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Wer maßstabslos ist, wird schnell maßlos.« Dieser Notruf wurde nicht in den letzten Jahren formuliert. Er ist einem Vortrag entnommen, den Pfarrer Walter Hümmer, Gründer des evangelischen Ordens der Christusbruderschaft, im September 1967 auf dem Württemberger Jungmännertag in Stuttgart hielt. Ich weiß nicht, ob Peter Hahne, gelernter Theologe und praktizierender Fernsehmoderator, den Vortrag kennt. Aber er hat eine Antwort auf den Ruf nach Maßstäben: »Die Bibel ist Gottes Liebesbrief an uns. Hier schreibt er mit eigener Handschrift, was er für uns getan hat und noch tun will: Hier gibt es gültige Orientierung; Maßstäbe in einer Zeit ohne Werte; Kraft zum Durchhalten und Energie zum Leben.« Doch alles Bibellesen nützt nichts, in unserem schönen kapitalistischen Vaterland sind alle Maßstäbe, die Wahrheit, Gleichheit und Gerechtigkeit markieren, durcheinander geraten. Ein Musterfall: Seit dem Untergang der DDR sind 22 Jahre vergangen, aber Tag für Tag sind Heerscharen von hochbezahlten Aufarbeitern damit beschäftigt, die Untaten des »Unrechtsstaates« anzuprangern. Millionen und Abermillionen Euro werden eingesetzt, um über die Schrecken der SED-Diktatur in Hunderten von Gedenkstätten und Museen, in Büchern, Broschüren, Spielfilmen, Funk- und Fernsehsendungen und neuerdings vor allem mit Hilfe überarbeiteter Lehrpläne für Schulen und Universitäten aufzuklären. Fortgeführt wird die Entlarvung der Untaten des Ministeriums für Staatssicherheit und seiner Inoffiziellen Mitarbeiter. In Brandenburg findet, um nur ein Beispiel zu nennen, soeben eine neuerliche Jagd auf die Stasi und ihre Seilschaften statt. Die unermüdlichen Aufarbeiter können guten Mutes sein, schreitet ihnen doch jetzt ein Bundespräsident voran, der in der ersten Rede nach seiner Wahl die »56jährige Herrschaft von Diktatoren« in Ostdeutschland beklagte und die DDR, »dieses graue gedemütigte Land«, verurteilte. Früher hatte er sich schon die Formulierung »die sozialistischen Globkes« ausgedacht. Mit der Erwähnung Globkes hat Joachim Gauck unbeabsichtigt deutlich gemacht, wie grundverschieden die Maßstäbe bei der Aufarbeitung der unermeßlichen Verbrechen der Nazi-Diktatur, der glorifizierenden Geschichtsschreibung der Bundesrepublik und der permanenten Dämonisierung der antifaschistischen DDR waren und noch immer sind. Stand doch Hans Josef Maria Globke als Hauptverfasser des offiziellen Kommentars der Nürnberger Rassen- und Blutgesetze zur Ermordung von Millionen Juden und als rechte Hand Himmlers auf der Hauptkriegsverbrecherliste der Alliierten, was Konrad Adenauer nicht hinderte, ihn zum Kanzleramtschef zu machen, der den Aufbau der Bundesrepublik sowie die personelle Zusammensetzung ihrer Führungsgremien auf Jahrzehnte maßgeblich prägte. Heute ist die Nachfolgepartei der NSDAP, die NPD, in Verletzung des Potsdamer Abkommens und des Grundgesetzes (Artikel 139) völlig legal, und ihre Aufmärsche werden von der Polizei unter massivem Gewalteinsatz geschützt. Antifaschisten, die sich den Neonazis mit Blockaden entgegenstellen, werden weggeräumt und strafrechtlich verfolgt. Hinsichtlich des überfälligen Verbotes der NPD wird ein Dauereiertanz aufgeführt, das Verbot der KPD im Adenauer-Globke-Staat war im Ruck-Zuck-Verfahren über die Bühne gegangen und ist noch heute gültig. In dem Staat, in dem laut Gauck »Freiheit und Verantwortung« eine wunderbare Einheit bilden, sind die Meßlatten in allen Bereichen unterschiedlich. Während die Zahl der Vermögensmillionäre in der Bundesrepublik 2010 auf 829.000 stieg, sie verfügen über 2,2 Billionen Euro, ist mittlerweile laut dem neuesten Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbandes jeder siebte Deutsche von Armut bedroht. Was heißt »bedroht«? Wer mit weniger als 929 Euro im Monat einschließlich staatlicher Sozialleistungen wie Wohngeld oder »Hartz IV« auskommen muß, und das ist das Kriterium, ist schlicht und einfach arm, häufig bitterarm. Und hat ein »Hartz IV«-Empfänger das Glück, einen Lottogewinn zu machen, dann wird dieser laut einer Entscheidung des Landessozialgerichtes in Essen als Einkommen betrachtet und vom Arbeitslosengeld II abgezogen. Millionen Deutsche arbeiten im Osten, aber auch im Westen des vereinigten Landes für jämmerliche Hungerlöhne. Acht Millionen Bürger schuften für weniger als 9,15 Euro in der Stunde. Laut Angaben des Statistischen Bundesamts beginnt der Tarifverdienst der bayerischen Konditoren bei 5,26 Euro je Stunde. Fleischer in Sachsen und Gärtner in Brandenburg erhalten weniger als 6,50 Euro. Im Hotel- und Gastgewerbe starten die Beschäftigten in Brandenburg mit 6,29 Euro je Stunde und in Thüringen mit 6,50 Euro. Aber natürlich gibt es auch Gutverdiener. Das oberste Zehntel derer, die ihre Arbeitskraft verkaufen, verdient immerhin acht mal so viel wie das untere. Und was sind selbst diese Gehälter im Vergleich zu den Einkommen der Spitzenkräfte unserer Wirtschaft? 2011 strichen die Vorstandschefs der Dax-Unternehmen im Schnitt rund 6,1 Millionen Euro ein. Am meisten »verdiente« der VW-Chef Winterkorn. Er kassierte 17,5 Millionen Euro. Bei einer angenommenen Arbeitszeit von 240 Stunden im Monat ergibt das einen bescheidenen Stundenlohn von 6.000 Euro (rund 100 Euro in einer Minute und 48.000 Euro am Tag). Zum Vergleich: Ein nach Tariflohn beschäftigter Klempner in Ostdeutschland müßte für den Minutenlohn des Herrn Winterkorn mehr als 15 Stunden malochen. So ist es in der Sozialen Marktwirtschaft: Arbeitsleistungen werden eben nach ganz unterschiedlichen Maßstäben bewertet. Und das gilt auch für Straftaten. Wenn ein Wirtschaftsboß die Allgemeinheit betrügt und Steuern in Höhe von 1,2 Millionen Euro unterschlägt, dann wird er maßvoll bestraft. Der frühere Postchef Zumwinkel erhielt für dieses Delikt eine Geld- und Bewährungsstrafe. Versucht jedoch eine arme ehemalige Krankenschwester in Bonn in einem Supermarkt einen Käse im Wert von 3,18 Euro an der Kasse vorbeizuschmuggeln, dann fällt das Urteil maßlos aus: Sie wird mit zwei Monaten Haft ohne Bewährung bestraft. Aber wenn von verlorenen Maßstäben die Rede ist, dann geht es nicht nur um Lüge und Wahrheit bei der Bewertung historischer Prozesse, um konträre politische Positionen, um die immer noch wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, um die nahezu unfaßbaren Unterschiede bei Löhnen, Gehältern und Vergütungen. Es geht um ein Gesellschaftssystem, das mit seiner hemmungslosen Gier nach immer höherem Profit und unaufhaltsamem ökonomischen Wachstum »auf Kosten zukünftiger Generationen ... in erschreckend großem Maßstab die elementaren natürlichen Lebensgrundlagen: Boden, Atmosphäre, Wasser und ökologische Binnensysteme« zerstört (Robert Kurz: »Schwarzbuch des Kapitalismus«). Doch wozu ein Menetekel an die Wand malen? Es gibt doch Trost und Hoffnung. Peter Hahne spendet sie. Wir brauchen nur in seinem »Liebesbrief«, in der Bibel, nachzuschlagen, um auf wahre Gerechtigkeit, wenn nicht auf Erden, dann doch im Himmel, hoffen zu können. Hier finden wir bei Matthäus (Kap. 19, Vers 24) die Warnung von Jesus Christus an die auf Kosten anderer reich Gewordenen: »Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher ins Reich Gottes komme.« Denjenigen aber, die bei der selbstgerechten DDR-Aufarbeitung den Balken im eigenen Auge nicht sehen, sei seine Bergpredigt empfohlen: »Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden, und nach dem Maß, mit dem ihr meßt und zuteilt, wird euch zugeteilt werden.« Auch ein Atheist kann hier nur zustimmen: »Geb’s Gott!«
Erschienen in Ossietzky 7/2012 |
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