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Regelmäßig habe ich in solchen Fällen Verstöße gegen den in der höchstrichterlichen Rechtsprechung seit jeher geltenden Grundsatz erlebt, daß auch bei ehrenkränkenden Werturteilen die zugrundeliegenden Tatsachen aufgeklärt werden müssen. Ein Beispiel dafür ist der Fall des Publizisten Lorenz Knorr, den ich schon wiederholt in Ossietzky erwähnt habe. Knorr hatte 1961 in einer Rede einige Generäle der Bundeswehr als Hitler-Generäle bezeichnet und ihnen Massenmord vorgeworfen. Die sachliche Berechtigung dieser Vorwürfe konnte Knorr aufgrund sorgfältiger Archivforschungen belegen. Aber eine Wuppertaler Strafkammer befand unter Mitwirkung von Juristen, die an Justizverbrechen der Nazizeit beteiligt waren, daß eine strafbare Ehrenkränkung der Generäle vorliege. Das Gericht hielt es nicht für nötig, das Beweismaterial über deren Kriegsverbrechen zur Kenntnis zu nehmen. Als das Urteil wegen dieser Rechtsverletzung vom Oberlandesgericht Düsseldorf aufgehoben wurde, ließen die Wuppertaler Richter die Akten jahrelang liegen und stellten das Verfahren schließlich mit einer Knorr belastenden Kostenentscheidung ein. Die große Öffentlichkeit erfuhr von den Kriegsverbrechen der von Knorr bloßgestellten Bundeswehrgeneräle nichts. Sie blieben dafür zuständig, die politische Gesinnung junger Wehrpflichtiger zu prägen und sie auf zukünftige Kriegsverbrechen vorzubereiten. In dem ereignisreichen Jahr 1968, in dem ich viele aufmüpfige junge und alte Leute zu verteidigen hatte, gab es auch einen Prozeß wegen eines Plakats, durch das sich Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger beleidigt fühlte. Das Plakat beschuldigte ihn der Beihilfe zum organisierten Völkermord in Vietnam. Mein Mandant Hermann Sittner, der für das Plakat verantwortlich zeichnete, hatte gegen Kiesinger Strafanzeige erstattet, die der Leitende Oberstaatsanwalt in Bonn, Pfromm, durch Einstellung des Verfahrens erledigte. Erst später erfuhr man aus einem Artikel von Ingrid Müller-Münch in der Frankfurter Rundschau, daß es sich bei Pfromm um einen früheren NS-Führungsoffizier handelte. Von ihm hatte Kiesinger, dieser wegen seiner Nazivergangenheit von Beate Klarsfeld geohrfeigte Bundeskanzler, nichts zu befürchten. Hermann Sittner aber wurde verurteilt, ohne daß sich das Gericht für die dem Plakat zugrundeliegenden Tatsachen interessierte. Das auf 500 DM Geldstrafe lautende Urteil wurde von den etwa 60 jugendlichen Zuhörern im Sitzungssaal mit Zischen und Pfui-Rufen quittiert. Das war die Zeit, in der es, wenn ich so sagen darf, einen gespaltenen Zeitgeist gab. Mitte der 1970er Jahre hatte ich Bolko Hoffmann, den Herausgeber der Aktionärszeitschrift Effekten-Spiegel, vor dem Landgericht Bochum gegen die von der Staatsanwaltschaft als Offizialverfahren übernommenen Strafanzeigen von Bossen dreier Großbanken zu verteidigen, die sich durch den von meinem Mandanten zu verantwortenden Ausdruck »mafiavergleichbare Gestalten« beleidigt fühlten. Auch da verfuhr das Gericht nach dem rechtswidrigen Prinzip, die dem Werturteil zugrundeliegenden Tatsachen, die wir in Beweisanträgen vorgetragen hatten, nicht zur Kenntnis zu nehmen. Mag sein, daß der Ausdruck »mafiavergleichbare Gestalten« angreifbar war, deshalb empfahl ich dem Mandanten nach der gegen Bußezahlung erfolgten Einstellung des Verfahrens, in Zukunft die Spitzen der Großbanken schlicht als Mafia zu bezeichnen. Bolko Hoffmann, ein Wirtschaftsfachmann, der übrigens frühzeitig vor der Einführung des Euro gewarnt hat, ist leider verstorben, bevor er von meinem Rat Gebrauch machen konnte. Heute würde er wohl nicht einmal mit dem Zeitgeist in Konflikt geraten, wenn er die Spitzen der Großbanken als Mafia bezeichnen würde. Im Jahr 1991 wurde ich beauftragt, ein Vorstandsmitglied der Grünen zu verteidigen, dem die zusammen mit anderen Vorstandsmitgliedern veröffentlichte Aufforderung zur Fahnenflucht im Golfkrieg als strafbare Handlung vorgeworfen wurde; die Grünen waren damals noch eine pazifistische Partei. Auch in diesem Falle weigerten sich die Gerichte, die von uns vorgebrachten Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen, die sich mit den deutschen Rüstungsexporten ins Kriegsgebiet befaßten. Daß ganz andere Leute auf die Anklagebank gehörten, wollte man nicht hören. In den 1970er Jahren war das kommunistische Feindbild durch ein anderes Feindbild abgelöst worden, nachdem sich aus der sogenannten Studentenbewegung mehrere Gruppen gebildet hatten, die vom Protest zum bewaffneten Widerstand übergingen und als Terroristen bezeichnet wurden. Diese Entwicklung begriff ich als verhängnisvollen Irrweg. Ich hielt eine bewaffnete Auseinandersetzung mit der Übermacht des staatlichen Gewaltapparats für sinnlos und politisch unverantwortlich und habe das auch mit meiner späteren Mandantin Ulrike Meinhof heftig diskutiert. Deshalb lehnte ich die mir auch aus diesen Kreisen angetragenen Mandate ab, es sei denn, daß es wie im Fall Ulrike Meinhof um unerträgliche Haftbedingungen ging, oder um offensichtliche Rechtsbrüche und Falschbeschuldigungen. So habe ich 1972 zusammen mit dem Kollegen Wolf Dieter Reinhard den Aufnahmeleiter-Praktikanten Werner Hoppe beim Landgericht Hamburg gegen den Anklagevorwurf verteidigt, durch Pistolenschüsse auf Polizeibeamte mehrere Mordversuche begangen zu haben. Dieser Vorwurf konnte nach der glaubwürdigen Darstellung unseres Mandanten und dem aktenmäßigen Befund nicht stimmen. Hoppe hatte nachweislich nur durch seine Liebesbeziehung zu Petra Schelm mit der Roten Armee Fraktion (RAF) zu tun, wurde aber in den Medien als Terrorist bezeichnet. Er war mit seiner Freundin in eine Fahrzeug- und Personenkontrolle geraten, der sich die den Wagen lenkende Petra Schelm durch Flucht entziehen wollte. Sie wurden eingeholt und in eine Schießerei mit Polizeibeamten verwickelt, bei der Petra Schelm getötet wurde. Die Staatsanwaltschaft lastete Hoppe mehrere Pistolenschüsse als Tötungsversuche an, obwohl die Ermittler trotz Einsatz von Metallsuchgeräten nur eine einzige Patronenhülse fanden, die seiner Pistole zugeordnet werden konnte. Auch konnten nach dem Gutachten eines Sachverständigen aus seiner Waffe nicht so viele Schüsse abgegeben worden sein, wie die polizeilichen Zeugen behaupteten. Die aufgefundenen Patronenhülsen stammten entweder aus Polizeiwaffen oder aus Petra Schelms Waffe, während Hoppes angebliche Schüsse nach unserer Überzeugung von den polizeilichen Zeugen phantasievoll erfunden waren. Der Staatsanwalt wollte Hoppe am Ende der Hauptverhandlung nur noch einen Schuß, der eine Beule im Wagendach eines Polizeiwagens verursacht hatte, als versuchten Totschlag anlasten, was fragwürdig genug war. Aber das Gericht folgte den belastenden Aussagen der Polizeibeamten, von denen mehrere behaupteten, daß Hoppe auf sie geschossen habe, und verurteilte den Angeklagten, weit über den Antrag des Staatsanwalts hinausgehend, zu zehn Jahren Freiheitsstrafe. In diesem Verfahren erlebte ich zum ersten Mal auch andere Fremdeinwirkungen aus rechtsfeindlich gesinntem Umfeld. Die Medien hatten die Öffentlichkeit und das Gericht darauf vorbereitet, daß einem höchst gefährlichen Terroristen der Prozeß gemacht werden müsse. Und aus Kreisen, die offensichtlich nicht an einer nüchternen Prüfung des Sachverhalts und einem gerechten Urteil interessiert waren, kamen Drohungen gegen Richter und Schöffen, die mehrere Schöffen veranlaßten, sich für befangen zu erklären und das Schöffenamt aus Angst um ihr Leben und das ihrer Familie abzulehnen. Schon bei Betreten des Gerichts beeindruckte die massive bewaffnete Polizeipräsenz und ließ das Schlimmste befürchten. Während der Hauptverhandlung gab es eine Bombendrohung, die zur Unterbrechung der Sitzung und zum Verlassen des Gerichtsgebäudes nötigte. Selbstverständlich herrschte in der von den Medien aufbereiteten Öffentlichkeit und in den Köpfen der Richter und Schöffen die Vorstellung, daß alle diese Gefährdungen von den Terroristen ausgingen, denen man den Angeklagten zurechnete. Inzwischen hat wohl zumindest das Loch in der Mauer der Justizvollzugsanstalt in Celle den Blick auf andere Urheber eröffnet. Es gab Terroristenprozesse, in denen mit klassischer Verteidigung gegen falsche Polizistenaussagen tatsächlich Freisprüche erzielt werden konnten. So 1977 in dem Verfahren gegen den Arzt und Historiker Karl Heinz Roth, das vor einer Strafkammer des Landgerichts Köln verhandelt wurde. Die Hauptverhandlung wurde zunächst von einem gegen Roth und seine Verteidiger äußerst feindlich eingestellten Vorsitzenden mit vielen Schikanen und willkürlicher Handhabung der Strafprozeßordnung geleitet, was auch in der Presse, insbesondere von Gerhard Mauz im Spiegel, kritisch vermerkt wurde. Doch gelang es der Verteidigung, an der noch die Kollegen Klaus Dethloff, Armin Golzem, Wolfgang Heiermann und Frank Niepel beteiligt waren, seine Befangenheit so schlüssig nachzuweisen, daß er nach wochenlangem Gezerre endlich selbst die Waffen streckte. Die Staatsanwaltschaft warf Karl Heinz Roth und seinem Mitangeklagten Roland Otto Mord und zweifachen Mordversuch vor. Roth hatte auf dem Wege zu einem nächtlichen Patientenbesuch zwei Personen in seinem Wagen mitgenommen. Eine Polizeistreife hielt ihn an, kontrollierte die Ausweise und forderte nach einem Kontakt mit der Leitstelle alle drei Insassen zum Aussteigen auf. Als erster stieg der auf dem Beifahrersitz mitgenommene Werner Sauber aus, der zu fliehen versuchte, da er als Terrorist gesucht wurde. Ein Polizist, der mehrere Schüsse auf Sauber abgegeben hatte, wurde von diesem durch einen Herzschuß getötet, ein anderer Beamter und unser Mandant Karl Heinz Roth wurden durch weitere Schüsse aus Saubers Waffe schwer verletzt. Roth wurde von dem zu dieser Zeit wohl schon schwer verletzten Sauber sicher versehentlich getroffen, ein weiterer Schuß auf den bereits schwer verletzt am Boden liegenden Roth wurde von einem Polizeibeamten gezielt abgegeben und verursachte eine zweite lebensgefährliche Verletzung unseres Mandanten. Dieser Polizeischütze rechtfertigte seinen Schuß mit der Behauptung, Roth habe versucht, auf einen anderen Polizisten zu schießen – einer Lüge, die wir widerlegen konnten. Die Anklage gegen Roth beruhte auf dieser falschen Aussage und unterstellte weiter, daß Saubers Schüsse mit den Angeklagten vereinbart gewesen seien. Der Verteidigung gelang es, die Unschuld unserer Mandanten glaubhaft zu machen. Dabei leisteten Fotos eines Journalisten gute Dienste, der zufällig kurz nach dem Vorfall am Tatort war. Auch die Polizei kannte die Fotos, hatte aber entscheidend wichtige Fotos zurückgehalten, die ihre Zeugen, die eine Pistole in Roths Hand gesehen haben wollten, widerlegten. Das Gericht erfuhr erst durch die Verteidigung von diesen Bildern und kam zum Freispruch. Auch in dieser Sache versuchten Massenblätter, durch sensationelle Lügenberichte auf das Verfahren einzuwirken. So erschien Axel Springers Bild am Sonntag am 15. Mai 1977 mit der Schlagzeile auf der ersten Seite: »Terroristen verurteilen Kölner Richter zum Tode«. Im dazugehörenden Text hieß es, daß ein rotes Femegericht das Todesurteil gegen den Vorsitzenden Richter des Prozesses gegen »die Terroristen Karl Heinz Roth und Roland Otto« gesprochen habe. Daneben Fotos dieser beiden »Terroristen«. Daß daraufhin die Nerven aller Prozeßbeteiligten bloß lagen, ist wohl zu verstehen. Die Leser der Bild-Zeitung kamen sicher zu einem anderen Urteil als das Gericht. Aus dem Mund eines Polizeibeamten war nach dem Freispruch zu hören: »Die Kollegen haben schlecht geschossen, die hätten alle drei kaputt sein müssen.« Daß auch ein »Terroristenprozeß« von Anfang an ganz anders, gewissermaßen im Konflikt mit dem herrschenden Zeitgeist, geführt werden konnte, erfuhr ich in den 40 Verhandlungstagen des Strafprozesses gegen die Fotografin Astrid Proll. Die Hauptverhandlung fand von September 1979 bis Februar 1980 vor einer Strafkammer des Landgerichts Frankfurt am Main statt und wurde von der konsequent rechtsstaatlich eingestellten Vorsitzenden Richterin Johanna Dierks geleitet. Astrid Proll, die sich schon vor Jahren von der RAF getrennt hatte, wurde von mir zusammen mit dem Berliner Juraprofessor Ulrich K. Preuß und dem Frankfurter Kollegen Johannes Riemann unter anderem gegen den Anklagevorwurf des versuchten Mordes verteidigt. Der Berliner Verfassungsschutzbeamte Grünhagen hatte behauptet, daß Astrid Proll nach einer von ihm zusammen mit dem Polizeibeamten Simons durchgeführten Personenkontrolle mehrere Schüsse auf ihn abgegeben habe. Grünhagen, der unangenehme Fragen der Verteidigung zu erwarten gehabt hätte, wurde von seiner Behörde durch Verweigerung der Aussagegenehmigung geschützt. Was die couragierte Vorsitzende ungewöhnlich kritisch vermerkte. Auch die Aussage des Kriminalobermeisters Simons, der Grünhagens Darstellung bestätigte und behauptete, Astrid Proll habe auch ihn beschossen, wurde nicht so unkritisch aufgenommen, wie das der Zeuge wohl erwartet hatte. Die größte Sensation war jedoch der überraschende Auftritt eines Tatzeugen, dessen Anwesenheit am Tatort aus den Akten nicht hervorging und von Grünhagen und Simons geleugnet worden war. Es handelte sich um einen sehr seriös wirkenden Beamten des Bundesamts für Verfassungsschutz, der den ganzen Vorgang als Unbeteiligter beobachtet hatte, aber von seiner Behörde als Zeuge gesperrt worden war mit der Begründung, daß er nichts Wesentliches aussagen könne. Der liberale Bundesinnenminister Gerhart Baum ließ sich durch diese wahrheitswidrige Auskunft des Behördenleiters nicht verblüffen und hob die Verweigerung der Aussagegenehmigung auf. Damit wurde eine Behinderung der Wahrheitsfindung beendet, die zu einem für die Angeklagte katastrophalen Fehlurteil hätte führen können. Der Zeuge bekundete, daß sie weder geschossen noch überhaupt eine Waffe gehabt habe, und entlarvte damit Grünhagen und Simons als Lügner. Astrid Proll wurde vom Vorwurf des versuchten Mordes freigesprochen. Nach der Vereinnahmung der DDR unter dem Namen »neue Bundesländer« lebte die Kommunistenverfolgung wieder auf. Die Zeit, in der in der Bundesrepublik der rote Teppich für Erich Honecker ausgerollt wurde, war vorbei. Und bundesdeutsche Juristen, die es im Einklang mit dem herrschenden Zeitgeist versäumt hatten, je an einem Nazi-Feindbild zu arbeiten, vielmehr keine Mühe gescheut hatten, sich juristische Wohltaten für Nazi-Verbrecher auszudenken, um sie gerechter Strafe zu entziehen, beeilten sich, das alte Feindbild Kommunismus wieder aus der Schublade zu holen. DDR-Bürger, die die in ihrem Staat geltenden Gesetze befolgt oder selbst Staatsgewalt ausgeübt hatten, fanden sich plötzlich als Kriminelle wieder. Der Ost-Berliner Kollege Friedrich Wolff, der in beiden deutschen Staaten als Verteidiger tätig war, hat in seinem Buch »Verlorene Prozesse« Justizerfahrungen hüben und drüben detailliert geschildert, die einen erschütternden Anschauungsunterricht über rechtsstaatliche Defizite und den unter gegensätzlichen politischen Vorzeichen geschürten deutsch-deutschen Haß bieten. Zusammen mit dem Kollegen Wolff habe ich Hans Modrow, den vorletzten Ministerpräsidenten der DDR, im April/Mai 1993 beim Landgericht Dresden verteidigt. Ihm wurde nach der Wende der Prozeß nach neuem Recht gemacht, weil er als Bezirksleiter der SED in Dresden in die vom Zentralkomitee angeordnete Fälschung der Kommunalwahlen vom Mai 1989 eingebunden war, gegen die er vergeblich protestiert hatte. Mit diesem Vorwurf hatte man einen Vorwand gefunden, den populären Politiker Modrow, der vor der Wende auch im Westen als Hoffnungsträger galt und von dem man wußte, daß die Betonköpfe im ZK der SED ihn haßten, als Kriminellen abzustempeln und als politischen Konkurrenten auszuschalten. In der Hauptverhandlung traten als Ankläger zwei naßforsche junge Wessis auf, deren undifferenzierter Antikommunismus davon zeugte, daß sie wenig darüber wußten, wieviel Opposition in der DDR möglich gewesen war. Aber die Sache wurde in Dresden vor einer Strafkammer verhandelt, deren Richter und Schöffen den Konflikt mit dem Zeitgeist nicht scheuten. Zwei Richter, nämlich der souverän und liberal amtierende Vorsitzende Rainer Lips und ein Beisitzer, stammten aus dem Westen, eine Richterin und die beiden Schöffen hatten in der DDR gelebt. Sie alle waren, wie sich zeigte, frei von antikommunistischen Vorurteilen gegen den politisch und menschlich integeren Angeklagten Modrow. Die Strafkammer kannte die Schwächen der Anklage und deren politische Hintergründe, konnte sich aber weder mit dem Vorschlag, das Verfahren einzustellen, noch mit einem auf Verwarnung mit vorbehaltener Geldstrafe lautenden Urteil gegen die antikommunistischen Eiferer bei der Staatsanwaltschaft und beim Bundesgerichtshof durchsetzen. Erst mit einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe für den einstigen Hoffnungsträger gaben die Herren in Karlsruhe sich zufrieden. Von rühmlichen Ausnahmen abgesehen herrschte in den Verfahren, in denen es um die Verteidigung von Kommunisten und Terroristen ging, in der Regel eine Atmosphäre der Feindseligkeit und der willkürlichen Machtentfaltung, die, um mit dem Kollegen Posser zu sprechen, den Verteidiger zum rechtsstaatlichen Dekor degradierte. Das waren auf die Dauer unerträgliche, entwürdigende und gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen. Man mußte sich ihnen entziehen, um nicht physisch und psychisch kaputtzugehen. Und so sind Anwälte, die von den Bedingungen der Strafverteidigung im Konflikt mit dem Zeitgeist zermürbt wurden, nach und nach aus diesem Geschäft ausgestiegen. Zwei weiß ich, die zu Unrecht als Komplizen der RAF verurteilt wurden und sich darauf aus diesem Metier zurückzogen. Zwei oder drei weiß ich, die wirklich zu Komplizen der RAF wurden, nachdem sie lange genug als solche verdächtigt und behandelt worden waren. Zwei oder drei weitere weiß ich, die sich in hohe Staatsämter wählen ließen und dabei mehr oder weniger ins konservative Lager wechselten. Einen weiß ich, der sich eine Kugel in den Kopf schoß. Ich zog es vor, Kindergeschichten zu schreiben, eine erholsame Alternative, die mich schon während der ganzen Zeit meiner Anwaltschaft begleitet und mir manche unerwarteten Sympathien eingebracht hat. Einem meiner Kinderbücher habe ich einen Freispruch beim Landgericht Aurich zu verdanken. Dort hatte ich eine Frau zu verteidigen, die in anderer Sache für ihren wegen eines Verkehrsdelikts angeklagten Ehemann als Zeugin objektiv falsch ausgesagt hatte. Ich legte die Möglichkeit eines Irrtums meiner Mandantin dar und plädierte auf Freispruch. Der Vorsitzende der kleinen Strafkammer ließ durchblicken, daß er die Angeklagte verurteilen wollte. Doch nach langer Beratung mußte er widerwillig einen Freispruch verkünden, er war offensichtlich von seinen Schöffinnen überstimmt worden. Als ich das Gericht verließ, erwartete mich eine der Schöffinnen mit meinem Kinderbuch vom Pferd Huppdiwupp und bat um ein Autogramm. Möglicherweise hatte ihr Herz bei dem Freispruch mitgesprochen. Aber auch bei dem einen oder anderen Richter konnte ich ein wohlwollendes Prozeßklima erwarten, wenn ich mit der Frage begrüßt wurde: »Wann schreiben Sie Ihr nächstes Kinderbuch?« Auch im öffentlichen Bewußtsein scheint ein Wandel eingetreten zu sein. Seit 30 Jahren wohne ich ein paar Kilometer außerhalb von Bremen auf dem Dorfe und bekam auch dort zunächst das dem Terroristenverteidiger geltende Mißtrauen zu spüren. Aber nach Überwindung anfänglicher Bedenken galt ich bald wieder als der harmlose Bürger, der ich vor vielen Jahren bei meiner erste Pflichtverteidigung gewesen war, und wurde sogar in den Heimatverein aufgenommen. So hat die Zeit einige Wunden geheilt, die mir die Strafverteidigung im Konflikt mit dem Zeitgeist geschlagen hatte.
Erschienen in Ossietzky 8/2012 |
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