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Menschen, die sich nichts vormachen lassen und auch sich selbst nichts vormachen, erkennen irgendwann und irgendwie, daß die großen Freiheitsversprechen nicht zu verwirklichen sind, egal, welchen idealistischen Begriff sie sich von der Freiheit gebildet und wie unbegrenzt sie sich ihre persönlichen Freiheiten gewünscht hatten. Freiheit – auch die über den Wolken – kann nicht grenzenlos, ja darf – selbst im Eigeninteresse des Egoisten – nicht grenzenlos sein. Doch wer entscheidet, wessen Freiheitsgrenzen wo verlaufen sollen, können, dürfen? Die verzweifelt nach gewinnträchtiger Anlage suchenden Milliardäre der Welt, Banker, Börsianer und Spekulanten, wie deren um Anerkennung buhlende Kapitalsympathisanten wünschen, jeder für sich, grenzenlose Unternehmerfreiheit. Seit dem Ende des Kalten Krieges geht es den schon lange nicht mehr kontrollierbaren Kapitalstrategen in erster Linie darum, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates einzuengen und die der Wirtschaft auszudehnen. Sie sind wild entschlossen, dem Eigentum, das heißt dem Eigeninteresse, eine möglichst grenzenlose unternehmerische Betätigungsfreiheit zu erkämpfen. So stellen sie sich das Paradies auf Erden (»das Ende der Geschichte«) vor. Zu den erwähnten Kapitalsympathisanten zählt auch der frisch gebackene Bundespräsident Joachim Gauck. Er hat sich – wie er selber sagte – die Freiheit zum Lebensthema erwählt. Sein Herzensanliegen paßt zum strategischen Konzept, weltweit einen von staatlicher, gewerkschaftlicher, umweltschützerischer oder menschenrechtlicher Einmischung befreiten, völlig eigenverantwortlichen Kapitalismus zu verwirklichen. Darum hat ihn die FDP durchgesetzt. In Chefetagen und auf Regierungsbänken wird nun von ihm erwartet, daß er die wahlberechtigten Massen, die über kein oder kein nennenswertes Kapital verfügen, zu so viel Einsicht in die Notwendigkeit, die Richtigkeit und die Aufrichtigkeit der in demokratiefreien Chefetagen getroffenen Entscheidungen bringt, daß der Klassenkampf von oben, der Gaucksche Antikommunismus, endlich überflüssig wird. Gauck, nicht mehr Pfarrer, sondern kapitalfrommer Freiheitsapostel, wird in seinem neuen Amt, stärker als in seiner Zeit unter der DDR-Parteidiktatur, die Diktatur des Kapitals selbst zu spüren bekommen. Denn das global operierende Kapital mit Standorten in hoch entwickelten kapitalistischen Demokratien ist schon jetzt in vielen Bereichen nahezu autonom. Die Konzernwirtschaft wird nicht mehr von der Staatsbürokratie kontrolliert, sondern sie kontrolliert mit Hilfe der Staatsbürokratie die Parlamentarier und die Bevölkerung. Die Herrn und wenigen Damen in den Chefetagen der Konzerne halten sich nach den Niederlagen der Arbeiterbewegung wie zu Zeiten des Manchesterkapitalismus ihre eigenen Parteien. Heute basteln sie sich sogar mittels illegaler Kriegskassen (gefüllt mit Schwarzgeldern in Milliardenhöhe) ihre hauseigenen Gewerkschaften, spannen ausgewählte Wissenschaftler, Journalisten, Künstler, Sportler, Parteipolitiker und – wo immer es gelingt – auch linke Renegaten vor ihre Luxusinteressen und lassen sie mitessen vom großen Kuchen. Dafür schaffen und verkaufen diese Eliten moderne Kommunikationstechnologien und Anwendungen, die es ermöglichen, die totale Kontrolle über unser aller Privatleben zu organisieren, Widerstandsnester zu infiltrieren und einflußreiche Prominente mit Zivilcourage zu diskriminieren. So entstand nach 1945 aus der mörderischen eine relativ sanfte, eine freiheitliche Diktatur des Kapitals. Die demokratischen Parteien und Parlamentarier hängen inzwischen alle am Tropf reicher Sponsoren, für die sie Sonderrechte fordern. Schwärme von Wirtschaftsberatern und anderen Freiheitsexperten talken auf allen Kanälen und warnen die nach demokratischen Kontrollen der Kapitalmacht rufenden demokratischen Kräfte vor den Gefahren, die dadurch der freiheitlich-demokratischen Grundordnung drohen. »Sie wollen doch wohl nicht die DDR wiederhaben?« Ihr Fernziel wird am Horizont erkennbar, nämlich freie Parlamente, in denen die Klasseninteressen offen ausgefochten werden, in kapitalhörige Ständeversammlungen zu verwandeln. Dieses Ziel werden sie hoffentlich nie erreichen. Neuerdings regt sich – ausgelöst durch aufklärende Krisenschocks – europaweit heftiger Widerstand. Dennoch: Seit Jahrzehnten beobachten systemkritische Sozialwissenschaftler (sogar einzelne systemkritische Kapitalisten) eine fortschreitende Refeudalisierung der kapitalistischen Demokratien. Altliberale sprechen von der Sozialdemokratisierung der Politik. Ich ziehe es vor, das sich herausbildende System als Kapitalfeudalismus zu bezeichnen. Was diesem System noch fehlt, ist die metaphysische, von Wahlen und Wählern unabhängige Legitimation. Ob es dem Ex-Pfarrer Gauck gelingen wird, sie zu beschaffen, hängt davon ab, ob und wie schnell die noch stark kirchenchristlichen und kulturrassistischen Deutschen dazu gebracht werden können, Christian Wulffs einzig guten Gedanken zu akzeptieren, auch der Islam gehöre zu unserer Gesellschaft. Nach der Logik der bürgerlichen Aufklärung wären weltweit noch viele bürgerliche Revolutionen nötig, auch, um den Islam zu säkularisieren. In diese Richtung winkt uns Heiner Geißlers jüngstes Buch »Warum wir eine neue Aufklärung brauchen«. Von der zweiten Aufklärung, der marxistischen, weiß der pseudolinke Demagoge nichts. Er behauptet frech, die CDU sei eine antikapitalistische Partei – denn sie sei die Partei der sozialen Marktwirtschaft. Was immer die Versuche der Politiker, die Weltfinanzkrisen zu bewältigen, erreichen werden, die deutschen Arbeitnehmer sollten genau hinsehen, ob der neue Bundespräsident, der ja auch der ihre zu sein verspricht, nur die Freiheiten der Kapitaleigner oder auch die der kapitallosen, um ihre Arbeitsrechte, ihr Erspartes, ihre Zukunft betrogenen Massen verteidigen wird. Denn die Arbeitnehmer sind mit der Privatisierung öffentlicher Unternehmen und Dienstleistungen sowie dem damit einhergehenden Abbau der einst von den arbeitenden Klassen schwer erkämpften demokratischen und sozialen Rechte jetzt schon bedrohlich eingeschränkt. Das Proletariat wurde für tot erklärt, es lebe das Prekariat! Wenn Freiheitspräsident Gauck, was ich sehr hoffe, in absehbarer Zeit seinen obsoleten antimarxistischen Freiheitsbegriff an der Realität überprüfen sollte, müßte er sich vom Saulus zum Paulus wandeln. Er muß nicht vom Kommunistenjäger zum Kommunisten werden, sondern zum Aufklärer, der die bürgerliche und die marxistische Aufklärung ernst nimmt, aber auch die gemeinsame Schwäche beider erkennt, nämlich die Blindheit beziehungsweise Ratlosigkeit gegenüber dem Problem der kriminellen Ökonomie. Diese dritte Aufklärung ist der Ansatz von Business Crime Control (BCC). Wer über die Freiheit der Wirtschaft als Grundlage der Freiheit der Gesellschaft reden will, darf über den kriminellen Mißbrauch wirtschaftlicher Macht nicht schweigen. Daher müßte Präsident Gauck zumindest bereit sein, unsere angeblich demokratische Öffentlichkeit einmal über die konkreten Unfreiheiten, die in dieser freiheitlich-kapitalistischen, sich obendrein als christlich begreifenden Grundordnung herrschen, genauso bereitwillig zu informieren wie über das Unrecht, das im Namen des Sozialismus oder Kommunismus in den Ostblockstaaten begangen wurde. Falls Joachim Gauck nicht verstehen sollte, wovon ich rede, biete ich an, seinem Amt Dokumentationen über die an Bürgerinnen und Bürgern begangenen Wirtschaftsverbrechen zuzuleiten, die sich seit der asymmetrischen Wiedervereinigung Deutschlands verzweifelt Hilfe suchend – meist erst, wenn sie von allen rechtsstaatlichen Instanzen in Stich gelassen wurden – an Business Crime Control wenden. Business Crime Control hat leider keine zuverlässigen Zahlen über die Opfer von Kapitalverbrechen. Sie werden von den ansonsten eher übereifrigen Datensammlern nicht erfaßt. Schon gar nicht die Zahl derer, die aus Verzweiflung über die kriminelle Zerstörung ihrer Existenz und den Zweifel am Rechtsstaat BRD den Freitod, die ultimative Freiheit wählen. Was offiziell über die Höhe der materiellen Schäden veröffentlicht wird, müßte als Volksverdummung unter Strafe gestellt werden. Wir kennen jedoch eine etwas ältere Äußerung des kapitalschonenden Bundeskriminalamts, das berichtete, nur 1,7 Prozent aller Straftaten seien Wirtschaftsdelikte, aber auf diese entfielen 60 Prozent aller durch Kriminalität angerichteten Schäden. Eine folgenlose Feststellung. Ansonsten sehen die offiziellen Statistiken über Wirtschaftsverbrechen so aus, wie Statistiken einer freien Wissenschaft nur aussehen können, die zunehmend im Dienst der freien Wirtschaft steht und am Tropf von Sponsoren hängt, die jederzeit ihre freiwilligen Zuwendungen einstellen können. Daß Wirtschaftsunternehmen, Bund und Länder oder die Hochschulen und Forschungsinstitute ausreichende Forschungsmittel für Projekte bereitstellen würden, um die Ursachen, die materiellen, immateriellen, nationalen und internationalen und ökologischen Schäden von Wirtschaftsverbrechen zu erforschen, weil dies die unabdingbare Voraussetzung ist, die kriminelle Ökonomie durch Wirtschaftsdemokratie verhindern zu können, ist kaum zu erwarten. Ich appelliere daher an den Bundespräsidenten, eine Art wirtschaftskritische Gauck-Behörde ins Leben zu rufen. Sie sollte die von Unternehmen und Unternehmern weltweit begangenen oder zu verantwortenden Menschenrechtsverletzungen und Wirtschaftsverbrechen systematisch erfassen und jedem zugänglich machen, der sich dafür interessiert. Eine solche Einrichtung, die die BCC-Gründer 1991 planten, fand bisher keine Unterstützung. Joachim Gauck könnte nun seinen großherzigen Freiheitsbegriff, der unverkennbar die Unternehmerfreiheit meint, mit der Forderung, ein unabhängiges wissenschaftliches Institut zur Erforschung der Ursachen, Entwicklungen und Folgen der kriminellen Ökonomie zu gründen, einer Korrektur unterziehen und damit den Beweis antreten, daß er seiner Verantwortung als Staatsoberhaupt einer kapitalistischen Demokratie im Sinne des Sozialstaatsgebots der Verfassung gerecht zu werden vermag.
Erschienen in Ossietzky 9/2012 |
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