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Berliner TheaterspaziergängeJochanan Trilse-Finkelstein Meine Spaziergänge sind weithin beschritten und beschrieben – doch bleibt uns noch eine jüdische Straße – drei Ereignisse: Jonathan Littells »Die Wohlgesinnten« im Maxim Gorki Theater (MGT), das gerade mal wieder seinen Intendanten verliert; An-Skis »Der Dybbuk« in einem kurzen Gastspiel des Habimah-Theaters, Tel Aviv, im Admiralspalast und eine Lesung von Katzenelsons Epos auf der Probebühne des Berliner Ensembles (BE) – alles im Theaterdreieck, dem beliebten Ort für abenteuerliche Spaziergänge. »Die Wohlgesinnten« gehen auf Jonathan Littells Roman gleichen Titels zurück, der Bearbeiter und Regisseur ist Armin Petras. Ich war noch nie ein Freund von Roman-Bearbeitungen: Jedes Genre hat seine eigenen Gliedmaßen, sprich: Gesetze, um laufen zu können. Sie sind so wenig austauschbar wie die Flügel des Vogels mit den Beinen der Säugetiere, auch des Menschen. Tut man es, hinken die Tiere wie die Genres. Es ist leider mißlicher Brauch geworden – auch aus Mangel an guten beziehungsweise spielbaren Dramen wie Regisseure und ihre dramaturgischen Berater meinen, weil sie meist zu wenige kennen. Anstatt zu lesen, hinken sie lieber. Hinken wir diese »Wohlgesinnten« durch und also mit, der außerordentlich wichtigen Themen und Fragestellungen wegen. Im Zentrum steht die fiktive Figur eines SS-Sturmbannführers namens Dr. Max Aue, der ein Vorbild hat, den SS-Gruppenführer Otto Ohlendorf, verantwortlich für die Ermordung von circa 90.000 von uns. Einer von Bildungsrang, sozusagen ein gebildeter Barbar. Ein ähnlicher war der belgische Faschist Léon Degrelle, der in der Waffen-SS gegen die Sowjetunion kämpfte. Dieser Aue trägt alle Merkmale jener ewigen Landser-Typen mit ideologischem SS-Zuschlag (geschlagener Soldat, Baltikumer, NSDAP, SA, SS, SD), Sondereinsätze in Mordkommandos, Eichmann-Referat, Untertauchen nach Niederlage des NS-Faschismus, unter Falschpapieren Fortsetzung dieser Existenz unter andern Bedingungen. Es geht um den bewußten »Täter« aus Überzeugung, also »Wohlgesinnung«. Das Thema ist wahrlich nicht neu, doch längst nicht abgearbeitet – zu viele dieser Typen kämpfen in verschiedenen Teilen der Erde auf Seiten herrschender Gruppen gegen Arme und Ausgebeutete. Insofern ist ein solches politisches Theater wichtig und spricht für die engagierte Haltung des MGT und seines Intendanten. Das kann uns nicht daran hindern, diese Adaption und den gesamten Theaterabend für keinen besonders gelungenen zu halten. Man merkt die Hast und die Mühen, es knirscht in der Maschine – der Roman ist einfach besser. Sechs Schauspieler taten Bestmögliches, aber bis zu sechs Rollen und so unterschiedlich wie nur denkbar (Cristin König unter anderem als Mutter und Himmler – da kommen nur kurzatmige Typisierungen heraus) – da ist Theater an seinen Grenzen. * Gänzlich anders geartet der Theaterabend unter dem Titel »Der Dybbuk«, jener alten und vielbearbeiteten Geschichte um eine Art Quergeist, der in Körper eintaucht und Menschen bedroht, hier eine Frau Cannan, die einen andern, einen Reichen, heiraten muß als den, den sie liebt, daran stirbt, wiedererweckt wird und nach heftigen inneren und äußeren Wirren dann doch zu Liebe und Glück gelangt. Dybbuk ist eine Art Form gewordene bürgerliche Konvention, vielfach nachgestaltet, die meistbedeutende stammt von Salomon An-Ski. Wir sahen eine mehr als mäßige Aufführung des berühmtesten israelischen Ensembles »Habimah« (dt. »Die Bühne«) in einem für Theater völlig ungeeigneten Saal im Berliner Admiralspalast. Zwar bemühte Regisseur Shmuel Shohat etliche Formen des Theaterspiels – normales dramatisches Spiel mit Dialogen, Pantomime, Puppentheater (Stabpuppe) –, doch nichts fügte sich zusammen. Es war im Grunde ein durchgefallener Abend. Das deutsche Publikum reagierte dennoch freundlich – mit höflichem Applaus. Schade um den Aufwand eines solchen Gastspiels – wir sahen vom Habimah schon sehr viel Besseres. * Das Beste sahen und hörten wir während der letzten hohen jüdischen Feiertage, kurz vor dem Freudenfest der Thora. Geboten wurde: »Großer Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk« von Jizchak Katzenelson, übertragen von Wolf Biermann (im Original: »Dos lied vunem ojsgehargeten jidischn volk«). Entstehungsort dieses Poems war Auschwitz, die Zeit: frühe vierziger Jahre. Der Dichter konnte sein Werk in zwei Exemplaren retten, in Flaschen vergraben, in einen Koffergriff eingenäht nach Palästina geschmuggelt; er selbst überlebte nicht; er wurde 1944 in Auschwitz ermordet. Nun liegen die 15 Gesänge seit 1994 bei Kiepenheuer & Witsch in einer sowohl inhaltlich wie typografisch-buchkünstlerisch hervorragenden Edition vor: Voran 15 engbeschriebene Seiten (doppelt beschriebene Blätter) des jiddischen Textes, sehr schwer zu entziffern. Ein Lob für Arno Lustiger, der sie transkribiert hat. Selbst der Handschrift sieht man die Gefahr der Lage und die existenzielle Mühe der Entstehung und Niederschrift, ja den Schmerz, an. Danach folgen 120 Seiten der jiddischen Druckfassung mit den Korrekturen des Übersetzers. Nach einigen Seiten mit Abbildungen des Autors und seines Umfeldes schließen sich etwa 40 Seiten Biografisch-Monografisches und Philologisches von den Herausgebern an. Schön, daß sie sich auch zwei der Größten deutscher Literatur vergewisserten (einer war selbst Jude): Heine mit seinem Gedicht vom Fichtenbaum (Buch der Lieder) und Goethe mit einem Spruch, die eigene Arbeit lobend: »Bescheiden sind nur die Lumpen.« Hier hätte sich der Herausgeber doch noch mal kundig machen sollen, denn der Weimarer Klassiker sprach sich auch nicht immer auf hoher klassischer Ebene aus. Er sagte einfach: »Nur die Lumpe sind bescheiden.« Zum Ende noch Zeittafel, Literaturverzeichnis, philologische Anmerkungen Lustigers und die übliche Danksagung. Alle 15 Gesänge, wie sie in deutscher Sprache genannt werden, haben Einzel-titel, durchaus bezeichnende: Der erste zum Beispiel heißt: »Sing!« – ist also Aufforderung und Programm. Der zweite: »Ich spiele«. Womit genau gesagt wird – dem beschriebenen Elend und Haß zum Trotz: Wir singen dennoch, was wir machen ist Kunst. Bis zum achten Gesang sind es Vierzeiler, danach Achtzeiler, also stanzenähnlich. Der trochäisch wie jambisch, manchmal sogar daktylisch wechselnde acht- bis zehnhebige, aber nicht regelmäßige Rhythmus – sowohl im Original wie in der Übersetzung – zeigt die erregte, ja zerstörerische Unordnung der Lage. Sie kann auch der Versuch eines geordneten Maßes an Strophen, denen die Unordnung der Verse gewollt widerspricht, nicht in Ordnung bringen. Wie auch anders in Ghetto und Vernichtungslager!? Was unerfahrenem Verstand und ungeübtem Auge ungekonnt erscheinen mag, ist durchgestaltete Kunst des Schreckens, der Unruhe und Angst. Da gehen klassischer Blankvers und Hexameter nicht mehr. Der vierte Gesang trägt den Titel »Schon wieder die Waggons, da sind sie«. Das klassische Erbe versagt bei Wörtern wie »Judenfraß« und »Menschenfress-Bankett«, gar bei »vollgefressenen Viehwaggons«. Wie will man die tragische, schlußendlich zerbrochene Gestalt des Gemeindevorstands Cerniaków denn beschreiben? Die Kindertragödien? Die Versgewalt ist trotzdem erstaunlich, wenn Chelmno, Belzec, Ponar bewältigt werden müssen und all die andern Schreckensorte beziehungsweise Namen. Oder Sätze wie »Nach Hause gehen heißt Sterben, anders gibt’s gar kein zuhaus« (hejm im Original). Sogar der Himmel muß abgewertet werden – neunter Gesang »Den Himmeln«. Die Größe zum Epos wird gesteigert durch das Einbeziehen der biblischen Leidensfiguren Jeremias, Hiob und David: »Und sind doch ganz dieselben Juden!« – »Ein ganzes Volk ist an ein Riesenkreuz genagelt« – so wurde als Gott der Juden Gott getötet und dazu sein Geist und nebenbei der kleine Jid aus Galiläa (also Jehuschua – Jesus einbezogen in diesen schwersten Angriff auf die Menschheit). Zuweilen wird aus dem Leidgesang auch Haßgesang. Klage über Auslöschung und Ende des Volkes zielen im 15. Gesang »Nach All Dem« auf das Ende hin mit einem Fluch: »Weh mir, da ist nicht keiner mehr ... / Und war mal ´n Volk. /Vorbei! Sie selber werden sich vernichten. / Alle. / Und für immer dar.« Die große Klage und Anklage führt zum Fluch gegen die Deutschen und zu ihrer Vernichtung – zur Vision des Untergangs beider Völker. Doch beide sind ihm entgangen und in gewisser Weise versöhnt. Wir haben eine große Dichtung vor uns – eine Art Nationalepos der Juden, zumindest jenes Teils der fast vernichteten osteuropäischen Judenheit, doch auch zugehörig zur deutschen Literatur. Sie sei aufs sorgsamste bewahrt und öffentlich gepflegt. Dieses »Lied«, im Deutschen als »Großer Gesang« übersetzt, da »Lied« in seinen Ursprüngen als kleine Gattung verstanden wird, bedarf der Pflege – in Wort und Klang. Das Buch ist ein Prachtstück, das sei auch dem Verlag gesagt. Aber warum steht dann Hoffmann und Campe auf dem Schutzumschlag? Und sollte es nicht auch Tonaufnahmen geben?! 16 Künstler – unter der Leitung von Hermann Beil – haben uns das klanglich vorgeführt, namhafte Schauspieler vom BE und von der Schaubühne sowie drei Schriftsteller, darunter Christoph Hein. Unter den Vortragenden auch Claus Peymann, eigentümlich affektiv in seinem 13. Gesang, während die Schauspieler nahezu alle mit ernst-ruhigem Ton dem Text begegneten, voll auf den Sinn konzentriert. Leider fand diese Lesung nur auf der Probebühne des BE statt, also für einen sehr begrenzten Personenkreis. Schade! Es war ein würdiger Abend, eine Kundgabe der Menschenwürde. Ich danke besonders im Namen der 27 Ermordeten meiner Familie!
Erschienen in Ossietzky 6/2012 |
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