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Auch daß Gauck die sozialdarwinistischen und rassistischen Äußerungen von Thilo Sarrazin für »mutig« hält und vor »Überfremdung« und Stadtvierteln mit »allzu vielen Zugewanderten und allzu wenigen Altdeutschen« gewarnt hat, wurde zumindest von Gauck-Kritikern außerhalb der ihn stützenden übergroßen Vierparteienkoalition angemerkt. Daß der sich nachträglich zum Widerständler gegen die »SED-Diktatur« stilisierende Gauck bekennender Antikommunist ist, betont er selber bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Indessen gilt dies auch vielen seiner liberalen Kritiker angesichts eines quasi als Staatsräson der BRD gepflegten Antikommunismus nicht gerade als ein Manko. Übersehen wird dabei gern, daß der Antikommunismus von Gauck sich in einem Punkt deutlich vom selbstverständlichen Antikommunismus seiner fest in der bürgerlichen Traditionslinie stehenden Vorgänger unterscheidet. Gaucks Antikommunismus steht für die gleichzeitige Relativierung und Verharmlosung faschistischer Verbrechen. Relativ unbekannt ist, daß Gauck Erstunterzeichner der »Prager Deklaration über europäisches Bewußtsein und Kommunismus« ist. Diese Erklärung war am 3. Juni 2008 von 27 zumeist osteuropäischen Politikern, Akademikern und antikommunistischen Eiferern im Senat der Tschechischen Republik unterzeichnet worden. Zu den Unterzeichnern gehören neben dem früheren Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde Gauck der frühere tschechische Präsident Vaclav Havel, der damalige Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Göran Lindblad aus Schweden, der frühere litauische Präsident Vytautas Landsbergis, der Genfer Repräsentant des Dalai Lama Tseten Samdup Chhoekyapa, der Chef der »Stiftung Erinnerung an die Opfer des Kommunismus« Lee Edwards aus den USA, und der Mainzer Historiker Michael Kißner. Europa müsse »Kommunismus und Nationalsozialismus als gemeinsames Erbe« anerkennen, fordern die Unterzeichner der Plattform. Sie treten für eine europaweite »Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung von Opfern aller totalitären Regime« und eine »gemeinsame Herangehensweise in Bezug auf totalitäre Regime« ein und fordern daher, den 23. August als Tag des Hitler-Stalin-Paktes zum Gedenktag »an die Opfer der totalitären Nazi- und kommunistischen Regime zu machen – in derselben Art, wie Europa am 27. Januar der Opfer des Holocaust gedenkt«. Im Namen des Kommunismus begangene Verbrechen sollen »als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bewertet werden ... in derselben Weise, in der Naziverbrechen vom Nürnberger Tribunal bewertet wurden«. Diese Gleichsetzung ermöglicht es, die Rolle etlicher Bürger osteuropäischer Länder als Nazikollaborateure und Mittäter beim Massenmord an den europäischen Juden zu verschleiern, befürchtet der Leiter des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem, Efraim Zuroff (taz 16.3.2012). »Mit der Erhöhung kommunistischer Verbrechen zum Genozid – worauf die mehrfach verwendete Formulierung ›Verbrechen gegen die Menschlichkeit‹ abzielt – erhoffen sich die Unterzeichner der Prager Erklärung, den Blick vom Massenmord an den Juden auf das Leid der Osteuropäer während des Jochs des Kommunismus zu lenken, und wandeln dabei Täternationen zu Opfervölkern um.« Für Professor David Katz, der unter anderem in Vilnius/Litauen als Dozent für jiddische Sprache und Kultur arbeitet, ist es »unglaublich und mehr als ein bißchen herzzerreißend für Holocaustüberlebende in Osteuropa, daß Deutschland noch keine eindeutige Posi-tion gegen die Prager Deklaration und alles, wofür sie steht«, eingenommen habe. Holocaust-Relativierung sei erheblich subtiler als platte Holocaust-Leugnung, warnt Katz »naive Westeuropäer« vor »Orwellscher Sprachverdrehung« durch die als Drahtzieher der Prager Deklaration fungierenden osteuropäischen Nationalisten insbesondere aus den baltischen Staaten. Zum Jahrestag der Wannsee-Konferenz 2012 versammelte Katz gemeinsam mit seinem Wissenschaftler-Kollegen Danny Ben-Moshe 71 Abgeordnete aus 19 EU-Staaten und dem europäischen Parlament unter einem als Antwort auf die Prager Deklaration verstandenen Aufruf gegen die Totalitarismustheorie. Die Unterzeichner dieser Gegenerklärung verwehren sich gegen die Politik des »doppelten Genozids« mit ihrer Gleichsetzung von Naziverbrechen und Verbrechen im Namen des Kommunismus. »Diesem Gift darf nicht erlaubt werden, sich weiter westwärts auszubreiten«, ruft Katz. Doch dies ist längst geschehen. Der Geist der Prager Deklaration durchzieht Gaucks Wirken seit Jahren – und bleibt dabei weitgehend unwidersprochen. Wenn der ehemalige Wehrmachtsoffizier Richard von Weizsäcker 1985 als Bundespräsident in einer vielbeachteten Rede eingestand, daß der 8. Mai der »Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft« ist, dann erscheint Gauck dieses Datum offenbar nur als Paradigmenwechsel einer – wie er in seiner Autobiographie schreibt – »fast 60 Jahre währenden ungebrochenen Diktatur« im Osten Deutschlands. Nahezu die gesamte deutsche Presse und Politik hatte einhellig Literaturnobelpreisträger Günter Grass Antisemitismus und eine Relativierung des Holocaust unterstellt, weil er Anfang April 2012 in einem Gedicht vor einem drohenden Atomkrieg Israels gegen den Iran warnte. Ein solcher Aufschrei blieb aus, als Gauck davor warnte, »das Geschehen des deutschen Judenmordes in eine Einzigartigkeit zu überhöhen«. Entsprechend rechtfertige Gauck im Mai 2009 bei einer Rede im Deutschen Historischen Museum die massiven politisch bedingten Entlassungen von ehemaligen DDR-Bürgern mit der Bemerkung: »Wir konnten nicht zulassen, daß die sozialistischen Globkes in ihren Ämtern und Positionen in Staat und Gesellschaft blieben.« Dies war eine Gleichsetzung von Tausenden entlassenen Lehrern und Wissenschaftlern, Juristen und Angestellten aus der untergegangenen DDR mit dem unter Konrad Adenauer als Staatssekretär in Bundeskanzleramt geholten Mitautor des Kommentars zu den Nürnberger Rassegesetzen, die den millionenfachen Mord der Nazis an Juden, Sinti und Roma legitimiert hatten. »Joachim Gaucks Unterschrift unter der Prager Erklärung ist ein gefährliches Zeichen, daß er die Bundesrepublik in eine andere Richtung führen könnte, statt den bisher eingeschlagenen Weg fortzusetzen«, meint Efraim Zuroff, der »eine merkliche ›Holocaust-Ermüdung‹ in Deutschland bei gleichzeitiger Betonung der »deutschen Opfer im und nach dem Krieg« wahrnimmt. Der Leiter des Jerusalemer Simon-Wiesenthal-Zentrums hält Gauck daher »in dieser wichtigen Zeit« nach dem Ende der Nazikriegsverbrecherprozesse für die »falsche Person« im Amt des Bundespräsidenten, der eine »Rolle als moralischer Kompaß für die deutsche Gesellschaft« einnehmen sollte. Reale Wirkung entfaltet die Denkweise, die der Prager Deklaration zu Grunde liegt, vor allem in den osteuropäischen Staaten, wo wenig über die Verbrechen der Nazis gesagt wird, wo praktisch niemand über die Verbrecher der einheimischen Nazi-Kollaborateure spricht und sich die »Rot-gleich-Braun«-Bewegung (David Katz) darum bemüht, den Sowjets mindestens gleichschlimme Verbrechen anzulasten wie den Nazis, wenn nicht gar, sie als die noch schlimmeren Verbrecher darzustellen. Aber auch in der Bundesrepublik zeichnet sich eine solche Entwicklung seit Jahren ab: Zu nennen wäre die verstärkte Thematisierung der »Opfer«-Rolle der Deutschen im Zweiten Weltkrieg und die Umwidmung der Neuen Wache in Berlin vom Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus in eine Gedenkstätte »für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft«. Mit Gauck ist ein Mann im höchsten Staatsamt, von dem man befürchten muß, daß er diese Ansätze konsequent »fortentwickeln« wird – zurück zum Stand der 1950er Jahre, als (in der BRD) im Zeichen des »Antitotalitarismus« schon einmal Kommunisten als »rotlackierte Faschisten« beschimpft wurden. Gewissermaßen der kleine Bruder dieses »Antitotalitarismus«-Ansatzes ist der »Extremismus«-Ansatz, den die gegenwärtige Bundesregierung so intensiv wie keine ihrer Vorgängerinnen pflegt. Die unwissenschaftliche, die Geschichte verfälschende Gleichsetzung von Faschismus und linkem Antifaschismus und Antikapitalismus ist gar im Koalitionsvertrag festgeschrieben. In der Praxis bedeutete dies die Umwidmung der bislang vom Bund geförderten Programme gegen Rechtsextremismus zu »Extremismusbekämpfungsprogrammen«. Gelder, die bislang exklusiv für Projekte zur Bekämpfung des Neofaschismus und zum Gedenken an die Opfer der Verbrechen des Nazi-Faschismus bereitstanden, fließen jetzt auch in antikommunistische Propagandaarbeit, wie etwa das Stasi-Gruselkabinett des Hubertus Knabe in einem ehemaligen Gefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin.
Erschienen in Ossietzky 9/2012 |
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