten in Konfliktregionen. Diese Politik des Rüstungsexports wird von einer großen Mehrheit der Bevölkerung hierzulande laut Meinungsforschung für falsch gehalten. Das scheint die politische Klasse nicht zu kümmern. Man wird ihr Druck machen müssen. Um die zerstörerischen Folgen zu vermeiden (siehe dazu www.aufschrei-waffenhandel.de). P. S. Wider beliebte FamilienlegendenDer Autor des druckfrischen Buches, damals Student der Geschichte an der Universität Freiburg, kam auf die Idee, seinen Großvater nach dessen Biographie zu befragen. Der stellte sich dem Ansinnen 2005 zur Verfügung, im Jahr darauf ist er verstorben. Das Interesse des Enkels rührte nicht zuletzt aus der Tatsache her, daß der Vorfahr die Uniform der Wehrmacht in Polen, der UdSSR und Frankreich getragen hatte und das als ein Berufsoffizier, Krieger und Besatzungsfunktionär. Zunächst ergab diese Befragung eine Bereicherung der familiengeschichtlichen Erzählung an einem Weihnachtstage. Dann weitete sich das Unterfangen, denn Wolfram Wette, Geschichtsprofessor, erklärte sich bereit, die Arbeit auf einer fortgeschrittenen Stufe als abschließende Prüfungsarbeit zu akzeptieren. So folgte auf den ersten Schritt des Forschers als zweiter eine intensive Durchsicht der in der Familie vorhandenen Papiere und schon die wies auf Abweichungen des Erzählten von dem Geschehenen hin, die nicht nur aus Erinnerungslücken stammen konnten. Im dritten Schritt setzte Moritz Pfeiffer die Recherchen in Beständen des Militärarchivs in Freiburg fort. Das auf diesen Wegen Ermittelte eröffnete die Möglichkeit zu genauerem Nachfragen und half dem Zeitzeugen zu Ergänzungen und zu ganzer oder halber Korrektur des ursprünglich Berichteten. Es entstand schließlich ein Buch, das jedem Nachkommen der einst sogenannten Kriegsgeneration eine Menge Denkstoff bietet und das namentlich für die Geschichte der eigenen Familie. Welche Legenden kursieren an Geburtstagstischen und bei anderen Zusammentreffen? Welche Fragen werden nie gestellt, aus Unkenntnis, Scheu oder aus Rücksichten? Wie es um die Verweigerung der zweiten und dritten Nachkriegsgeneration steht, sich Tatsachen der eigenen Familie zu stellen, das zeigt im Vorwort Wette anhand von ermittelten Zahlen. Wenn die Vorstellungen der Nachkommen über die Haltung ihrer Vorfahren in Nazideutschland und zum Welteroberungskrieg stimmen würden, hätte das Regime jedenfalls solange nicht dauern und nicht anrichten können, was es namentlich in Europa verübte. Indessen triumphiert bei Leuten, die durchaus um die Massengefolgschaft der Machthaber mit dem Hakenkreuz wissen, das Bedürfnis, am Ehrenschild der Familie zu putzen oder sich einzubilden, es hätte auf ihm nie irgendwelche Flecken gegeben. Der Verleger der Schriftenreihe »Geschichte und Frieden«, die hier bis zum 18. Band gediehen ist, hat ein Nachwort beigesteuert, in dem er sich besonders mit dem Gebrauch und der Funktion der den Heutigen gestellten Frage befaßt: Wie hättet Ihr Euch denn in der Situation von Oma und Opa verhalten? Und er entlarvt sie als den Versuch, das Nachdenken zu verunsichern, die historische Kritik zu entschärfen und sie von dem Gedanken über die einzige Form der Wiedergutmachung abzulenken, die es in Wahrheit gibt: Zu sorgen, daß der Absturz in die Barbarei nicht wieder geschieht, in keiner Form, an keinem Ort. Kurt Pätzold Moritz Pfeiffer: »Mein Großvater im Krieg 1939–1945. Erinnerung und Fakten im Vergleich«, mit einem Geleitwort von Wolfram Wette und einem Nachwort von Helmut Donat, Donat Verlag, 214 Seiten, 14,80 € Erinnerung an Zensl MühsamUnvergessen blieben die Verse, der »deutschen Sozialdemokratie gewidmet«, vom laternenputzenden Revoluzzer. Deren Autor aber, der Anarchist und politische Poet Erich Mühsam, 1934 im KZ Oranienburg ermordet, war mit seinem Werk nach 1945 der deutschen Öffentlichkeit über lange Zeit hin nahezu unbekannt. Daß sein Nachlaß nicht unterging und seine Schriften wieder zugänglich wurden, ist vor allem seiner Frau und Kampfgefährtin Zensl Mühsam (1884–1962) zu verdanken. Sie war nach dem Tod des Dichters in die Sowjetunion geflüchtet und mußte dort viele bittere Jahre in Haft und Verbannung verbringen, angeklagt als »Trotzkistin« – was sie nie war. Von dem Bestreben, Mühsam neu publik zu machen, ließ sie sich durch ihre Leidenszeit nicht abbringen. Ab 1954 lebte sie in der DDR. Ein lebendiges Bild von Zensl Mühsam gibt ein Interview, das Valentin Tschepego mit Walter Ruge (1915–2011) geführt hat und das nun nach dessen Tod in den Mitteilungen des Instituts für Syndikalismusforschung (Heft 1) nachzulesen ist. Ruge, Verfasser von »Treibeis am Jenissei«, war als junger Angehöriger der KPD ebenfalls in die Sowjetunion emigriert und dort jahrelanger Lagerhaft ausgesetzt. Er blieb Kommunist und engagierte sich in der DDR politisch und sportlich. Das Institut für Syndikalismusforschung nimmt sich der bisher vernachlässigten Geschichte des anarchistisch-syndikalistischen Zweiges der Linken, auch in Deutschland an (siehe www.syndikalismusforschung.info). A. K. Edda TennenbaumIm Jahre 1909 – es war die Zeit nach der Niederlage der ersten russischen Revolution – erschienen in der Dortmunder Arbeiter-Zeitung in 24 Folgen »Aufzeichnungen einer russischen Revolutionärin«, in denen die Autorin unter dem Pseudonym Edda Hirschfeld von ihren Erlebnissen in der sibirischen Verbannung und ihrer erfolgreichen Flucht ins Ausland berichtete. Hinter dem Pseudonym verbarg sich die Sozialdemokratin Edda Tennenbaum (1878–1952), die nach ihrer Flucht eine Zeitlang an der Herausgabe von Clara Zetkins Gleichheit in Stuttgart mitarbeitete. Dem Leben dieser bemerkenswerten Frau ist jetzt eine lebendig geschriebene, mit erläuternden Anmerkungen versehene biographische Skizze von Heinz Deutschland und Gerd Kaiser gewidmet, die zum Wirken Tennenbaums in der polnischen und deutschen Arbeiterbewegung sowie später in der Komintern zahlreiche bislang unbekannte Details enthält. Besonders Käte und Hermann Duncker waren mit Edda Tennenbaum freundschaftlich verbunden und unterstützen sie in dem Bemühen, in Deutschland Fuß zu fassen. Interessant ist, daß die Emigrantin von 1920 bis 1924 zur diplomatischen Vertretung Sowjetrußlands in Berlin gehörte und gleichzeitig Mitglied der KPD und im Auftrag der Komintern tätig war. Das dunkelste Kapitel in ihrem Leben war die jahrelange Inhaftierung in einem der Stalinschen Gulags. Auf der Suche nach Gründen verweisen die Autoren unter anderem auf Edda Tennenbaums persönliche Freundschaft zu Heinrich Brandler, einem der führenden Köpfe der KPD-Opposition. Ihren Idealen blieb die Kommunistin trotz der schweren Gulag-Jahre bis zuletzt treu. Besondere Würdigung findet in dem Büchlein ihr großer Anteil an der Betreuung und Erziehung junger Deutscher in polnischen Kriegsgefangenenlagern nach 1945. Wesentlicher Teil der verdienstvollen Publikation ist der erneute Abdruck jener mit heißem Herzen geschriebenen »Aufzeichnungen einer russischen Revolutionärin« über die unmenschlichen Verhältnisse im zaristischen Rußland. Dieter Götze Heinz Deutschland/Gerd Kaiser: »Ein ›tüchtiger, feiner Mensch‹ – ›Unbeirrbar rot‹«, edition bodoni, 64 Seiten, 7,80 € Walter Kaufmanns LektüreIn Chaim Nolls Buch »Kolja« sind unterschiedlichste Erzählungen aus Israel vereint, manche nur wenige Seiten lang, pointiert und gehaltvoll zwischen den Zeilen, andere sind breiter angelegt, oft novellenartig um eine unerhörte Begebenheit kreisend – wie die Erzählung »Der Abtrünnige«, die der Entwicklung des jungen Chagai nachgeht, des fünften von neun Kindern ultrareligiöser Eltern. Auf einer Busfahrt trifft Chagai der abschätzende, irgendwie mitleidvolle Blick eines israelischen Soldaten, und meisterlich wird gestaltet, was dieser Blick in Chagai auslöst: seine Abkehr vom Elternhaus und den Eintritt in die Armee, womit er gegen die Regeln der Religionsgemeinschaft verstößt, deren junge Männer sämtlich den Armeedienst verweigern. Man versteht, was Chagai umtreibt und welche Überlegungen ihn fortan von seiner Familie fernhalten, selbst seine Urlaubstage verbringt er im Lager, bis schließlich ... Nein, der Ausgang sollte nicht vorweggenommen werden. Man lese selbst. Die Erzählung »Der Abtrünnige« findet sich gegen Ende des Buches – bis dahin werden die Schicksale von Israelis in ihrer Vielfalt gezeigt, alle geprägt durch ihre Herkunft, sehr verschieden in ihren Eigenarten und Bräuchen. Vereint sind sie nur durch das Land ihrer Zuflucht. Die selten mit dem Blick von außen, sondern fast immer von innen her gestalteten Erzählungen lassen Chaim Nolls Zugehörigkeit erkennen, einen sich zum Judentum bekennenden Schriftsteller, der in die Fremde ein geschliffenes, sehr klares Deutsch hinübergerettet hat. In die Fremde? Es sind ganz authentische israelische Erzählungen, die Chaim Noll, der Sohn des durch »Die Abenteuer des Werner Holt« bekannten ostdeutschen Autors Dieter Noll, vorstellt. Nur eine unter den vielen läßt seine Vergangenheit ahnen: »Talkshow« handelt von einem Mann namens Steinbeiss, einem in DDR-Zeiten als oppositionell eingestuften, dabei viel gelesenen Schriftsteller (wen wohl hatte Noll im Sinn?), der zu der Inhaftierung eines jungen Juden geschwiegen hatte, dem staatsfeindliche Äußerungen angelastet worden waren. Nach der Wiedervereinigung wird Steinbeiss, fürchtend, daß sein unrühmliches Schweigen von einst aufgedeckt werden könnte, einer Talkshow ausweichen. Dies alles erzählt auf einer Zugreise von Tel Aviv in den Süden ein westlicher Korrespondent einem Mitreisenden, im Off also, daher ist dieser Text mit keiner Erzählung der Sammlung vergleichbar. Die anderen schildern ausnahmslos den israelischen Alltag in den großen Städten, den Siedlungen auf dem Lande, den Kibbuzim im Negev und geben zugleich Aufschluß über die Verwandlung des Hans Noll in einen Chaim Noll, dem die Gestaltung eines Mosaiks der gegenwärtigen israelischen Gesellschaft gelingen konnte. W. K. Chaim Noll: »Kolja. Erzählungen aus Israel«, Verbrecher Verlag, 288 Seiten, 24 € ErbarmungslosManchmal dachte ich, sie hat einen verdammt bösen Blick und dann – nach einer Weile – scheint mir, sie hat nur so genau hingeguckt, daß keines ihrer »Opfer« oder gar ihrer »Helden« untadelig bleibt. Egal, ob Provinzler oder Städter, Ossi oder Wessi, Arzt oder Köchin, Polizist oder Funktionär, Kerstin Hensel »durchschaut« sie alle und entdeckt dabei »Abgründe«, die den meisten verborgen bleiben. Nun also drei neue Erzählungen, gar »Liebesnovellen«, aber das Schwelgen in großen Gefühlen bleibt aus. Eher emanzipiert man sich von Abhängigkeiten, die eventuell auch mit Liebe oder Vorstellungen davon zu tun hatten. In der ersten Geschichte, die das Zeug zu einem wahren Heldinnen-Lob gehabt hätte, zieht die Frau eines antifaschistischen Widerstandskämpfers ihre zwei Kinder allein groß. Das Zusammenleben der drei im Alter wird zum Alltagshorror, bis die Tochter die Kraft findet, sich zu lösen. Und dann der DDR-Lehrer in der letzten Erzählung, der »Deutsch gibt«, wie das seine Frau ehrfurchtsvoll ausdrückt. Und er scheint diese Verehrung auch zu verdienen, so gebildet, belesen, liebevoll, redlich und ideologisch nicht verbogen. Aber auch hier lauern unvermutete Tiefen ... Kerstin Hensel ist unbarmherzig mit ihren Figuren, zugleich skurril, und manchmal gibt sie Einzelnen auch eine klitzekleine zweite Chance. Gerade deshalb mag ich ihre Bücher. Sie widerlegt Klischees, mißachtet Zeitgeist und verblüfft mit ihrem erbarmungslosen Realismus. Und sie beherrscht ihr Handwerk – da ist kein Wort zu viel oder falsch und jedes Detail ist überlegt und begründet. Prosa vom Feinsten! Christel Berger Kerstin Hensel: »Federspiel. Drei Liebesnovellen«, Luchterhand, 191 Seiten, 19,90 €Bisam-Maus nagt an GrundfestenDer Ruf nach guten, gar lustigen Theater-Stücken ist groß – und allenthalben das Theater-Gejammer, es gäbe zu wenig davon. Dabei stehen sie in einer Gesamtausgabe. Der von Peter Hacks. »Fafner, die Bisam-Maus« leitet Band 7 der »Werke« ein. Nachdem Hacks 1986 vorerst die Stück-Produktion einstellte, begann er nach dem Großen Andersrum erneut. Und lieferte ein Lustspiel über den Häuserkampf diverser Erben: Dieser wohnt seit Urzeiten dort, jener hat ein uraltes Testament im Ärmel. Wer denkt da nicht an »Rückgabe vor Entschädigung«, womit ein ganzes Halb-Land in die Pfoten von Spekulanten kam? Das Spiel, 1992 in Krefeld uraufgeführt, teilte hernach das Schicksal vieler Hacks-Werke: Dem Biermann-Verhöhner bieten wir keine Bühne mehr! Auf der Bühne der Hacks-Gesellschaft, dem Theater »Habbema« in der Mülhauser Straße zu Berlin, gab’s kürzlich die szenische Lesung jenes »Fafner«, im Hause des Maskenbildners Lorch, gelegen an einem großen Kanal, spielend. Lorch wird vom entfernten Verwandten Wesselbrunner bedrängt, Haus und Grundstück herauszugeben. Doch Lorchs Geliebter Kasprik nutzt die im Hause zur Genüge vorhandenen Nibelungen-Wagner-Kostüme, um Irrungen und Wirrungen zu erzeugen; das Titel-Ungetüm rüttelt an häuslichen Grundfesten und bringt Wesselbrunner zum Verzicht. Das will wiederum Lorch denn doch nicht – es kommt zur großen Versöhnungsarie, die man als Ironie oder auch als Hackssche Götter-Morgendämmerung deuten könnte. Der Witz bei dieser Halb-Inszenierung durch den Opern-Mann Olaf Brühl besteht darin, daß viele Umzüge, große Gänge und martialische Kämpfe allein per gelesenen Regieanweisungen stattfinden – die Schauspieler Dominik Bender, Michael F. Stoerzer und Fridolin Meinl kosten folglich die Hackssche Sprache mit Inbrunst aus: Bonmots, Flegeleien, dreckige Witze, Sottisen und tief versteckte Anspielungen. Im knackvollen Theaterchen gab es heftigen Applaus. Über dem Beifall aber schwebte die Frage: Was, zum Henker, lesen eigentlich die Dramaturgen der Stadttheater? Wie man hört, will sich Brühl demnächst weiteren Hacks-Stücken zuwenden. Wiederum im feinen, zu kleinen »Habbema«. Matthias Biskupek An die LokalpresseIm Berliner Kurier war zu lesen, daß einige Super-Reiche Millionen investieren, um sich im Kriegsfall, beim Weltuntergang oder bei einem Angriff aus dem All einen komfortablen Bunkerplatz zu sichern und dadurch zu überleben. Das halte ich für sehr vernünftig, denn überschüssige Millionen kann man sowieso am besten in Bunkern bunkern. Die Frage ist nur, für wen die Filmstars, Topmodells und Politiker überleben wollen. Es wird ja, wenn sie eines erleuchteten Tages fröhlich aus dem Bunker krabbeln, keiner mehr da sein, den sie regieren oder vor dem sie auftreten oder vor dem sie sich freilegen können. Sie sind ja dann nur noch unter sich. Vielleicht sollten die Promis noch mal nachdenken, bevor sie ihre Millionen unter den Humus versenken. – Gardelinde Grabedünkel (33), Visionärin, 72250 Zuflucht * Amerikanische Forscher haben herausgefunden, daß Bier nicht dümmer macht, sondern sogar schlauer! Das hat mich verwundert, habe ich doch am Tresen oft festgestellt, welcher Blödsinn da nach ein paar heruntergekippten Bierchen zusammengelallt wird. Und danach schlägt man sich üblicherweise noch ein paar Zähne aus oder setzt sich ins Auto. Das neueste Forschungsergebnis wird die Kampftrinker und die Brauereien gewiß sehr freuen! Ich könnte mir vorstellen, daß das Flaschenetikett in Zukunft Auskunft darüber gibt, welche Gehirnregionen durch den Original-Sud der Brauerei XY besonders angeregt werden. – Balduin Schluckauf (58), Braumeister, Berlin-Pichelsdorf * In vielen Fernsehsendungen wird mit großer Sorge dargestellt, daß das Aussterben von Tieren durch den profitorientierten Umgang mit der Natur und durch Jagd-Events kaum noch aufzuhalten ist. Das bezieht sich beispielsweise auf Elefanten, Flußpferde, Menschenaffen oder die Löwenpopulation. Umso mehr freut man sich, wenn durch mutiges Dagegenhalten oder unvorhergesehene Ereignisse diesem Trend Einhalt geboten wird. So berichtete die Presse dieser Tage, daß sich der spanische König Juan Carlos bei der Elefantenjagd in Botswana einen »schmerzhaften Hüftbruch« zugezogen hat und dadurch längere Zeit der Pirsch fernbleiben muß. Tragischerweise ist er nicht etwa über einen Dickhäuter gestolpert, sondern über die Schwelle seiner Jagdhütte. Was lernt uns das? Durch die Konstruktion der Jagdhütten und des Jagdgeräts kann Tierschutz betrieben werden, wenn das Material nur in die richtigen Hände gelangt! – Waldemar Schütze (53), Revierpfleger, 67808 Jägerlust * Im Berliner Kurier vom 20.4. wurde von einem Ehemann berichtet, der seine Frau nach einem Ehekrach kurzerhand aus einem Fenster im vierten Stock warf. Die gebürtige Bulgarin habe den Zielwurf mit schweren Verletzungen überlebt. Am 21.4. wurde die Meldung korrigiert. Die Frau sei nach einer Auseinandersetzung zwischen dem Liebespaar selbst aus dem Fenster gesprungen. Der Ehemann wurde daraufhin aus der Haft entlassen. Bedauerlicherweise sei die Frau jedoch inzwischen verstorben. Am 22.4. wurde das Thema wiederum aufgegriffen und mitgeteilt, die Frau schwebe nach einem »Sturz« aus der Wohnung noch immer in Lebensgefahr. Für die Falschmeldung vom Ableben der Geschädigten bat die Redaktion um Entschuldigung. Nun erwarte ich mit Spannung die nächsten Ausgaben der Zeitung. – Hubert Spannemann (37), Prognostiker, 39167 Niederndodeleben Wolfgang Helfritsch
Erschienen in Ossietzky 9/2012 |
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